Das genügt, jedenfalls in diesem Fall – im Fall der Absetzung des demokratisch gewählten Präsidenten Janukowitsch 2014 in der Ukraine war das bekanntlich etwas anders –, um eine Reihe ernsthafter Drohungen gegen das Land auszustossen. Deutschland hat Zahlungen im Rahmen der Entwicklungshilfe ausgesetzt, ebenso die USA. Die EU unterstützt offensiv ECOWAS, das westafrikanische Staatenbündnis, das Ultimaten formuliert und militärische Schritte nicht ausschliesst.
Einflussfragen
Gleichzeitig laufen die Spekulationen darüber, wer eigentlich »hinter« den Putschisten steckt. Sind es »die Wagner-Truppen« oder Putin selbst? Immerhin waren beim Angriff auf die französische Botschaft russische Fahnen zu sehen und auch bei den Demonstrationen für die Putschisten werden solche geschwenkt. Diese Frage macht deutlich, dass die Perspektive der Beurteilung vor allem eine geostrategische ist: Die deutsche Aussenpolitik, ebenso wie die französische und die der EU zählen Niger zu ihrem Einflussgebiet. Der Putsch könnte das in Frage stellen, und »den Russen« darf das Land natürlich auf keinen Fall in die Hände fallen.Warum eigentlich nicht? Was wollen die EU-Führungsmächte in und von diesem Land – einem der »ärmsten der Welt«? Helfen? Nähere Informationen scheinen Tagesschau & Co. für eher überflüssig zu halten. Ebenso wie die Frage danach, warum dieser bisher westlich orientierte Staat möglicherweise die Seiten wechseln und mit Russland anbandeln will. Wie ist es möglich, dass ein Land, das bisher eng mit dem »wertebasierten Westen« liiert war, auf eine so »abstruse« Idee kommt?
Schauen wir zunächst einmal auf die Fakten, die man zugänglichen Quellen entnehmen kann. Vor 63 Jahren wurde der Niger in die Unabhängigkeit entlassen und sollte sich künftig »souverän« »entwickeln«. Wie sieht das Land heute aus? Für seine inzwischen 26 Millionen Menschen verfügt es über 42 Krankenhäuser, 600 Gesundheitszentren und tausend medizinische Stationen. Das bedeutet 0,35 Ärzte pro 10.000 Einwohner. Die Säuglingssterblichkeit ist hoch (47 von [1].000), ebenso die Kindersterblichkeit (80 von 1.000). Ein Drittel der Kinder ist unterernährt. Die allgemeine Lebenserwartung liegt bei 62 Jahren. Zugang zu sauberem Trinkwasser hat nur jeder zweite. Gestorben wird vor allem an Grippe/Lungenentzündung, Malaria und Durchfallerkrankungen wie Cholera. 70 Prozent der Nigrer sind Analphabeten; Kinderarbeit ist verbreitet. Rund 45 Prozent der Bevölkerung leben unter der absoluten Armutsgrenze (1,90 US-Dollar pro Tag).
So sieht es also in einem fest mit dem Westen verbündeten demokratischen Entwicklungsland nach mehr als 60 Jahren Unabhängigkeit für die Menschen aus: Armut, Hunger, extrem mangelhafte Gesundheitsversorgung, wenig Bildung, niedrige Lebenserwartung.
Danach, wie die Menschen in Niger leben, hat allerdings vor dem Putsch kein Hahn gekräht, und die unsäglichen Lebensverhältnisse werden auch heute lediglich in einer sehr bemerkenswerten Hinsicht thematisiert. Ein Professor der Polizeiakademie Niedersachsen stellt fest: »Während der erst 2021 ins Amt gekommene Bazoum als wichtiger Verbündeter des Westens galt und Niger als Stabilitätsanker in der Sahelzone wahrgenommen wurde, war die Regierung in der Bevölkerung unbeliebt. Rund 40 Prozent der 26 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner des Landes leben in extremer Armut; Niger rangiert im Human Development Index der UN regelmässig im untersten Bereich. Die Regierung von Bazoum konnte trotz dieser Situation das Steigen der Lebenshaltungskosten nicht aufhalten.«1
So kommen Armut und Unterentwicklung für einen »Experten« also überhaupt ins Spiel: Weil ein paar Leute in einem der elendsten Länder der Welt ihre »unbeliebte« Regierung zum Teufel jagen, »während« die doch als wichtiger Verbündeter des Westens und sogar Stabilitätsanker der Sahelzone gilt.[2]
Immerhin schält sich mit dieser Bemerkung heraus, wer im Westen eigentlich warum um den weggeputschten Präsidenten trauert. Während die nigrische Bevölkerung dafür offensichtlich wenig Gründe hat, gibt es durchaus einige Interessenten an der Regierung Bazoum bzw. dem bisherigen Status quo des Landes.
Selbst schuld
Man kann an dieser Stelle natürlich abwinken. Erstens: Das alles ist nichts Neues unter der Sonne – so geht es eben zu in der »Dritten Welt«. Zweitens: Diese desaströse Bilanz hat sich der Niger vor allem selbst zuzuschreiben! Die grösste Fruchtbarkeitsrate der Welt (6,7 Kinder pro Frau), die Vermehrung der Bevölkerung von 3,4 Millionen (1960) auf 26 Millionen (heute) – das sagt ja wohl alles! Zwar machen viele Kinder keineswegs per se arm – das zeigt das Beispiel Ursula von der Leyens und ihrer sieben Nachkommen eigentlich anschaulich – aber das ist ja »bei uns«, während in »so« einem Land schon mit dem Deuten auf den Kinderreichtum ja wohl alles klar ist; Gloria von Thurn und Taxis hat es schliesslich auch gesagt, wenn auch politisch nicht ganz korrekt. Drittens: Natürlich geht es um Interessen – was denn sonst? Aber unsere sind eben zivilisierter als die anderer, der Russen etwa.Man kann statt abzuwinken aber auch ein paar Seiten lesen und sich ein kleines Lehrstück über Politik und Ökonomie eines Drittweltlandes abholen.
Die Tatsache, dass es überhaupt einen souveränen nigrischen Staat gibt, verdankt sich weniger einem heimischen als einem externen Bedürfnis. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die USA die Entkolonialisierung auf die Tagesordnung gesetzt, was sich vor allem gegen die beiden früheren Welt- und Kolonialmächte England und Frankreich richtete. Die Vereinigten Staaten als siegreiche kapitalistische Macht wollten es nicht länger hinnehmen, dass mit den europäischen Kolonien grosse Teile der Welt ihren Kapitalen und ihrem Einfluss versperrt blieben. Aus ihrer Sicht war das der Lohn dafür, dass sie England und Frankreich gegenüber der deutschen Expansionspolitik beigestanden hatten.
In Artikel 73 der 1945 verabschiedeten UN-Charta wurden alle UN-Mitglieder, die noch »Verantwortung für Hoheitsgebiete« ausübten und »deren Völker noch nicht die volle Selbstregierung erreicht haben« – sprich: die europäischen Kolonialmächte – darauf verpflichtet, dort eigenständige politische Verhältnisse zu fördern und die Völker »bei der fortschreitenden Entwicklung ihrer freien politischen Einrichtungen zu unterstützen, und zwar je nach den besonderen Verhältnissen jedes Hoheitsgebiets, seiner Bevölkerung und deren jeweiliger Entwicklungsstufe«.[3] Während die Aussagen über die zu schaffenden »freien politischen Einrichtungen« sehr dunstig gehalten waren – Demokratie und selbst Staatlichkeit tauchen nicht auf und von einem Inhalt der zu schaffenden »Ordnung« (Kapitalismus, Sozialismus etc.) war erst recht nicht die Rede – lag die Betonung des Artikels 73 auf »selbst« und »eigenständig«. Das waren Formulierungen, mit denen sich die Charta vom Kolonialregime absetzte. Nur auf dieses negative Moment konnten sich die bestimmenden Mächte – die selbst aus einem antikolonialen Kampf entstandenen und kapitalistisch verfassten USA einerseits und die sozialistische Sowjetunion andererseits – beim Ringen um die Charta der künftigen Welt überhaupt verständigen.
Natürlich hatte das zunächst den Charakter eines Prinzips, das noch umzusetzen war. Weder die US-Alliierten Grossbritannien und Frankreich noch die anderen europäischen Kolonialmächte wie Belgien, die Niederlande oder Portugal hatten es damit eilig. Es sollte Jahrzehnte und einige überaus blutige Kriege mit Hunderttausenden von Toten brauchen[4], bis die letzten Kolonien »frei« wurden – was immer das im Einzelfall hiess.[5] Frankreich hat übrigens einige seiner einstigen Kolonien (Reunion, Französisch-Guyana etc.) in »Übersee-Departements« umgewandelt und für diese die Frage ihrer Souveränität umgangen.
Brutale Ignoranz
Die praktische Umsetzung der »Dekolonisation« lief jedenfalls im Prinzip – im Unterschied zu den verschwommen gehaltenen Vorstellungen der UN-Charta – auf etwas durchaus Konkretes hinaus. Vor allem nämlich sollte es künftig überall einen Staat, d. h. ein Gewaltmonopol über Land und Leute, geben. Dabei war es den mächtigen Interessenten an einer nicht-kolonialen Welt, den USA und der Sowjetunion, durchaus gleichgültig, ob das am jeweiligen Fleckchen Erde schon in vorkolonialen Zeiten so gehalten worden war oder nicht und ob und wie das zu der jeweiligen »Entwicklungsstufe« bzw. den Bedürfnissen der jeweils dort lebenden Menschen, Gruppen oder Stämme passte oder nicht. Denn für die Interessen der USA wie der Sowjetunion war es primär wichtig, dass an jedem Ort dieser Welt eine ansprechbare Form von Herrschaft existierte – eine Regierung eben, mit der sie ihre Interessen aushandeln konnten: ob das nun kapitalistische Handels-, sozialistische Freundschafts- oder politische Bündnisverträge waren. Sekundär war dagegen die Frage, über welches Territorium und welche Menschen diese Herrschaften etabliert wurden. Die zukünftigen »Staatsbürger« daraufhin zu befragen, kam offensichtlich sowieso nicht in Frage; aber auch eine Verständigung der früheren kolonialen und nun »selbst-regierenden« afrikanischen Eliten über halbwegs sinnvolle Grenzziehungen, wenn es denn so etwas geben sollte, fand nicht statt.In den meisten Fällen wurden schlicht die auf früheren Konferenzen der Kolonialmächte mit dem Lineal gezogenen Grenzlinien als Grenzen der neuen Souveräne übernommen. Die brutale Ignoranz gegenüber der dort lebenden Bevölkerung ist ein weiterer anschaulicher Fall der Härte, mit der Staaten begründet werden – und zwar gleichgültig, ob die neuen Gebilde erkämpft oder am grünen Tisch dekretiert wurden.
Die nomadisch wirtschaftenden Stämme wurden vielfach von ihren traditionellen Wegen und Weidegebieten getrennt; die neuen Staatsgebilde bekamen es durch die nun politisch zusammengeschlossenen Ethnien von Anfang an mit gegensätzlichen Interessen zu tun (ackerbauende Stämme gegen Vieh haltende mit ihren sehr verschiedenen Ansprüchen an Flächen, Wegen, Zäunen und Wasser). Die Frage danach, welche der im Staat ansässigen Stämme es schafft, die Regierung – und damit wichtige ökonomische Weichen – zu stellen, begründete eine andauernde Auseinandersetzung in ihnen und führte von Anfang an zu diversen Bürgerkriegen bzw. Regierungsstürzen.
Die abziehenden Kolonialmächte versuchten dabei selbstverständlich, den ihnen aufgezwungenen Prozess des nation buildings günstig für sich zu gestalten. Dazu gehörte die Verhinderung eines grossen afrikanischen Staatswesens durch die Schaffung vieler verhältnismässig kleiner Staaten (auch wenn einige flächenmässig grösser waren als die europäischen Mutterländer): Es sollte keinesfalls eine afrikanische Macht entstehen, die eventuell in der Lage wäre, Bedingungen zu formulieren – darin waren sich die Europäer einig. So wurden aus den vormaligen französischen, englischen und anderen provinziellen Verwaltungseinheiten nun neue »Nationen«. Aus den Nachbarn Niger und Nigeria wurden auf diese Art und Weise zwei Staaten. Die Frage nach deren ökonomischer Lebensfähigkeit spielte ebenso wenig eine Rolle wie die danach, wie viele vorhersehbare innere und äussere Konflikte man ihnen durch diese Grenzziehung mit auf den Weg gab.
Die neuen Regierungen wurden vorzugsweise mit den in Europa ausgebildeten und an die Mutterländer gebundenen heimischen Eliten besetzt. Betrachtet man das für den Fall Niger, findet man, dass die Zarma in den ersten Jahrzehnten das staatliche Personal stellten – Angehörige des Stamms, auf den die Franzosen schon in Kolonialzeiten gesetzt hatten. Der abgesetzte Bazoum war der erste arabisch-stämmige Präsident, zwischendurch gab es für kurze Zeit einen aus dem Stamm der Hausa, der allerdings ebenfalls schnell per Putsch nach Hause geschickt wurde. Die Hausa bilden übrigens die zahlenmässig grösste ethnische Untereinheit und sind vor allem im Süden des Landes ansässig; ihre Sprache wird – neben der Amtssprache Französisch – von mehr als 50 Prozent der nigrischen Bevölkerung gesprochen und von 85 Prozent verstanden.
Weltmarkt, französisch modifiziert
Die Integration in den Weltmarkt bedeutete für die in die Unabhängigkeit entlassenen Staaten: Verkaufen, was die eigene Wirtschaft zu bieten hat, und kaufen, was sie nicht produziert, was aber unbedingt gebraucht wird. Nun war im Normalfall – auf Basis der zum Nutzen der Kolonialherren eingerichteten Ökonomie – weder die Produktion von Nahrungsmitteln gewährleistet noch gab es ausreichende Mittel, die die neuen Staaten allein schon für die elementare Ausstattung ihrer neuen Souveränität benötigten, also für Armee und Polizei. Die Antwort auf die Frage, was am Weltmarkt mit Aussicht auf Erfolg angeboten werden ko?nnte, hiess für diese Staaten daher: das, was schon die alte Kolonialo?konomie nachgefragt bzw. produziert hatte. Im Fall des Niger ist das bekanntermassen Uran, das im Norden des Landes vorkommt; dazu im Osten Gold und seit neuestem auch Erdöl.Der Einbezug in den Weltmarkt mit seinen für alle gleichen Bedingungen (rentable Produktion, Preiskonkurrenz) fu?hrt dabei für die Drittweltländer zum durchweg gleichen Resultat: Sie bieten Erzeugnisse an, die nur in den kapitalistisch entwickelten La?ndern Abnehmer finden; was sie dabei anbieten, ist oft ihr einziges Erzeugnis, auf dessen unbedingten Verkauf sie insofern alternativlos angewiesen sind. Diese Sorte »Notverkauf« hat entsprechend niedrige Preise an den westlichen Warenbo?rsen zur Folge – eine Tendenz, die noch dadurch verscha?rft wird, dass andere La?nder als Konkurrenten um denselben Warenabsatz auftreten. Die »Terms of Trade« bringen den »Entwicklungsla?ndern« deshalb in den meisten Fällen zweierlei: eine negative Handelsbilanz und den Verfall ihrer Wa?hrung.
Im Fall des Niger sieht das im Prinzip ähnlich aus – allerdings modifiziert um einige Sonderbedingungen, die das ehemalige Mutterland Frankreich für seine Exkolonien in Anschlag gebracht hat: Das ist erstens der sogenannte »Kolonialpakt« und zweitens die Franc-Zone.
Beim »Kolonialpakt«[6] handelt es sich um Verträge mit den in die Freiheit entlassenen Exkolonien, die Frankreich weiterhin Nutzen und Einfluss sichern sollen. Erstens räumt sich Frankreich darin ein Vorkaufsrecht in Bezug auf Rohstoffe und weit unter dem Weltmarkt liegende Lizenzgebühren bzw. Abnehmerpreise ein. Zweitens beinhaltet der Pakt das Recht, dass die neuen Souveräne ihren staatlichen Bedarf bevorzugt bei französischen Anbietern von Waren und Dienstleistungen befriedigen müssen. Das beschert Frankreich einen stabilen Absatzmarkt für einige seiner Geschäftszweige, darunter natürlich vor allem für die Konzerne, die staatliche Gewaltmittel produzieren und verkaufen (Ausstattung der Polizei und des Militärs), aber auch vieles, das für Aufbau und Entwicklung benötigt wird (Energieversorgung, Strassenbau etc.). Drittens enthält der Pakt die interessante Regelung, dass die ehemaligen Kolonien das, was Frankreich in der Zeit der kolonialen Herrschaft materiell geleistet hat, um die dortigen Reichtümer abtransportieren und seine Herrschaft sichern zu können, finanziell »ablösen« müssen – Grössenordnung: Alle Exkolonien zusammen schicken jährlich die Summe von 440 Milliarden Euro nach Paris.[7]
Konkret sieht die Ökonomie des Niger nach 63 Jahren Entwicklung deshalb so aus: Sie besteht im Wesentlichen aus Kleinbauern, die mehr als 40 Prozent des Bruttoinlandsproduktes erwirtschaften – und die davon, dank kleiner und wegen Erbteilung immer kleinerer Parzellen und ihrer nicht-mechanisierten Arbeitsweise, immer weniger leben können. Das wesentliche Exportprodukt des Landes ist das Uran, das 70 Prozent des nigrischen Exports ausmacht. Hauptadressat ist Frankreich, das bisher einen erheblichen Teil des für seine AKWs nötigen Urans aus dem Niger bezieht (2018 waren das laut Deutschlandfunk noch 40 Prozent, inzwischen hat sich das zugunsten von Kasachstan verändert – vermutlich, weil sich die nigrischen Vorkommen erschöpfen oder Kasachstan die Preise noch unterbietet).
Der französische Staatskonzern Areva (heute Orano[8]) fördert das Uran seit 1968 im Niger. Dafür wurden die Tuareg, die als Hirtennomaden leben, zunehmend von ihren Weideflächen getrennt – was ihren Widerstand hervorrief und 1995 und 2007 zu Aufständen führte. 2010 gab es einen dschihadistischen Selbstmordanschlag in einer Areva-Mine.
Der Abbau läuft unter extrem gesundheitsschädlichen Bedingungen: Greenpeace fand bei Messungen überall stark erhöhte Strahlung, auf der Strasse 500mal höher als normal. Der radioaktive Abraum – 35 Millionen Tonnen mit einer Strahlung von noch 85 Prozent (!) – wurde eine Zeitlang als Baumaterial für Strassen und sogar Häuser genutzt. Der Rest liegt offen herum und wird vom Wind verweht; von fünf Wasserproben lagen vier über den Richtwerten der Weltgesundheitsorganisation. In einem Fragebogen sagten die meisten ehemaligen Arbeiter aus, bei der Arbeit Hemd und Shorts getragen zu haben. Es gab weder Schutzhandschuhe noch ein Dosimeter. Passend dazu wird das örtliche Krankenhaus vom Areva-Konzern betrieben, das Patienten mit falschen Diagnosen „beruhigt“ (Aids, Tuberkulose oder Diabetes statt Lungenkrebs). Der Spiegel hat über die Konsequenzen für Arbeiter und Umwelt im Jahr 2010 eine preisverdächtig-herzzerreissende Reportage unter dem Titel »Der gelbe Fluch«[9] geschrieben – selbstverständlich ohne dass das zu irgendwelchen Konsequenzen geführt hätte (etwa zu Wirtschaftssanktionen gegen eine französische Atomindustrie, die die einfachsten Menschenrechte mit Füssen tritt).
Langfristige Verträge
Für sein Uran erhält Niger nur einen Bruchteil des weltmarktüblichen Preises. Frankreich bestand und besteht auf seinen langfristig abgeschlossenen Verträgen, auch wenn sich der Weltmarktpreis – wie im Fall des Urans seit den 2000er Jahren – sprunghaft erhöht hat (teilweise auf das Zwanzigfache).[10] Laut Angaben des IWF betrugen die Einnahmen der Republik Niger aus dem Uranverkauf im Jahr 2006 ganze 46,3 Millionen Euro. Nach Verhandlungen wurde Niger im gleichen Jahr ein erhöhter Preis zugestanden, der allerdings immer noch nur etwa ein Drittel des Weltmarktpreises betrug. Der bei der Produktion des Urans erzielte Gewinn fällt im Wesentlichen beim Endprodukt der Wertschöpfungskette an: Areva erzielte im ersten Halbjahr 2010 das fünfeinhalbfache der Einnahmen des Staates Niger im gesamten Jahr 2009 (ohne Entwicklungshilfe).[11]Die »übliche« Abhängigkeit der Dritt-Welt-Länder von ihren wenigen Exportprodukten, die sich schon im Normalfall preissenkend gegen die Anbieter geltend macht, wird auf diese Art und Weise in besonderer Art und Weise verschärft. Das ist in der Tat ein Fall von »postkolonialer Ausbeutung« durch Frankreich, auf den der Deutschlandfunk ziemlich engagiert aufmerksam macht – offensichtlich verärgert über die Sonderkonditionen, die sich der frühere »Erbfeind« und heutige Konkurrent um die Vorherrschaft in Europa für seine Energieversorgung geschaffen hat.
Der Staatshaushalt Nigers spielt sich dementsprechend in sehr bescheidenen Dimensionen ab: 4,5 Milliarden Euro stehen der Regierung jährlich zur Verfügung plus Staatsschulden, die sich über die Jahre auf 51 Prozent des BIPs aufgehäuft haben – so dass der Schuldendienst wiederum der grösste Haushaltsposten ist. Erschliessungsmassnahmen für künftiges Wachstum halten sich deshalb in engen Grenzen: Nicht einmal 4.000 km befestigte Strassen gibt es (mehr braucht es offenbar nicht, um Uran und Gold abzutransportieren. Zum Vergleich: Das nur ein Drittel so grosse Deutschland verfügt über 830.000 Strassenkilometer), und über eine Eisenbahnverbindung zum Nachbarstaat Benin wird zwar seit Jahren verhandelt, gebaut aber wird sie nicht.