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Anarchismus und Organisation

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Radikaler Föderalismus und Organisationsegoismus Anarchismus und Organisation

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Politik

Historisch wie theoretisch ist das Verhältnis von Anarchismus zu Organisationen komplex und teilweise offen widersprüchlich. Da wird einerseits von anarchistischer Seite zur „Organisierung“ aufgerufen und andererseits werden dann wieder Organisationen kritisiert, weil sie als solche gewisse Dynamiken an den Tag legen.

Street Art in der Nähe des Berkley Campus in Kalifornien.
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Street Art in der Nähe des Berkley Campus in Kalifornien. Foto: Eekiv (CC BY-SA 3.0 unported)

Datum 7. Dezember 2012
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Kein Wunder, denn meistens wissen wir selbst gar nicht so genau, was wir meinen, wenn wir zur „anarchistischen Selbstorganisation“ aufrufen. Wenn sich die Leute dann selbst organisieren, sind wir oft nicht zufrieden damit, was und wie sie es tun.

Eine Schwierigkeit liegt in der Diffusität des Begriffes. Mit „Organisation“ kann sowohl ein Zweckverband, gekennzeichnet durch eine gewisse Zweck-Mittel-Rationalität, gemeint sein, als auch eine Prozess der gegenseitigen Abstimmung, den ich in der Nähe von Koordination begreife. Aber selbst, wenn wir uns auf den ersten Begriff, Organisation als Zweckverband beschränken, so wie ich es in diesem Vortrag tun, sind damit noch lange nicht alle Fragen geklärt.

Eine weitere Schwierigkeit eine anarchistische Organisation zu bestimmen, neben der begrifflichen, hängt damit zusammen, dass im Anarchismus immer wieder der Anspruch auftaucht, – und auch ich vertrete ihn – dass die Organisationen die zukünftige, die gewünschte Gesellschaft vorwegnehmen sollen. Da wir aber selbst nicht so genau wissen, was wir denn für die Zukunft wollen, wissen wir auch nicht, wie unsere Organisationen aussehen sollen. Im Allgemeinen läuft der Anspruch deswegen darauf hinaus, dass es in den Organisationen soweit als möglich keine Herrschaft geben soll. Die Organisationen werden also negativ bestimmt. Soweit als möglich sollen Sexismus und Rassismus verhindert und die Beziehungen eben nicht durch Besitzverhältnisse, also bürgerlich, vermittelt werden.

Das alleine wäre schon schwierig genug. Es gibt jedoch mindestens vier Problemfelder, vier Dynamiken der Herrschaft, die spezifisch für Organisationen sind:

Verselbständigung von Organisationen: Darunter ist zu verstehen, dass die Organisation ein stählernes Gehäuse aus formalen und/oder informalen Regeln ausbilden, in dem sich die einzelnen Mitglieder_innen gefangen finden. Ausbildung von Oligarchien: Darunter ist zu verstehen, dass durch die Eigendynamik von Organisationen eine Tendenz zur Herrschaft eines eingegrenzten Personenkreises entsteht.

Trennende Grenzen der Organisationen: Organisationen kennen im Normfall einen Innen und ein Aussen. Oft bringen sie Vorteile für Personen, die Teil ihres Inneren sind und damit relative Nachteile für Personen, die ausserhalb der Organisationen stehen. Subjektivierender Charakter von Organisationen: Organisationen können durch ihren regulierenden Apparat subjektivierend wirken. Das heisst, sie können das Selbst grundlegend bestimmen, konstituieren.

Um eine kurz Vorschau zu geben: Zuerst werden die Problemfelder eins und zwei, Verselbständigung und Oligarchieausbildung erläutert werden, im Anschluss werden einige Strategien im Umgang mit diesen zwei Problemen Erwähnung finden. Danach wird das dritte Problemfeld, die trennenden Grenzen der Organisation, kurz aufgeworfen werden. Das vierte Problemfeld jedoch, der subjektivierende Charakter, wird hier nicht behandelt werden. Aus dem ganz einfachen Grund, dass ich mich selbst noch nicht sicher genug bei dieser Thematik fühle, um auch nur vorschlagsweise eine Position zu präsentieren.

Sobald ich die Problemfelder mit der erwähnten Ausnahme abgehandelt habe, werde ich mich der Frage, warum und wozu wir überhaupt Organisationen bilden, zuwenden. Damit soll noch einmal der Blickwinkel gewendet werden hin zur Funktionalität von Organisationen. Zu guter Letzt soll der Inhalt noch einmal durch einen Vorschlag, was das für unsere Praxis bedeuten könnte, zusammengefasst werden.

Verselbständigung

Bei der Verselbständigung von Organisationen ist die Bürokratie wohl eine der bekanntesten und illustrativsten Formen. Bei der Bürokratie wird der formale Charakter einer Organisation unausweichlich und bildet, wie es der Soziologe Max Weber ausgedrückt hat, ein „stahlhartes Gehäuse der Hörigkeit“. Schon fast klassisch ist das Bild des_der nett lächelnden Beamt_in und die Worte: „Da kann ich leider nichts für Sie tun“. Selbstverständlich könnte diese Person etwas tun, aber sie kann es auch wieder nicht. Zumindest nicht in ihrer Position in der Organisation, eventuell auch gegen deren Widerstand.

Die Bürokratie ist aber nicht die einzige Form der Verselbständigung von Organisationen. Eine Organisation kann sich auch abseits der sich alles einverlebenden Formalisierung, der Bürokratie, verselbständigen. Auch informelle Dynamiken können uns über die Köpfe wachsen. So kann uns Vetternwirtschaft und Korruption als handfestes Problem gegenüber treten. Dieser Schritt ist generell dann überschritten, wenn Organisationen beginnen eigene Scheininteressen auszubilden. Das heisst praktisch gesprochen, sobald Menschen beginnen im Namen einer Organisation eindeutig und auch langfristig gegen ihre eigenen Interessen zu handeln, hat sich diese offensichtlich verselbständigt. Die Einzelnen sind ihr dann unterworfen. Wir können in diesem Fall von einer unpersönlichen Herrschaft durch die Organisation sprechen.

Max Stirner, ein Philosoph, der in den junghegelianischen Kreisen mit Marx und Engels verkehrte und von diesen zum Anarchisten abgestempelt wurde, drückt dies in der Dichotomie von Gesellschaft und Verein aus. Wobei Gesellschaft bei ihm generell einen verselbständigten Zusammenhang von Menschen, also auch einen verselbständigten Zweckverband, eine verselbständigte Organisation bezeichnet. Der Verein hingegen ist die Organisation, über die wir als Einzelne die Kontrolle haben. Er schreibt: „[…]der Verein ist für Dich und durch Dich da, die Gesellschaft nimmt umgekehrt Dich für sich in Anspruch und ist auch ohne Dich; kurz die Gesellschaft ist heilig, der Verein dein eigen: die Gesellschaft verbraucht Dich, den Verein verbrauchst Du.“ (Stirner 1981: 351)

Um festzuhalten, eine verselbstständigte Organisation bezeichnet er als Gesellschaft, und als solche verbraucht sie Dich. Es kommt gewissermassen zu einem Interessenkonflikt mit einer geronnen Sozialität, die eigentlich gar keine lebendigen Interessen hat.

Nun ist aber der Übergang zwischen diesen zwei Formen, Verein und Gesellschaft, fliessend, dessen ist sich auch Stirner bewusst. Das heisst, wir können bei der Gründung einer Organisation die besten Ziele haben, beziehungsweise sie nur für unsere Interessen gründen und dennoch beginnt sie uns zu verbrauchen. Vielleicht ist es einigen von euch ja schon passiert, dass ihr bei einer Politgruppe wart, ihr hattet Spass und habt die Sachen weiter gebracht. Aber eines Tages habt ihr gemerkt, wie ihr Dinge getan habt, die eigentlich gar nicht notwendig waren, die ihr und die anderen ohne die Organisation gar nicht für notwendig gehalten hättet und euch eigentlich nur verbraucht haben. An diesem Punkt hat sich die Organisation verselbständigt, an diesem Punkt hat sich die unpersonale Herrschaft der Organisation gezeigt.

Ausbildung von Oligarchien

Das zweite Problem ist die Ausbildung von Oligarchien. Organisationen neigen zumindest ab einer gewissen Grösse (und einer gewissen Bedeutung) dazu oligarchische Strukturen, das heisst Eliten, auszubilden. Ein klassisch gewordenes Buch zu dieser Problematik ist „Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie“ von Robert Michels (1911). Da Michels' Werk und sein Leben untrennbar verbunden sind, soll ein kurzer Abriss seiner Biographie folgen.

Robert Michels wurde 1876 in Köln geboren, 1901 trat er der italienischen sozialdemokratischen Partei bei, wenige Jahre später der deutschen. Er war Delegierter bei mehreren sozialdemokratischen Parteitagen. 1907 wandte er sich von der Sozialdemokratie ab. Michels war zu dieser Zeit nicht nur Sozialist, sondern auch Soziologe. Er stand im engen Kontakt mit Max Weber. Ihm widmete er auch sein Buch „Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie“. Dieses Buch speist sich aus seinen Erfahrungen mit der deutschen Sozialdemokratie. Seiner Ansicht nach war die Sozialdemokratie mit den besten Absichten gestartet und hatte am Ende doch die selben oligarchischen Strukturen ausgebildet. Nach seiner Abwendung von der Sozialdemokratie wandte Michels sich kurzzeitig dem Syndikalismus zu und war auch pazifistisch tätig. 1928 jedoch hatte ein tiefgehender Wandel stattgefunden, er trat der faschistischen Partei Italiens bei und wurde auch öffentlich ein Propagandist des Faschismus. Wobei anzumerken ist, dass er ein Vertreter des italienischen Faschismus war und vor einem Bündnis mit dem völkisch-deutschen warnte. Damit soll seine reaktionär autoritäre Politik nicht relativiert, sondern spezifiziert werden.

Das wichtigste Werk Michels' blieb seine Soziologie des Parteiwesens. Dieses Buch war, wie bereits erwähnt, aus einer kritischen Auseinandersetzung mit der Arbeiter_innenbewegung, bzw. der deutschen Sozialdemokratie entstanden. Es zeigt eine allgemeine Desillusionierung gegenüber Massenorganisationen, eben weil diese stark zu hierarchischen Strukturen tendieren. In diesem Kontext stellte Michels das „eherne Gesetz der Oligarchie“ auf. Eines der wenigen Gesetze der Soziologie, das sich überhaupt diesen Namen geben kann ohne lächerlich zu erscheinen.

Kurz gesagt schreibt das eherne Gesetz der Oligarchie fest, dass grosse Organisationen stets Oligarchien, also herrschende Gruppen, ausbilden.Wie lässt sich dieses „eherne Gesetz“ begründen? Ab einer gewissen Grösse entwickeln Organisationen einen starken Koordinationsbedarf. Wird dieser nicht erfüllt, ist die Wahrscheinlichkeit einer Desintegration der Organisation gross. Sie ist dann nicht mehr fähig einheitlich zu agieren oder zerfällt ganz.

Die klassische Erfüllung des Koordinationsbedarf stellt eine starke, zentralistische Hierarchie dar. Nun können die Lösungen unterschiedlich ausfallen und es muss nicht gleich ein zentraler Kader entstehen, der alles entscheidet. Ab einer gewissen Grösse wird es jedoch nahezu unmöglich gänzlich ohne Hierarchien, mögen diese auch informell sein, auszukommen und dennoch als eine Organisation zu agieren. Ein Zweckverband kann sicherlich eine widersprüchlichen Zwecke in sich ertragen, wenn sich diese aber auch komplett entfalten, muss er platzen.

Da es weiters bei komplexen Zusammenhängen schlichtweg nicht möglich ist, dass alle Personen sich mit allem auskennen, wird ein gewisses Expert_innentum innerhalb der Organisation entstehen. Aus rein praktischen Gründen können nicht alle Aufgaben ständig neu zu gewiesen werden bei einer grossen Organisation, die ohnehin schon behäbiger ist. Diese Expert_innen haben dann jedoch mehr Machtmittel in ihrer Hand. Auf kurz oder lang wird dies die Dynamik der Organisation entscheidend ändern. Dass sich wirklich eine eigene, stabile Klasse von Personen, die lenken, bildet, wie Michels dies beschreibt, ist vielleicht nicht immer so, aber die Tendenz zur Hierarchiebildung ist vorhanden und wird sich nicht gänzlich ausschalten lassen. Strategien

Es gibt jedoch einige Strategien, die sowohl gegen die Verselbständigung von Organisationen als auch die Oligarchiebildung wirken:

ein radikaler Föderalismus, wie er in der anarchistischen Bewegung spätestens seit der ersten Internationalen und damit eigentlich von Anfang tief verwurzelt ist.
Die vier Eigenschaften einer anarchistischen Organisation nach Colin Ward (2010): voluntary (freiwillig), functional (funktional), temporary (temporär), und small (klein)
Der Organisationsegoismus, wie er sich bei Stirner findet in seiner Unterscheidung zwischen Verein und Gesellschaft.

Föderalismus

Der radikale Föderalismus ist gewissermassen eines der historischen Kennzeichen des Anarchismus. Ich habe bereits auf die erste Internationale, die Internationale Arbeiter Assoziation, hingewiesen, in der die anarchistischen Sektionen, aber nicht nur diese, auf einen Föderalismus gedrängt haben und zwar im Gegensatz zur marxistischen Strömung. Spulen wir 150 Jahre nach vorne und schauen wir uns die aktuellen Statuten von FAU und FAS an, zwei anarchosyndikalistischen Zusammenschlüssen, die jeweils in Deutschland und Österreich aktiv sind und noch einen relativ klassischen Föderalismus vertreten. Obwohl die beiden Organisationen auch im anarchistischen Spektrum als Gewerkschaften wahrgenommen werden, ist dies eigentlich eine Ungenauigkeit, denn wie es in den Statuen der FAU heisst: „Die Freie Arbeiterinnen und Arbeiter Union (FAU) ist eine klassenkämpferische Gewerkschaftsföderation.“ (FAU 2008: 1; Hervorhebung von mir) Die FAS heisst ja schon in ihrem Namen „Föderation der ArbeiterInnen Syndikate“. Prinzipiell, so wollen es die Statuten, sind die Syndikate autonom und gewissermassen in Metaorganisationen, den Föderationen, miteinander verbunden. Die FAS redet selbst auf diese Weise die Bedeutung der Föderation klein:

„Die Föderation ist der Kitt, der die Syndikate bzw. Ortsgruppen/Lokalföderationen zusammenhält.“ (FAS 2008: 4)

Inwiefern ist diese Form der Organisation, also ein Verband aus Verbänden, nun ein Mittel gegen Oligarchiebildung und Verselbstständigung? Einfach lässt sich dies an den Finanzen zeigen. In den Statuten der FAS heisst es:

„Prinzipiell verfügen alle Syndikate über eigene Kassen. Damit wird der Zentralisierung der Bewegung entgegengewirkt.“ (FAS 2008: 9)

Solche Massnahmen machen eine Verselbständigung eindeutig schwieriger, die Dynamik einer Organisation wird eingeschränkt. Es wird versucht die Logik einer kleineren, stärker an Personen gebundenen Organisation beizubehalten. Auch Oligarchien haben es schwieriger sich zu etablieren, da sie schlichtweg keinen Zugriff auf alle Machtmittel haben. Dadurch, dass die Kassen dezentral verwaltet werden, haben alle Syndikate gewissermassen ein kleines Pfand in der Hand. Sollte sich die Föderation als Organisation verselbstständigen oder sollte sich eine Oligarchie bilden, dann sind die Syndikate nicht machtlos.

Bei allen föderalistischen Strukturen stellt sich jedoch die Frage, inwiefern die offizielle, die formelle Struktur mit der faktischen, realen Struktur zusammenhängt. Es ist zu bedenken, dass es für die Syndikate einfacher sein kann, sich jeweils an der Entscheidung einiger Vertrauenspersonen zu orientieren, anstelle des wirklich autonomen Entwickelns eines eigenen Ansatzes. Würden sich die Syndikate wirklich gänzlich autonom verhalten ohne sich aneinander zu orientieren, würde sich die Föderation wohl schnell auflösen oder wäre nicht mehr als Einheit schlagkräftig Auch hier müssen die Zwecke der Teile des Verbandes in Schach gehalten werden. Ein Föderalismus führt also zum Seiltanz zwischen Oligarchien und Auflösung. Wobei im politischen Eifer wohl öfter die Ausbildung von Oligarchien gewählt wird. Es sei nur an die CNT im spanischen Bürgerkrieg erinnert, die schlussendlich Minister_innen stellte und Polizeifunktionen übernommen hat!

Dazu will ich noch sagen, dass dieses Problem momentan wohl eine eher theoretisches ist, da weder FAU noch FAS wirkliche, breite Massenorganisationen sind.

Ward

Die vier Kriterien die Ward für anarchistische Organisationen vorschlägt, freiwillig, funktional, temporär, klein, sind gewissermassen eine Verschärfung des klassisch anarchistischen Föderalismus, wie er sich bei FAU und FAS findet. Das Kriterium der Freiwilligkeit gilt selbstredend allgemein für den Anarchismus. Auch verstehen sich vermutlich die meisten anarchistischen Organisationen als funktional in dem Sinne, dass die Form der Organisation genau auf ein Ziel ausgerichtet ist, ob das nun heisst einen autonomen Freiraum zu schaffen, oder den Klassenkonflikt voranzutreiben. Eine Ausnahme stellen eventuell die anarchistischen Föderationen da, die ein sehr allgemeines Selbstverständnis haben, und die Bezugsgruppen, wenn wir diese als Organisationen verstehen wollen. Aber ein gewisses Mass an Funktionalität als Zielgerichtetheit auf einen oder mehrere Zwecke wurde ja eingangs als Kennzeichen aller Organisationen, auch herrschaftlicher, festgesetzt

Wichtiger scheinen die zwei letzteren Eigenschaften: temporär und klein. Da sowohl eine Verselbständigung als auch die Ausbildung von Oligarchien Zeit brauchen, leuchtet das Kriterium der zeitlichen Beschränktheit für Organisationen erst einmal ein. Allerdings stellt sich die Frage, wie praktikabel es wirklich ist. Bei gewisser Infrastruktur, wie zum Beispiel einer anarchistischen Bibliothek würden wir vermutlich vorziehen, dass sie immer da wäre und nicht nur für die nächsten zwei Jahre. Bei Nahrungsmittelversorgung, Krankenhäusern oder, um bei aktuellen Problemen zu bleiben, der Antifa wäre es meines Erachtens sogar fahrlässig sie zeitlich zu beschränken. Was wenn sich nicht rechtzeitig eine neue Organisation gründet? Womöglich wäre es sinnvoller anstatt einer zeitlichen Beschränkung sich einen zeitlichen Rahmen zu setzen, nach dessen Überschreiten die Organisation von Grund auf evaluiert und nach formellen wie informellen Hierarchien durchleuchtet werden soll. Am besten mit Unterstützung von Personen ausserhalb der Organisation.

Wards Vorschlag zur Grösse scheint auf den ersten Blick ähnlich gelagert zu sein. Ward geht selbst auf die Schwierigkeiten der Umsetzung dieser Forderung ein. Er schlägt vor einfach grössere Aufgaben in kleinere zu spalten, so dass diese von kleineren Organisationen übernommen werden können. Was mit ein Produktivitätsverlust einhergehen könnte, Stichwort hierbei sind die Economies of Scale. Schliesslich lässt er auch zu, dass sich die kleinen Organisationen miteinander verknüpfen, also förderieren (vgl. Ward 2010). Ward legt die Betonung zwar eindeutig stärker auf die kleinen Einheiten, aber zumindest meiner Lesart nach würde die FAU, auch wenn sie hundert mal so gross wäre, Wards Kriterium der Grösse zumindest theoretisch entsprechen. Es stellt sich deutlich die Frage, ob eine Föderation aus kleinen Organisationen nicht eine grosse Organisation ist. Zumindest, wenn die kleinen Organisationen beginnen sich aneinander zu orientieren und versuchen einheitlich zu agieren, scheint dies der Fall zu sein.

Es erscheint unglaubwürdig, dass der Koordinationsbedarf gänzlich verschwindet, nur in dem ein Teil der Koordination in kleinere Gruppen verlagert wird. Zwar gibt es die Möglichkeit auf Koordination im engeren Sinne zu verzichten, ein Beispiel hierfür wäre das CrimethInc.-Kollektiv, dann scheint es jedoch unpassend von einer Organisation zu sprechen, weil es sich nicht mehr um eine kollektive Akteurin handelt, also eben nicht mehr einheitlich agiert wird und auch nur die Imaginationen eines konkreten gemeinsamen Zwecks fehlt. Bei CrimethInc. handelt es sich zwar um einen wardschen Föderalismus aber um keine Organisation mehr.

Organisationsegoismus

Kommen wir zu dritten Technik. Der Organisationsegoismus Stirners ist ein sehr anspruchsvolles Instrument. Er fällt gewissermassen aus der Reihe der zwei vorhergehenden Methoden, die beide von der Organisation aus auf das Problem blicken, um zu sehen was an den Organisationen verändert werden könnte. Beim Egoismus Stirners blicken wir radikal vom Ich aus. Für Stirner gilt es sich nicht in seinem Sein durch eine Organisation binden zu lassen (vgl. seine Erörterung der Partei: Stirner 1981: 262), das Ich soll sich immer eine Autonomie von der Organisation bewahren. Eine stets flexible und sich wandelnde Autonomie, die somit unabhängig dynamisch von der Organisation sein soll. Von dieser Autonomie aus soll das Ich dann die Organisation als ein Instrument verwenden. Nicht das Ich soll von der Organisation ausgenützt werden, sondern das Ich soll die Organisation ausnützen (vgl. Stirner 1981: 351). Wegen dieser Betonung des Ausnützens spreche ich vom Organisationsegoismus, genauer dem Egoismus gegenüber Organisationen. Sobald die Organisation verlangt gegen meine Interessen, gegen meine Person zu handeln, soll d. Einzelne sich von der Organisation lossagen. Es soll niemals mehr als ein instrumentales Verhältnis zur Organisation bestehen. Sowohl Oligarchien als auch Verselbständigung würden dieses Instrumentalverhältnis stören.

Warum ist dies eine so anspruchsvolle Technik? Bei diesem auf Organisationen bezogenen Egoismus handelt es sich um eine „Technologie des Selbst“ (zu diesem Konzept bezogen auf Stirner vergleiche Mümken 2003: 242-245), eine Veränderung des eigenen Seins. Eine derartige Autonomie, so eingeschränkt sie auch sein mag, muss erst erarbeitet werden. Die formalen Strukturen einer Organisation anders festzuschreiben ist wesentlich einfacher, als sich selbst grundlegend zu ändern. Gleichzeitig handelt es sich hier wohl um das effektivste Instrument. Ein starkes Ich ist die beste Waffe gegen den Spuk der Organisationen, eben weil es zwar nicht unbedingt ausserhalb, aber über diesen steht und so gegen die innersten Tendenzen der Organisation agieren kann.

Eine kleine Warnung soll noch zum Organisationsegoismus gewissermassen als Beipackzettel gereicht werden. Alles immer nach dem eigenen Kopf haben zu wollen und zu verlangen, dass sich die Organisation stets und soweit es nur geht nach einem selbst richtet; das ist nicht unbedingt ein Weg um sich Freund_innen zu machen. Gerade bei einer derart selbstzentrierten Technik ist es wichtig, zu kommunizieren. Und gegen die anderen in einer Organisation lässt sich das Konzept ohnehin nicht oder nur sehr unbefriedigend durchsetzen. Vielmehr eskaliert die Situation dann in einen Konflikt, der uns alle von unseren Interessen fernhält. In Rudolf Rockers „Anarchismus und Organisation“ (0. A.) lässt sich dieser ausführlich über die Stirnerinaner_innen seiner Zeit aus und wie diese eigentlich nur stören in den Organisationen. Das ist nicht was ich will, auch nicht was Stirner wollte.

Trennende Grenzen

Das Problem, dass Organisationen in ein Innen und ein Aussen trennen, ist als solches wohl unlösbar, solange wir Organisationen bestehen lassen. Die Trennung in Innen und Aussen ist eigentlich das falsche Kriterium, um eine Organisation als Organisation zu beurteilen, denn jede Organisation weist es mehr oder weniger ausgeprägt auf, ansonsten könnten wir sie gar nicht als solche benennen. Wichtig sind vielmehr einerseits die Folgen der Zugehörigkeit, sowie die Durchlässigkeit der Grenze zwischen Innen und Aussen.

Besonders problematisch ist es, wenn die Grenzen von, wer in der Organisation eine Stimme hat und mitwirkt und wer von den Entscheidungen und Handlungen konkret betroffen ist, auseinanderfallen. Wenn also zum Beispiel eine Gruppe von Personen einen Betriebskampf für bessere Arbeitsbedingungen führt, die gar nicht in dem betreffenden Betrieb arbeitet. Wenn sich eine solches Auseinanderfallen verfestigt und es gar nicht mehr möglich ist, dass Personen, die gleichsam organisiert werden, gleichberechtigt mitwirken können, handelt es sich um Herrschaft. Um in der stirnerschen Terminologie zu bleiben, dann ist es nicht mehr möglich, dass Ich mich Meiner Sache annehme. Wenn wir den anarchistischen Anspruch ernst nehmen, muss zumindest die Möglichkeit der Mitwirkung gewährleistet sein. Der Zusammenhang von Durchlässigkeit und Auswirkungen ist das Kernproblem.

Warum Organisationen?

Wenn wir uns diese Problemfelder ansehen (siehe Teil 1) wird deutlich, dass das Verhältnis zwischen Anarchismus als Bewegung und Organisationen noch in einem anderen Punkt als der Vorwegnahme der zukünftigen Gesellschaft ein ganz besonderes ist. Der Anarchismus zeichnet sich dadurch aus Herrschaft als Ganzes abschaffen zu wollen. Die Herrschaft des Kapitals soll nicht einfach sozialpartnerschaftlich gemildert werden, sie soll ein für alle mal gebrochen werden. Der Staat soll nicht einfach durch eine Zivilgesellschaft begrenzt werden, er soll in jeder Beziehung verschwinden. Sexismus soll am besten gleich mit der Stabilität aller Geschlechter beendet werden.

Aber es scheint, dass im Bereich der Organisation der Anarchismus an seine Grenzen stösst. Organisationen hängen mit Herrschaft zusammen, dennoch scheint es keine anarchistische Strömung1 zu geben, die wirklich glaubhaft machen kann, dass sie ohne jede Form der Organisation auskommt. Wir scheinen nur schwer oder gar nicht auf Organisationen verzichten zu können. Dies bringt uns zur Frage: Warum überhaupt Organisationen? Bis hierher haben wir Organisationen von einem negativen Standpunkt behandelt, was ihre Gefahren sind, was wir nicht von ihnen wollen. Aber was sollen sie leisten?

Öffentliche Güter

Eine der Begründungen, warum wir überhaupt Organisationen brauchen, ist, dass diese eine Möglichkeit darstellen öffentliche Güter, Güter die uns kollektiv betreffen, zu pflegen.

Wenn von öffentlichen Gütern die Rede ist, darf der Verweis auf das so genannte „Free Rider Problem“ nicht fehlen. Unter gewissen Umständen ergibt sich das Problem, dass die öffentlichen Güter zwar benützt und aufgebraucht, aber nicht zu ihrer Erhaltung beigetragen wird. Dies kann bis zur Zerstörung der öffentliche Güter führen.

Wichtig ist, dass es mehrere Bedingungen gibt, damit dieses Problem eintritt. Einige von diesen sind:

Eine opportunistische, in einem gewissen Sinne utilitaristische Handlungsorientierung der einzelnen Personen gegenüber den öffentlichen Güter.
Der Beitrag zur Erhaltung der öffentlichen Güter wird als unangenehm wahrgenommen.
Die öffentlichen Güter müssen überhaupt gepflegt werden.
Die Abwesenheit oder fehlende Durchsetzung von Normen, die dies verhindern.

Wenn von öffentliche Gütern die Rede ist, wird oft auf für die Produktion öffentliche Verkehrsmittel und andere Güter verwiesen, die durch Kommodifizierung gekoppelt mit Strafe gehandhabt werden. Für unseren Zweck interessanter sind aber ohnehin Beispiele direkt aus der heutigen anarchistischen Bewegung und Praxis heraus. So haben wir alle ein Interesse an einer möglichst nazifreien Umgebung, warten jedoch darauf, dass bitte die anderen die mühselige Antifa-Arbeit machen. Schon stehen wir vor einem Free-Rider-Problem, das sich in diesem Fall in einer erstarkenden Naziszene äussert. Ähnliches lässt sich vielleicht über Gewerkschaftsarbeit sagen. Soziale Kämpfe generell könnten als öffentliche Güter betrachtet werden!

Wie bereits gesagt sind Organisationen eine Möglichkeit die öffentlichen Güter zu erhalten. So kann sich eine Antifa-Gruppe gründen, die dann Mobilisierungsarbeit übernimmt, Wissen über die örtlichen Nazistrukturen sammelt, Hausbesuche macht und soweiter und sofort. Damit trägt sie doppelt zur Erhaltung der nazifreien Umgebung bei, einerseits direkt selbst, andererseits erleichtert sie anderen ebenfalls etwas beizutragen.

Allerdings ist eine Organisation eben wiederum selbst ein öffentliches Gut mit dem selben Problem! Wir wünschen uns ja eine aktive Antifa, die das Allgemeingut nazifreier Raum sichert, wir haben aber vielleicht selbst keine Lust uns in einer zu engagieren oder eine zu gründen. In der anarchistischen Bewegung ist es zwar noch nicht so weit, aber in der kapitalistischen Wirtschaft ist es nicht ungewöhnlich, dass es eine extra Organisation gibt, die sich um den Erhalt des öffentlichen Guts Organisation kümmern. Beratungs- und Anwerbeunternehmen können so verstanden werden.

Meines Erachtens sollten wir es uns nicht zu einfach machen und wenn soziale Kämpfe oder die Mobilisierung gegen Nazis nicht richtig laufen, uns darüber beschweren, dass die Organisationen versagt hätten. Dahinter steht ein fetischistisches Verständnis von Organisationen, die Schwierigkeit liegt vielmehr daran den Umgang mit den öffentlichen Güter so zu gestalten, dass diese möglichst gedeihen und erhalten bleiben. Organisationen sind eine Teil der Antwort hierauf, aber sicherlich nicht die ganze. Denn sie sind schlussendlich selbst öffentliche Güter.

Es mag vielleicht auf den ersten Blick absurd wirken, aber eine Methode um eine Erhaltung der öffentlichen Güter zu gewährleisten ist der Stirnersche Egoismus als Technologie des Selbst. Aus dem starken Ich heraus, soll eine Handlungsorientierung folgen, die uns unsere gemeinsamen Interessen wahrnehmen lässt. So zumindest die Theorie: „Wenn Ich Mich nicht um meine Sache bekümmere, so muss Ich mit dem vorlieb nehmen, was anderen Mir zu gewähren beliebt. Brot zu haben, ist meine Sache, mein Wunsch und Begehren, und doch überlässt man das den Bäckern, und hofft höchstens durch ihren Hader, ihr Rangablaufen, ihren Wetteifer, kurz ihre Konkurrenz einen Vorteil zu erlangen, auf welchen man bei den Zünftigen, die gänzlich und allein im Eigentum der Backgerechtigkeit sassen, nicht rechnen konnte. - Was jeder braucht, an dessen Herbeischaffung und Hervorbringung sollte sich auch jeder beteiligen; es ist seine Sache, sein Eigentum, nicht Eigentum des zünftigen oder konzessionierten Meisters.“ (Stirner 1981: 306)

Die Logik dahinter scheint mir folgende: Wir haben individuell ein Interesse an der Erhaltung der öffentlichen Güter. Das ist nicht zu leugnen, für Stirner ist es also Teil eines vernünftigen Egoismus, dass wir uns um die öffentlichen Güter kümmern. Vielleicht nicht direkt in dem Sinne, dass wir uns selbst der Sache annehmen, also in der Bäckerei mithelfen, aber zumindest, dass wir uns darum kümmern, dass sich jemensch um sie kümmert. Alles andere wäre aus einer egoistischen Perspektive unvernünftig. Ressourcenzusammenlegung der Massen

Eng mit der Begründung der Organisationen als öffentliches Gut ist die Vorstellung der Organisationen als eine Form von Ressourcenzusammenlegung verbunden. Wobei eine Ressourcenzusammlegung eher ein Common als ein öffentliches Gut ist, auf den genauen Unterschied kommt es aber in unserem Kontext nicht an. Hinter der Konzeption der Ressourcenzusammenlegung steht die einfache aber sehr einleuchtende Idee, dass eine Organisation ein guter Weg ist, die einzelnen Kräfte zu vereinen und damit schlussendlich mehr zu erreichen. In der Tat begründet auch Stirner seinen Verein als Zusammenlegung von Kräften (vgl. Stirner 1981: 349).

Eine besondere Variante dieser Argumentation stammt aus den Arbeitskämpfen und findet sich unter anderem bei Robert Michels. Er schreibt: „In der Tat ist der Einzelne, wenn er den arbeitenden Klassen angehört, der Willkür des ökonomisch Stärkeren hilflos preisgegeben. Nur indem die Proletarier sich zur Masse zusammenballen und ihrem Aggregat einer Struktur verleihen, erhalten sie politische Widerstandskraft und soziale Würde. Die Bedeutung und Grösse der Arbeiterschaft liegt lediglich in ihrer Zahl. Um eine Zahl darzustellen, ist aber Zusammenreihung, Ordnung, vonnöten. Das Prinzip der Organisation muss also als die conditio sine qua non der sozialen Kampfesführung der Massen betrachtet werden.“ (Michels 1911: 22)

Also noch einmal Punkt für Punkt aufgeschlüsselt sieht das Argument folgendermassen aus:

Die_der einzelne Unterdrückte ist schwächer als der_die einzelne Unterdrücker_in.
Zusammengefasst sind die Unterdrückten jedoch stärker.
Für diese Zusammenfassung der Kräfte ist eine Organisation notwendig. Dieser letzte Punkt ist es, den ich angreifen möchte.

Interessanterweise präsentiert Michels diese Logik als schlagendes Argument gegen die „Theorien der Individualanarchisten“ (Michels 1911: 22). Michels sieht jedoch die Gefahren einer solchen Organisation der Massen. Für ihn ist es es gewissermassen ein unlösbares Dilemma: Für den Kampf gegen die ökonomische Oligarchie braucht es eine starke Massenorganisation. Eine starke Massenorganisation bildet aber immer neue Oligarchien aus.

Mir stellt sich die Frage inwiefern der heutige anarchistische Anspruch ist, eine Massenorganisation für die Revolution aufzubauen. Womöglich reicht zur Bekämpfung von Herrschaft auch eine mehr oder weniger massenhafte soziale Bewegung. Teil einer solchen Bewegung könnten kleinere bis mittelgrosse anarchistische Organisationen sein, die aber von ihrer Grösse her weniger anfällig wären für Oligarchieausbildung. Vielleicht können wir auch auf diese Weise unsere Kräfte zusammenlegen. Dennoch ist der Punkt nicht unwichtig, denn es gibt immer noch Organisationen mit anarchistischem Selbstverständnis, die, wenn sie auch faktisch keine Massenorganisationen sind, dennoch den Anspruch haben eine solche zu werden. Zum Beispiel FAU und FAS, aber auch manche anarchistischen Föderationen. Diese Gruppen folgen auch immer noch oft der Argumentation Michels. Dann sollten sie sich aber auch mit dem Michelschen Dilemma auseinandersetzen. Der Verweis auf formal föderal-dezentrale Strukturen ist, wie ich bereits versucht habe zu zeigen, nicht ausreichend.

Tyrannei der Strukturlosigkeit

Es gibt ein weiteres, aus anarchistischer Sicht sehr gewichtiges Argument: Organisationen mögen zwar auf ihre Weise mit Herrschaft verbunden sein, informelle, nicht organisiertere Zusammenhänge sind dies jedoch auch. Aus einem feministischen Kontext, um genau zu sein von Jo Freeman, stammt das Konzept der „Tyranny of Structurlessness“, also der Tyrannei der Strukturlosigkeit. Dabei ist die Idee, dass eine wirkliche Strukturlosigkeit gar nicht möglich ist. Wenn wir die Strukturen nicht bewusst und mehr oder weniger formal bilden, entstehen sie sozusagen ohne unsere Zustimmung aus unseren Handlungen. Es bilden sich informelle Cliquen, die Jo Freeman so beschreibt: „Bei jedem Treffen einer kleinen Gruppe kann dir jeder, der ein scharfes Auge und gespitzte Ohren hat, sagen, wer wen beeinflusst. Mitglieder einer Gruppe von Freunden werden mehr aufeinander Bezug nehmen als auf andere Leute. Sie hören aufmerksamer zu und unterbrechen weniger; sie wiederholen gegenseitig ihre Kernpunkte und geben freundlich nach; sie ignorieren oder bekämpfen die 'outs' (Aussenstehenden), deren Billigung für eine Entscheidung nicht notwendig ist.“ (Freeman o. A.)

Die gegenseitige Bezugnahme und Unterstützung von Meinungen ist nur eine Möglichkeit, wie sich in informalen Gruppen Herrschaft ausbilden kann. Ein anderes ist der Zugriff auf Ressourcen. Wenn sich zum Beispiel immer eine Person um die Emails der Gruppe kümmert und nicht etwa nach einem formellen Prinzip rotiert wird, dann kann es passieren, dass nur diese Person das Passwort etc. weiss. Sie hat dann mehr Machtmittel in der Hand, sie kann Informationen zurückhalten. Womöglich leitet sie zuerst die Emails weiter, die ihr wichtig sind und kann schon damit den Schwerpunkt verschieben. Vielleicht spielt sie diese Karte gar nicht offensiv aus, aber sie hat sie auf jeden Fall in der Hand. Wenn diese Person dann droht die Gruppe wegen Unstimmigkeiten zu verlassen, hat dies gleich eine ganz andere Wirkung.

Die Trennung von Person und Position, wie sie kennzeichnend für Bürokratie ist, kann personalisierte Hierarchien abbauen. Wenn jede Person, die Formular XY ausfüllt, Anspruch auf Unterstützung hat und dies formal in einem Protokoll der Organisation festgehalten ist, ist es wesentlich schwieriger ihr dies zu verweigern, nur weil sie nicht zum persönlichen Freundeskreis gehört oder zum Freundeskreis von Personen gehört, die eine punktuell andere Meinung vertreten. Wenn Rotation im Programm festgeschrieben ist, muss eher ein gewichtiger Grund vorgelegt werden, damit einer Person ein Posten verweigert werden kann oder eine Person sich diesen quasi einverleibt. Wie vielleicht schon deutlich geworden ist, zielt dieses Argument eher auf den formalen Charakter von Organisationen ab und streicht ihn hervor. Hier wird mehr oder weniger die Verselbstständigung gegen die Oligarchiebildung ausgespielt.

Wenn wir Freemans Argument ernst nehmen, führt einfach kein anarchistischer Weg an einem Mindestmass in formalisierten Organisationen vorbei. Und im Gegensatz zu Alfredo Bonanno und einigen anderen insurrektionalistischen Anarchist_innen nehme ich es ernst.

Zum Abschluss möchte ich einen groben Vorschlag unterbreiten, wie wir uns organisieren sollten, in diesem Vorschlag möchte ich gewissermassen noch einmal die wichtigsten Punkte zusammenfassen. Vorneweg mein theoretisches Wissen und meine Erfahrungen reichen beide nicht, um einen solchen Vorschlag wirklich als genauen Plan zu erlauben. Vielmehr soll es sich um eine Grundlage für Diskussionen und Versuche handeln:

Unsere Organisationen sollten sich stärker als Erhalterinnen von öffentlichen Güter und auch selbst als öffentliche Güter begreifen. Wir müssen verstehen, dass die Organisation jede_n Einzelne_n kollektiv betrifft. Bezugsgruppen und ähnliche Organisationsformen sind geeignet für klandestine Aktivitäten und gegenseitigen Schutz bei gefährlichen Aktionen. Sie sind jedoch nicht die passende Form um ein öffentliches Gut, das über die Gruppe hinausgeht, als solches zu erhalten. Eine eingeschworene Clique von Freund_innen ist eine tolle Form um etwas zu erleben, aber nicht die geeignete Form um eine allgemeine Infrastruktur, die auch jenseits diese Gruppengrenze wichtig ist, zu bieten. Es sei noch einmal an das Problem der trennenden Grenzen erinnert. Das heisst der Zugang für Personen, die an diesen Gütern teilhaben, ist möglichst zu vereinfachen. Dies betrifft auch die Nachvollziehbarkeit und Mitbestimmung von Beschlüssen. Dies wäre ein Punkt, der sich für eine Formalisierung eignen würde. Allgemeine Ansprüche zu formalisieren ist dementsprechend sinnvoll, ob es sich nun um Wissen, Redezeit oder ähnliche Ressourcen handelt. Durch diese Formalisierung kann noch einmal die Position als öffentliches Gut betont werden. Ich sehe hier zudem beträchtliches Mobilisierungspotential. Wenn es gelingt, das Interesse welches jede_r Einzelne an der Organisation hat herauszustreichen, ist es hoffentlich leichter Solidarität und Unterstützung eventuell auch über die Grenzen einer Szene zu erhalten.

Formalisierung generell steht in der Spannung zwischen Möglichkeiten offen zu halten und sie durch Verselbständigung zu verschliessen. Dabei gibt es einen Zusammenhang mit der Grösse der Organisationen. Wenn sich alle Beteiligten untereinander kennen und quasi zusammenleben, in einem besetzten Haus etwa, lässt sich die Formalisierung auf den harten Kern von Ansprüchen reduzieren. In einem derartigen Fall wird vermutlich ohnehin eine Diskrepanz zwischen formaler und faktischer Struktur auftreten. Bei allzu grossen Organisationen jedoch droht die Formalisierung zur einzigen Kommunikationsweise zu werden und sich somit zu verselbständigen. Diesen Überlegungen zu Folge scheint sich Formalisierung besonders für Organisationen zu eigenen, die so gross sind, dass nicht alle Personen ständig in Kontakt miteinander stehen können, aber sich doch zumindest alle kennen.

Bei dieser Behandlung der Formalisierung sind Massenorganisationen schon gar nicht mehr vorgesehen. Angesichts der Argumente die gegen Massenorganisationen sprechen, sehe ich keinen Platz mehr für sie. Die Organisationen sollten eine gewisse Grösse nicht überschreiten. Wenn eine Organisation so gross ist, dass es nicht mehr möglich ist, dass alle an ihr Beteiligten in einem Kreis zusammensitzen und ein Thema ruhig bereden können, kann sie sich föderal-dezentral, das heisst in mehr oder weniger autonomen Subgruppen, organisieren. Ab einer gewissen Grösse scheint mir jedoch auch das zu wenig zu sein. Eine wirkliche Massenorganisation lässt sich auf Grund des Koordinationsbedarf selbst bei strengster Dezentralität nicht gänzlich hierarchiefrei gestalten. Ohnehin scheint der Zeitgeist nicht nach Massenorganisationen zu stehen.

Eine Entwicklung, die auch positiv interpretiert werden kann. Oft heisst es nur einen angesichts der heutigen Verhältnisse beinahe lächerlichen und insgesamt zweifelhaften Anspruch aufzugeben. Ein Haufen autonom aktiver Gruppen von kleiner bis mittlerer Grösse, die in unterschiedlichen Verhältnissen zueinander stehen und sich aufeinander beziehen, erlaubt eine wesentlich dynamischere Entwicklung für eine Bewegung. Um es auf eine Parole zu bringen: Massenbewegung statt Massenorganisation.

Tuli