Es herrscht grosse Unzufriedenheit und viele wollen, dass Präsident Macky Sall seinen Sessel räumt. Doch dieser dreht immer mehr an der Repressionsschraube. Dass er nur wenige Stunden vor Beginn des offiziellen Wahlkampfes eigenmächtig die für 25. Februar 2024 angestzten Wahlen absagte, brachte das Fass zum Überlaufen. Die Menschen im Senegal sprechen von einem institutionellen Putsch. Bei den quer durchs Land ausbrechenden Protesten gab es erneut Tote. Die Unsicherheitskräfte gehen mit massiver Gewalt gegen Opposition und Bevölkerung vor. Doch diese lässt sich nicht einschüchtern. Der Grossteil der Leute stellt sich gegen den versuchten Machterhalt von "Diktator Macky Sall", wie der Präsident mittlerweile vielerorts genannt wird.
Der Widerstand war nicht umsonst. Am 15. Februar hob der Verfassungsrat das Dekret Salls zur Absage der Wahlen auf und erklärte die Verschiebung der Präsidentschaftswahlen auf Dezember 2024 durch das Parlament für verfassungswidrig. Begrenzte Amtszeit bedeutet: begrenzte Macht, begrenzte Korruption
Macky Salls Präsidentschaft endet am 2. April 2024. Laut Verfassung gibt er keine dritte Amtszeit, was durch den o.g. Spruch des Verfassungsrates noch einmal bekräftigt wurde. Viele Leute befürchten seit langem, dass Sall die Macht nicht abgeben will - wie viele Machthaber*innen (west-)afrikanischer Staaten. Aufgrund massiver Proteste kündigte Sall im vergangenen Jahr an, dass er für keine dritte Amtszeit bei den Wahlen antreten wird. Das brachte ein wenig Ruhe, doch die generelle Unzufriedenheit in grossen Teilen der Bevölkerung veränderte sich nicht.
Zahlreiche Oppositionelle sitzen im Gefängnis. Überall sind schwer bewaffnete Polizei- und Gendarmerieeinheiten stationiert - um die Menschen einzuschüchtern und aufkeimende Proteste schnell niederschlagen zu können. Presse-, Meinungs- und Versammlungfreiheit, das Recht auf Information, grundlegende Pfeiler eines demokratischen Systems, wurden eingeschränkt. Die Opposition und Aktivist*innen werden verfolgt, schikaniert, inhaftiert und ermordet (Siehe Bericht von Human Rights Watch).
Mensch stelle sich vor, in einem EU-Land würde das Internet abgeschalten, weil Menschen gegen die Regierung auf die Strasse gehen, (kritischen) Fernsehsendern die Lizenz entzogen, Journalist*innen eingeschüchtert, Demonstrationsrecht und Versammlungsfreiheit ausser Kraft gesetzt, ganze Stadtteile mit Tränengas eingenebelt, Menschen im Rahmen von Protesten ermordet. Und dies in einem Ausmass, wie es in Senegal seit ein paar Jahren immer wieder geschieht. Dies ist, vielleicht mit Ausnahme von Ungarn, zumindest derzeit schwer vorstellbar. Im Senegal geschieht es. Macky Sall und seine Verbündeten nutzen diese Intstrumente und die massiv aufgerüsteten Unsicherheitskräfte, um ihre Macht abzusichern und sich zu bereichern. Korruption ist allgegenwärtig, während die ökonomische Situation vieler Menschen immer schwieriger wird, das Gesundheitssystem am Krachen ist, vor allem Junge Leute keine Hoffnung auf eine Besserung haben ...
Mit den kolonialen Strukturen wurde nie wirklich gebrochen. Senegal ist nach wie vor stark mit den ehemaligen Kolonisator*innen verbandelt, die Währung war an den französiche Franc gebunden, und nun an den Euro. Das heisst, der Wechselkurs zum Euro ändert sich - im Gegensatz zu anderen westafrikanischen Währungen, die laufend an Wert verlieren - nicht. Eine wirkliche Befreiung vom Kolonialismus gab es nie. Viele sehnen eine Veränderung dieses Zutandes herbei.
Senegal erlangte 1960 der Status der politischen Unabhängigkeit, seither gilt es als demokratisches Vorzeigeland und ist eng verbündet mit Frankreich bzw. Europa. Es ist einer der wenigen Staaten Afrikas, in denen es nie einen Militärputsch gab - und die Machtübergabe von einem Präsidenten auf den nächsten funktionierte mehr oder weniger ohne Gewalt - so die Erzählung, die derzeit in Medien immer wieder zu hören ist.
Zur Erinnerung: Wie Macky Sall an die Macht kam
Im Jahr 2011 beschloss Abdoulaye Wade, der Vorgänger von Sall, bei den Wahlen 2012 für eine dritte Amtszeit zu kanditieren - ein eindeutiger Verstoss gegen die Verfassung. Es waren vor allem Jugendliche, die auf die Strassen gingen und gegen Wade demonstrierten. Mehrere Leute wurden damals bei Protesten ermordet. Wade hatte im ersten Wahlgang sieben Gegenkanditat*innen. In der Stichwahl trat er gegen den Macky Sall an, der von allen Oppositionsparteien unterstützt wurde, um eine dritte Amtszeit von Wade zu verhindern. Am Wahltag 2012 waren die Strassen leer, überall war schwer bewaffnete Polizei und Gendarmerie zu sehen, es sollten zu keinen weiteren Protesten und Ausschreitungen kommen. Die Meinung in der Bevölkerung war gespalten, viele Leute vertraten die Meinung, Wade sollte weiter regieren, da dies das beste für das Land sei. Andere wollten, dass es zu keiner dritten Amtszeit kommt.Macky Sall gewann mit 65,8 % der Stimmen die Wahl. Der Verlierer Abdulai Wade setzte sich in der Folge nach Frankreich ab, der ehemaligen Kolonialmacht, mit der er gute Kontakte pflegte.
Macky, wie Sall genannt wurde, war zuvor unter anderem Bürger*innenmeister von Fatick und unter Wade von 2004 bis 2007 Premierminister, danach Präsident* der Nationalversammlung. Nachdem er Karim Wade, den Sohn des damaligen Präsidenten* wegen Korruptionsvorwürfen zu einer Anhörung ins Parlament vorlud, kam es zu Differenzen mit Abdulai Wade und Macky kehrte als Bürger*innenmeister nach Fatick zurück. Als Gewinner der Präsident*innenwahlen 2012 wurde er Anfang April 2012 Präsident der Republik Senegal (Wikipedia).
Die Euphorie vor allem unter der jungen Bevölkerung erlebte bald erste Dämpfer - es gab zahlreiche Korroptionsvorwürfe. Der wohl prominenteste Minister im Kabinet von Sall war Youssou N'Dour. Er beendete seine Karriere als Musiker und wurde zum Politiker*. Doch bald musste er seine neue Laufbahn beenden, wegen Korruption seinen Sessel räumen - und wurde wieder zum Musiker*
Herausforderer*
Karim Wade, der wie Sall auf eine Karriere als Politiker unter seinem Vater zurückblickte, war nach dessen Abdanken mit Ermittlungen wegen Korruption konfrontiert. Er hatte im Laufe der Zeit verschiedene politische Ämter inne, unter anderem als Minister*. In dieser Zeit konnte er - wie viele Politiker*innen in Westafrika - ein kleines Vermögen anhäufen und ausser Landes schaffen. Im März 2015 wurde er zu sechs Jahren Gefängnis und einer Geldstrafe von umgerechnet ca. 210 Millionen Euro verurteilt. Im Juni 2016 wurde Wade von Sall begnadigt und aus der Haft entlassen - und verliess daraufhin den Senegal Richtung Katar, wo er nach wie vor lebt. Wegen der Verurteilung zu mehr als fünf Jahren Haft konnte er aufgrund des geltenden Wahlgesetzes bei den Präsident*innenwahlen 2019 nicht antreten. (Wikipedia)Macky Sall wurde 2019 zu einer zweiten Amtszeit gewählt. Bei diesen Wahlen wurden aufgrund einer zuvor von der Regierung Sall beschlossenen Gesetzesänderung 19 Kanditat*innen ausgeschlossen, weil sie die nun erforderlichen Unterschriften für ihre Kanditatur nicht zusammen brachten. Einige der unterlegenen Kanditat*innen wechselten nach den Wahlen ins Lager des Präsidenten*.
Ousmane Sonko, ein* Konkurrent* und Kritiker* von Sall, der 2019 erstmals kandiditierte, landete mit knapp 16 Prozent der Stimmen am dritten Platz. Der relativ junge Politiker*, der 1974 in Thiès zur Welt kam, war von 2017 bis 2022 Mitglied der Nationalversammlung und seit 2022 Bürger*innenmeister* der Stadt Ziguinchor. Er war Präsident* der Partei Afrikanische Patrioten Senegals für Arbeit, Ethik und Brüderlichkeit (PASTEF) und kritisierte die Regierung von Macky Sall immer wieder wegen Korruption, u.a. in Bezug auf die geplante Ölförderung vor den Küsten Senegals. Aufgrund seiner Aufdeckungen wurde er aus dem Staatsdienst entlassen (Wikipedia). Vor allem für viele Jugendliche galt Sonko bald als Hoffnungsträger* für Veränderungen. Ihm wurden gute Chancen zugeschrieben, bei den Wahlen 2024 zu gewinnen. Doch es kam anders. Wie viele Oppositionelle sitzt er derzeit im Gefängnis.
Ousmane Sonko - Hoffnung für die Jugend
An der Person von Ousmane Sonko gibt sicher einiges zu kritisieren. Er fällt immer wieder mit homophoben Aussagen auf, für die er in einer homophoben Gesellschaft Zuspruch erfährt. Er verwendet Ressentiments, um vor allem die Jugend für sich zu begeistern. Im Senegal steht gleichgeschlechtlicher Geschlechtsverkehr unter Strafe (ein Erbe aus der Kolonialzeit) und viele vertreten die Meinung, dass Homosexualität kein akzeptabler Lebensstil sei. Ein Argument ist, dass Homosexualität sowie LGBTIQAN+ Rechte ein westlicher Import seien - und werden abgelenht. In diesen Zusammenhang stellen die antikolonialen Aussagen Sonkos, in anti-westliche Bilder verpackt, eine Strategie dar, die von vielen Politiker*innen genutzt wird, um Zustimmung zu erlangen. Sonko findet sich damit in "bester Gesellschaft". Selbst Macky Sall, ein Liebkind des Westens, ist nicht frei davon, verpackt sein Resseniments allerdings so, dass er seine westlichen Gönner*innen nicht vergrault.Dass Sonko Zuspruch erfährt, hängt vor allem mit seiner sozialen Vision und seinem Kampf gegen Korruption zusammen. Er bedient sich der sozialen Medien und versteht die Sprache der Jugend. Dafür schenkte ihm diese Vertrauen und machte ihn zum gefährlichsten Herausforderer für den immer mehr diktatierenden Präsidenten Sall. Und dieser bewies in den vergangenen Jahren seiner Herrschaft, wie er Widersacher*innen von seinem Sessel fern hält.
Sonko wurde immer wieder mit unterschiedlichen juristischen Klagen konfrontiert. Im Februar 2021 kam es zu einer Anzeige wegen „wiederholter Vergewaltigungen und Morddrohungen“ durch eine junge Angestellte eines Massagesalons in Dakar. Sonko gestand mehrmals in den genannten Salon gekommen zu sein, bestritt aber alle Vorwürfe und sprach von einer "Verschwörung", deren Ziel es sei, seine Kandidatur bei den Präsident*innenwahl 2024 zu verhindern. Das Gericht sprach Sonko von beiden Anklagepunkten frei, verurteilte ihn jedoch wegen "Verführung der Jugend" (im Senegal ist ausserehelicher Geschlechtsverkehr mit unter 21-jährigen verboten).
Nachdem der Vorwurf gegen Sonko aufkam, gab es viele Diskussionen unter anderem von Feministinnen* - und es fällt schwer, der Anklägerin die Glaubwürdigkeit abzusprechen. Die junge Frau, die sich wegen der Übergriffe an die Gendarmerie wandte, hatte es nicht einfach. Sie wurde von vielen Leuten angefeindet, die ihr unterstellten, an einem Komplott beteiligt zu sein. Und es machten keine Aussagen von Sonko die Runde, die sich kritisch damit auseinandersetzen - weder mit der Beschuldigung noch mit dem Umgang mit der jungen Frau, die er kannte und mit der er wohl intimen Kontakt hatte. Er stellte sich immer als Opfer dar.
Nicht von der Hand zu weisen ist, dass der Fall hochgespielt wurde und die Regierung darin eine Möglichkeit sah, eines* der für ihren Machterhalt gefährlichsten Kanditat*innen los zu werden. In einem Interview mit der Heinrich Böll Stiftung wird von einem Muster geprochen: „Entweder geraten Oppositionelle in juristische Konflikte oder sie schliessen sich der Regierungspartei an. Ein starker politischer Gegenspieler wird vom Präsidenten(*) hingegen nicht toleriert. Daher wurde dieser ursprünglich private Fall zu einer politischen Angelegenheit im Senegal.“
Das Aufgebot wie jenes, mit dem Sonko vor Gericht gezerrt werden sollte, gab es in Zusammenhang mit Vergewaltigung in Senegal sicher noch nie - und es bestätigt, dass der Vorfall politisiert wurde. Sonko verweigerte eine erste Vorladung durch die Gendarmarie am 8. Februar 2021. In der Folge kam es vor dem Haus Sonkos zu ersten Auseinandersetzungen zwischen seinen Unterstützer*innen und der Exekutive, die versuchte ihn vorzuführen. Am 3. März wurde er vor den Augen zahlreicher ihn begeleitender Anhänger*innen am Weg zum Gericht verhaftet. Als Folge darauf starteten überall in Senegal massive Proteste, die schnell zu einem Aufstand gegen die Regierung wurden. Die Menschen sahen die Demokratie in einem der stabilsten Staaten Afrikas in Gefahr und warfen Macky Sall vor, er würde ein diktatorisches Regime errichten.
Bereits die Monate zuvor war es unruhig im Senegal, immer wieder kam es zu Protesten gegen die Restriktionen in Zusammenhang mit der Corona-Pandemie und gegen stark steigende Preise. Es gab Strassenschlachten zwischen meist Jugendlichen und Unsicherheitskräften. Die Verhaftung von Ousmane Sonko eskalierte die Lage und die Proteste verbreiteten sich über das ganze Land. Die Antwort war repressiv, Macky Sall schickte Polizei, Gendarmerie und in ziviler Kleidung agierenden Schläger*trupps auf die Strassen, um die Aufstände blutig niederzuschlagen (mehr dazu in Free Senegal: Zur Verteidigung der Demokratie). Zwischen März 2021 and August 2023 wurden nach Angaben von amnesty international bei Protesten mindesten 56 Menschen ermordet, unzählige Menschen wurden verletzt. Bisher gab es keine Konsequenzen, es kam nicht einmal zu einer Anklage. Statt dessen wurden seither mindestens 1000 Oppositionelle verhaftet.
"Macky Sall - Diktator!"
Macky Sall respektiert die demokratischen Spielregeln nicht (mehr), er regiert zunehmend diktatorisch und es besteht die Gefahr, dass er die Wahlen immer wieder erneut verschiebt - so die Befürchtung vieler im Senegal. Sie wollen keine Verschiebung der Wahlen.Macky hatte seine Chance, und er hat immer noch Anhänger*innen, vor allem jene, die von seinen Machenschaften profitierten und es zu Wohlstand brachten oder ihren Reichtum vergrössern konnten. Doch viele sind mit seiner Politik nicht zufrieden, insbesondere Jugendliche, die einen Grossteil der Bevölkerung ausmachen, sehen keine Perspektive. Sie wollen Veränderungen, die sie von Sall schon lange nicht mehr erwarten können. Spätestens seit Corona hat sich die ökonomische Situation dermassen verschlechtert, dass sie die Hoffnung auf ein besseres Leben im Senegal verloren haben. Nicht wenige sehen die einzige Chance darin, in ein Boot zu steigen und ihr Leben am gefährlichen Weg zu den Kanarischen Inseln zu riskieren.
Macky Sall regiert zunehmend mit Gewalt, er ist eine Bedrohung für den Frieden im Senegal. Viele Menschen sind bereit, dagegen zu kämpfen. Sie gehen, wie bereits in den vergangenen Jahren, auf die Strassen und nehmen ihre demokratischen Rechte in Anspruch. Doch eben diese demokratischen Rechte wie Versammlungs- und Meinungsfreiheit werden von der Regierung Sall mit Füssen getreten. Es wird mit massiver Gewalt gegen Proteste und die Opposition vorgegangen. Überall im Land patrollieren schwer bewaffnete Einheiten, um die Menschen einzuschüchtern, es kommt zu Verhaftungen und der Abschaltung des Internets (vor allem für Handys, die der Grossteil der Leute nutzt). Zahlreiche Medien wurden in den vergangenen Jahren wiederholt daran gehindert, über diese Entwicklungen und Proteste gegen die Regierung zu berichten. Zahlreiche Oppositionspolitiker*innen, wie Ousmane Sonko, sitzen im Gefängnis und können nicht bei den Wahlen antreten. Es gibt kein Vertrauen mehr in Macky Sall, der mit der Verschiebung der Wahl erneut Öl ins Feuer goss.
Zur Bedeutung der Wahlverschiebung
Zahlreiche Leute reichten ihre Bewerbung als Präsidentschaftskanditat*innen für die kommenden Wahlen ein, doch nur 20 wurden schlussendlich zugelassen. Unter den Abgelehnten befanden sich der im Gefängnis sitzende Ousmane Sonko sowie Karim Wade, der oben genannte Sohn des Vorgängers von Sall. Der Grund für die Ablehnung Wades war, dass er neben der senegalesischen eine weitere Staatsbürger*innenschaft besitzt. Wade erhob Einspruch, während eine der zugelassenen Kanditat*innen ebenfalls Doppelstaatsbürgerin* sein soll, was sie allerdings der Wahlkommission verschwieg.Darauf berief sich Macky Sall, als er ankündigte, dass die Wahlen nicht wie vorgeschrieben im Februar stattfinden werden, da es zu Anfechtungen kommen könnte. Ein Antrag zur Verschiebung der Wahlen auf Dezember durch die oppositionelle Senegalesische Demokratische Partei (PDS) von Karim Wade wurde gemeinsam mit der Regierungspartei beschlossen - nachdem Rioteinheiten der Polizei zahlreiche Oppostionspolitiker*innen abführten, die gegen die Verschiebung der Wahlen protestierten. Macky Sall und seine Partei, die Allianz für die Republik (APR), rechtfertigten ihr Vorgehen damit, dass sie die Stabilität im Senegal nicht in Gefahr bringen wollen.
Genau das Gegenteil ist der Fall. Es war Sall, der mit seiner repressiven Politik und der Inhaftierung zahlreicher Oppositioneller für die Ausnahmesituation verantwortlich zeichnet - einer Situation, für die es in der Verfassung Senegals keine genaue Regelung gibt. Es gibt allerding ein Prozedere, wenn ein Präsident vorzeitig ausscheidet. In diesem Fall ernennt der Verfassungrat die*den Parlamentspräsident*in zur*m vorläufigen Staatsoberhaupt. Die Verschiebung der Wahlen auf Dezember hätte die Amtszeit von Sall, die Anfang April ausläuft, um bis zu einem Jahr verlängert. Dehalb wurde das Vorgehen von Sall im Senegal als "verfassungsmässiger", "institutioneller" bzw. "ziviler Putsch" (coup d'État institutionnel) bezeichnet.
Viele befürchten ähnliche Entwicklungen wie im Nachbar*innenland Mali, in Niger oder in Burkina Faso, wo in den vergangenen Jahren das Militär die Macht übernommen hat, auch wenn die Situation in diesen Ländern nicht wirklich vergleichbar ist.
Druck von der Strasse
Die Menschen im Senegal lassen sich trotz Repression nicht davon abhalten, auf die Strassen zu gehen. In den Wochen nach der Verschiebung der Wahlen kam es immer wieder zu Protesten, die teilweise trotz Verbot statt fanden. Am 9. und 10. Februar protestierten tausende Menchen in mehreren Städten. Die Polizei begegnete den Oppositionellen und Aktivist*innen einmal mehr mit massiver Gewalt. Hunderte Leute wurden verhaftet, Unmengen von Tränengas verschossen. Zahlreiche Menschen wurden verletzt und mindestens drei ermordet. amnesty international sprach mit zahlreichen Augenzeug*innen und fordert eine Aufklärung der Morde und der Polizeibrutalität.Am Freitag, 9. Februar starb der 22jährige Student Alpha Yoro Tounkara in Saint-Louis. Er war mit Freund*innen auf dem Weg von der Universität zu Protesten in die Stadt, die die Polizei verhindern wollte. Sie wurden mit Tränengas und Gummigeschossen beschossen, wovon ihn eines unter der Achsel traf. Er wurde ins Spital gebracht, wo kurz darauf sein Tod festgestellt wurde. Dem 23jährige Modou Gueye wurde in Colobane, einem geschäftigen Teil von Dakar mit zahlreichen Märkten, durch ein Polizeigeschoss die Leber zerstört. Der Strassenhändler war nach Auskunft seines Bruders gerade dabei, seine Sachen zusammenzupacken, als ihn der tötliche Schuss traf. Er starb am folgenden Tag im Spital. Am 10. Februar wurde der 16jährige Landing Camara in Ziguinchor durch einen Kopfschuss hingerichtet. Er starb kurz nach seiner Ankunft im Spital.
Laut dem ebenfalls bereits mehrmals inhaftierten oppositionellen Abgeordneten* Guy Marius Sagna habe die Regierung „den Sicherheitskräften einen Freibrief zum Töten erteilt“, berichtet die Jungle World.
Für die Menschen geht es um viel. Sie sehen die Demokratie in Gefahr und wollen nicht, dass Sall weiter an der Macht bleibt. Immer wieder wird angemerkt, dass es vor allem um eine rasche Austragung der Wahlen geht.
Die Proteste blieben nicht ohne Reaktion. Der Verfassungsrat hob am 15. Februar 2024, wie eingangs bereits erwähnt, Salls Dekret zur Absage der Wahl am 25. Februar wegen Verfassungswidrigkeit auf. Und das Gesetz, dass den neuen Wahltermin am 15. Dezember festlegte und Macky Sall bis dahin eine Fortsetzung seines Amtes als Präsident gewährte, wurde für ungültig erklärt. Die Klage beim Verfassungsrat brachten mehrere Parlamentarier*innen und Kanditat*innen für die kommenden Präsident*innenwahlen ein. Der Beschluss wird als historisch bewertet, da der Verfassungsrat zum ersten mal einen amtierenden Präsidenten* und das Parlament in die Schranken wies. Der Rat besteht aus sieben Verfassungsricher*innen und ist das höchste Entscheidungsgremium im Land. Ein baldiger Wahltermin soll ins Auge gefasst werden. Dieser sollte noch vor dem 2. April sein, doch gibt es bis jetzt kein neues Datum für den Urnengang. (Mehr zum Prozedere bei der Konrad Adenauer Stiftung)
Zuvor, ab 26. Februar und damit einen Tag nach dem ursprünglichen Wahldatum, wird ein "nationaler Dialog" stattfinden, den Macky Sall nach der Verschiebung der Wahlen anstrebte. Dort will er die Situation, für die er selbst verantwortlich ist, diskutieren, einen Ausweg suchen, sowie einen neuen Wahltermin festlegen. Unterstützung erhält Sall u.a. von einigen Kanditat*innen, die von den Wahlen ausgeschlossen wurden, allen voran Karim Wade, der ein Interessse daran hat, dass das Prozedere samt Kanditat*innenzulassung erneut beginnt. Jedoch werden 16 der insgesamt 19 zugelassenen Kanditat*innen und zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen nicht an Salls Veranstaltung teilnehmen. Statt dessen rufen sie zu Protesten am 26. und 27. Februar auf. Sie wollen keinen Schein-Dialog, sondern so schnell wie möglich einen neuen Wahltermin.
Regierung unter Druck
Ein Ereignis, das zeigt, wie sehr Sall unter Druck steht, ist die in der Woche nach Bechluss des Verfassungsrates erfolgte Freilassung von 350 vor allem jungen Leuten, die seit den Protesten zwischen März 2021 und Juni 2023 inhaftiert waren. Einige von ihnen beklagten die Haftbedingungen und gaben an, dass sie gefoltert wurden.Ousmane Sonko, der Herausforderer mit den grössten Chancen auf den Wahlgewinn sitzt zwar derzeit im Gefängnis und ist von den Wahlen ausgeschlossen. Allerdings wurde „die Ersatzkandidatur von Bassirou Diomaye Faye, ebenfalls Mitglied von PASTEF, zugelassen (...). Auch er ist momentan inhaftiert, aber noch nicht verurteilt und kann daher formell noch an den Wahlen teilnehmen. Für die Regierungskoalition stellt dies ein echtes Problem dar, denn sie hat aufgrund der Entscheidung des Verfassungsrates nun keine Zeit mehr, effektiv gegen PASTEF vorzugehen und den neuen Kandidaten politisch zu neutralisieren. Daher ist der Präsident nun gezwungen, sich mit der Opposition zu arrangieren und eine Entspannung der Situation herbeizuführen. Die Freilassungen sind also durchaus in diesem Kontext zu betrachten.“ (Interview der Heinrich-Böll-Stiftung) Die Freilassung hunderter Gefangener steht in Zusammenhang mit einem Amnestiegesetz für die zahlreichen Inhaftierten im Rahmen von Protesten seit 2021. Viele von ihnen geben an, dass sie nichts getan haben. Sall liess sich sogar zur Aussage hinreissen, dass er überlegt, inhaftierte Oppositionskanditat*innen frei zu lassen, dies müsste allerdings von Fall zu Fall geprüft werden.
Die ersten nicht untersagten grossen Demonstrationen gegen die Wahlverschiebung gab es am 19. Februar. Am Abend des 22. Februar teilte Sall mit, dass er mit 2. April sein Amt niederlegen wird. Ob die Wahlen noch davor stattfinden werden, dazu gab er keine konkreten Angaben. Er meinte allerdings im Fernsehen, dass die Zeit bis dahin nicht reichen könnte. Es ist also in den kommenden Wochen alles möglich und bleibt abzuwarten, ob sich Sall tatsächlich dem enormen Druck aus mittlerweile so gut wie allen Teilen der Gesellschaft beugt und für eine geordnete Amtsübergabe sorgt.
Denn ein Sieg des Regierungslager bei den anstehenden Wahlen wird immer unwahrscheinlicher. Macky Sall und sein Gefolge bleibt wenig Zeit, sich für die Wahlen erneut in Stellung zu bringen. Ihr Kanditat, der derzeitige Premierminister* Amadou Ba, hat Umfragen zufolge nur geringe Chancen, zu gewinnen. Das Ziel von Sall war immer, dass sein Kanditat* in die Stichwahlen kommt und diese gewinnt. Nachdem sich abzeichnete, dass dieser Plan scheitern könnte, liess das Regierungslager die Wahlen verschieben - und löste damit politische Unruhen aus und stürzte das Land in eine Staatskrise.
Ein Amnestiegesetz vor den Wahlen könnte für Sall wichtig sein und es wird von manchen sogar vermutet, dass dies der eigentliche Grund für die Absage der Wahlen am 25. Februar war. Die Einleitung eines "Dialoges zur nationalen Aussöhnung" vor den Wahlen, der zu einem Amnestiegesetz führt, könnte nicht nur die Inhaftierten Freiheit bedeuten. Jene, die für die Verbrechen durch Politiker*innen und Exekutive an Oppositionellen und Zivilbevölkerung verantwortlich sind, könnte es vor künftiger Strafverfolgung bewahren. Dies sind neben Macky Sall selbst all seine Unterstützer*innen, die der Veruntreuung verdächtigt werden. Sowie die zahlreichen polizeilichen und militärischen Behörden, die an den Operationen zur Niederschlagung der Proteste von März 2021 bis Juni 2023 beteiligt waren. Letztere müssen befürchten, dass sie von einem Tag auf den anderen ins Visier des Internationalen Strafgerichtshofs geraten, dessen Römisches Statut Senegal ratifiziert hat. In Senegal wurden keine Gerichtsverfahren eingeleitet, um die Umstände der Todesfälle durch Schusswaffen der meisten bei den Demonstrationen getöteten Jugendlichen aufzuklären. Und es wurden den zahlreichen Vorwürfen von Folter nie nachgegangen. Über den Köpfen der Verteidigungs- und Sicherheitskräfte, die dafür verantwortlich gemacht werden, schwebt eine Art Damoklesschwert. (Dakar Matin)
Was wird geschehen?
Wie es mit den Protesten weitergeht und ob die Exekutive weiterhin mit extremer Brutalität vorgeht, wird sich bald zeigen. Werden die nach wie vor zahlreichen Inhaftierten ebenfalls bald frei gelassen? Wann genau werden die Wahlen statt finden? Was wird sich alles während des offiziellen Wahlkampfes, der drei Wochen vor dem offiziellen Wahltermin beginnt, noch ereignen?Ob es noch andere Überraschungen geben wird, bleibt abzuwarten. Ebenso bleibt abzuwarten, wie die aktuellen Machthaber*innen und Behörden nun mit demokratischen Grundrechten wie Meinungs-, Informations-, Presse- und Versammlungsfreiheit umgehen.
Wird das mobile Internet erneut abgeschalten? Dürfen Fernsehsender über Proteste berichten? Vor allem, wenn Menschen brutalst und unter Einsatz von riesigen Mengen an Tränengas vor den Strassen geprügelt werden? Wird weiterhin scharf geschossen? Was geschieht aus all jenen, die in den vergangenen Jahren an Misshandlungen und Morden an Oppositionellen und Aktivist*innen beteiligt waren? Wer trägt die Verantwortung?
Wie schaut die Zukunft im Senegal aus? Wird es eine ökonomische Entspannung geben? Wieder Hoffnung für die Menschen? Wird ein*e neue*r Präsident*in, welche immer das auch sein mag, in der Lage sein, die zahlreichen Probleme der vergangenen Jahre zu lösen und entschieden gegen Korruption vorgehen? Oder werden andere kommen, um sich auf Kosten der Allgemeinheit zu bereichern?
In ein paar Wochen können einige dieser Fragen mögleicherweise beantwortet werden. Wahrscheinlich wird es Jahre dauern bis sich abzeichnet, ob es wirkliche Veränderungen im Sinne der Menschen im Land gibt - vor allem all jener, die nicht den wohlhabenden Eliten angehören.