Der Podcast-Sender 99:1 hat mit Renate Dillmann, Autorin von „China – ein Lehrstück“ dazu ein ausführliches Interview geführt. Hier die Print-Version.
Nadim (99:1): In der letzten Folge hatten wir uns intensiv mit Mao's China auseinandergesetzt. Wir machen jetzt einen relativen gewaltigen Zeitsprung ins Jahr 1978, in dem Deng Xiaoping quasi offen den endgültigen Bruch mit dem Sozialismus oder zumindest der Planwirtschaft vollzieht und eine Öffnung der chinesischen Märkte forciert. Wer war eigentlich Deng XiaopIng und kannst du nochmal in Erinnerung rufen, was seine Position in der Partei vor 1978 war und wie er zu Mao stand?
Renate Dillmann: So ganz offen war dieser Bruch nicht – jedenfalls fand er nicht statt als Verabschiedung des Sozialismus bzw. der Planwirtschaft. Es fand so etwas wie eine offizielle Selbstkritik an der Kulturrevolution statt, über die wir ja letztes Mal gesprochen haben. Schon vorher waren die letzten Vertreter dieser Linie, die sog. Viererbande, zu der auch Maos Witwe gehörte, entmachtet und verhaftet worden.
Die neue Linie für die Zukunft wurde als „sozialistische Modernisierung“ bezeichnet – daran kann man sehen, dass man eine neue Phase einläuten, aber gleichzeitig eben keinen Bruch mit der Vergangenheit ausrufen wollte. Zum Verhältnis dieser Reform zur weiter existierenden Planwirtschaft und dem westlichen Ausland kommen wir gleich; nur noch eine kleine Korrektur: du hast die „Öffnung der chinesischen Märkte“ angesprochen. Chinesische Märkte in unserem Sinn gab es zu diesem Zeitpunkt nicht – die waren erst ein Resultat dieser Reformen und liessen noch einige Jahre auf sich warten.
Jetzt ein paar Worte zu Deng Xiaoping: Er war als junger Student und Fabrikarbeiter in Frankreich zu den Kommunisten gestossen, studierte dann weiter an der Sun-Yatsen-Uni in Moskau, war Teilnehmer am „Langen Marsch“ und Kämpfer im Bürgerkrieg – also ein Mann der ersten Generation der Kommunistischen Partei in China.
Beim „Grossen Sprung“ – auch darüber haben wir beim letzten Mal gesprochen – hatte Deng angesichts der verheerenden Resultate zu den Kritikern gehört. In diese Zeit gehört sein berühmter Ausspruch: „Gegenwärtig kommt es vor allem darauf an, mehr Getreide zu produzieren. Solange die Erträge steigen, ist auch die private Initiative des einzelnen erlaubt (was sich vor allem gegen die riesigen Volkskommunen und ihre quasi mililtär-lagermässige Organisation richtete). Egal, ob schwarz oder weiss, Hauptsache die Katze fängt Mäuse.“
Daran wird ganz gut ersichtlich, dass Deng das Politisch-Idealistische der Mao-Kampagnen auf die Nerven gegangen ist. Zur Erinnerung: Mao hatte angesichts dessen, dass der jungen Volksrepublik so ziemlich alles an Technik und Produktionsmitteln gefehlt hat, versucht, diesen Mangel durch eine Mobilisierung der Massen auszugleichen. Heldenmütige Aufopferung für das revolutionäre China – das war seine Parole, sein Versuch. Deng Xiaoping stellte demgegenüber fest, dass diese Art von Kampagnen mehr Rückschläge verursachten als dass sie China wirklich nach vorne brachten – im Ziel, um das es gehen sollte, waren sich diese beiden also durchaus einig: ein Wiederaufstieg Chinas! Über die Schritte dahin aber nicht; da kritisierte Deng den Weg von Mao, der z.B. auch der Meinung war, dass „rot vor Fachwissen geht“, dass man also Fachleute durch eine brave kommunistische Gesinnung ersetzen könnte (das war ja unter anderem Inhalt der Kulturrevolution).
Nadim (99:1): Was war Dengs Linie oder die sogenannte “neue Linie”. Die KPCh hatte ja schon in den Jahrzehnten davor kontinuierlich mit systemischen Veränderungen experimentiert und relativ agil auf veränderte Umstände reagiert. Warum ist diese “neue Linie” tatsächlich als Bruch mit dem alten System zu verstehen?
Renate Dillmann: Nachdem Mao 1976 gestorben war, hat Deng eine Art Bilanz angeregt. Die Resultate waren ernüchternd: Die Ernährungssicherheit des Landes war nicht gewährleistet, obwohl mehrere hundert Millionen Chinesen in der Landwirtschaft hart arbeiteten; die Industrialisierung des Landes liess nach wie vor massiv zu wünschen übrig; die Menschen arbeiteten enorm viel und hatten wenig davon. Nun hätte man an dieser Stelle auch eine andere Kritik üben können – etwa in der Art, wie ich das beim letzten Mal versucht habe. Man hätte die Gleichsetzung von Kommunismus und Nation kritisieren können, die Unterwerfung der Arbeit und des Lebens der chinesischen Menschen unter ein national ehrgeiziges Aufbauprogramm, das Programm der moralischen Vereinnahmung mit ebenso blöden wie gewalttätigen Massenkampagnen.
Vielleicht gab es eine solche Kritik auch – sie konnte sich jedenfalls nicht durchsetzen. Die Selbstkritik der KP und die neue Linie sah anders aus. Deng hat die Schuld für die Misere an Maos Kampagnen und der „Viererbande“ festgemacht; er wollte künftig eine Ökonomie mit mehr Anreizen für individuelle Initiative, vor allem aber wollte er ausländisches Kapital, nachdem die Sowjetunion ihre Aufbauhilfe eingestellt hatte.
Das bisherige Argument gegen eine Öffnung zum Westen hielt er nicht mehr für nötig. China war zwar ökonomisch „rückständig“; aber das Land war politisch einigermassen geeint und hatte sich militärisch in mehreren Kriegen und Auseinandersetzungen behaupten können (im Korea-Krieg gegen die USA, in den Grenzkriegen mit Indien 1962 und der Sowjetunion 1969); seit 1964 besass die Volksrepublik die Atombombe, war seit 1971 Mitglied der UNO und hatte mit der Eröffnung diplomatischer Beziehungen zu den USA ein strategisches Gleichgewicht zur Sowjetunion geschaffen. Auf dieser Basis hielt Deng – und mit ihm ein Grossteil der KP – das Land für gewappnet, um mit dem Westen neue ökonomische Beziehungen einzugehen.
Das tat man allerdings durchaus im Bewusstsein der eigenen ökonomischen Schwäche. China hatte sehr genau beobachtet, was mit den Drittweltländern nach ihrer Entkolonialisierung und ihrem Eintritt in den freien Weltmarkt passiert war. Deren Schicksal hin zu verschuldeten Staaten wollte man keinesfalls teilen – deshalb nannte man das neue Programm „den Tiger reiten“, ging also mit gehöriger Skepsis und Vorsicht an die Sache heran.
Nadim (99:1): Die “neue Linie” hat weitreichende Konsequenzen in allen Aspekten der chinesischen Wirtschaft und Gesellschaft. Lass uns mal ein paar dieser Konsequenzen näher beleuchten:
- Die Privatisierung der Landwirtschaft stellt einen ersten Bruch dar. Zur Erinnerung: Kannst du uns noch einmal sagen, wie Landwirtschaft vorher organisiert war und was sich denn dann nun unter Deng verändert.
- China öffnet sich auch für den Import von ausländischem Kapital. Wie geht das vonstatten und wie konnte China den Ausverkauf von chinesischem Land und Produktionsmitteln an das Ausland verhindern?
- Was vielen heute gar nicht bewusst ist, ist der Fakt, dass in China unterschiedliche Unternehmensformen koexistieren. Es gibt nach wie vor die Staatseigenen Unternehmen, Kommunale oder Genossenschaftliche Unternehmen und natürlich die Privatunternehmen. All dies ist Konsequenz der Reformen nach 1978. Kannst du uns durch diese Entwicklung kurz durchführen?
- Was passiert nach 1978 mit den Banken in China und welche Rolle spielen Staatskredite, Privatkredite (aus dem Ausland) und Finanzspekulation in den folgenden Jahrzehnten.
Renate Dillmann: Allgemein hiess die neue Devise: Bereichert euch! Das, was vorher ausser Kraft gesetzt und ideologisch verpönt gewesen war – der private Egoismus, das persönliche Reichwerden – wurde jetzt wieder ins Recht gesetzt; aufkommende Bedenken innerhalb der KP, das sei doch ein Angriff auf den Sozialismus, wurden beschwichtigt mit dem Argument, es sei vorteilhaft, wenn einige „voran gingen“ und schneller reich würden, die anderen könnten dann nachziehen.
Jenseits der Ideologie: Was ist da ökonomisch passiert? Allgemein war das die Einführung von Konkurrenz in die chinesische Wirtschaft – was sehr verschiedene Konsequenzen für die einzelnen Gruppen von Menschen hatte. Bevor wir die durchgehen, noch eine Bemerkung: Diese Änderung im System wurde von oben, von der Parteiführung, durchgesetzt. Es gab vorher keinen öffentlichen Protest von unten, keine breit geäusserte Unzufriedenheit mit dem, was bisher galt. Es gab auch keine demokratische Abstimmung – deren Fehlen China ja sonst gerne vorgeworfen wird. In diesem Fall hört man alle diese Vorwürfe nicht, weil die „neue Linie“ dem Westen eben gepasst hat. Im Gegenteil – Deng Xiaoping, der sie parteiintern durchgesetzt hat, wurde vom Time Magazin zum „Mann des Jahres“ gekürt!
Nun zu den einzelnen Feldern, die du genannt hast:
1) Die Landwirtschaft war vorher ganz weitgehend kollektiv organisiert; es wurde in Form der Volkskommunen gewirtschaftet – was für die Bauernfamilien im Wesentlichen ein ärmliches Leben mit enorm viel Arbeit bedeutete, aber auch eine bis dahin nie gekannte Sicherheit gegen Hungerkatastrophen, Überschwemmungen, Hilfe bei Krankheiten und Tod einzelner Familienmitglieder. Nun wurden die kollektiven Zusammenhänge aufgelöst; den Familien wurden Felder zugeteilt und sie sollten/mussten auf eigene Rechnung wirtschaften (ob sie das wollten oder nicht, wurde nicht gefragt!).
Gleichzeitig achtete die Partei allerdings darauf, dass darüber die Ernährungssicherheit des ganzen Landes nicht in Frage gestellt wurde: Nach wie vor mussten die Bauern gewisse Grunderzeugnisse garantieren; erst darüber hinaus konnten sie über ihre Produktion frei entscheiden und sie vermarkten. Das Interessante an dieser Stelle: Gleichzeitig mit der Wieder-Einführung des privaten Wirtschaftens auf dem Land, wurden die Preise für die landwirtschaftlichen Erzeugnisse massiv erhöht, so dass das neue System sich für die Bauern zunächst einmal als sehr vorteilhaft darstellte.
Ob sie davon langfristig leben konnten, war eine andere Frage; viele stellten fest, dass das angesichts dessen, was sie jetzt ihrerseits auch kaufen mussten (Saatgut, Dünger, Werkzeuge, Transportmittel) nicht möglich war, selbst wenn der Staat einiges subventionierte. Sie gingen als sog. Wanderarbeiter in die Sonderwirtschaftszonen und Städte. Das Abwandern vom Land in die Städte war vorher nicht erlaubt gewesen; jetzt fand es statt in einer Art rechtlicher Grauzone.
Diese Bauernarbeiter sind seitdem die besonders billigen Arbeitskräfte, mit denen die Firmen der Sonderwirtschaftszonen ihren Profit erwirtschaftet haben; ihre Stellung als Arbeitskräfte blieb bis heute rechtlich prekär, weil sie in den Städten keinen anerkannten Wohnsitz haben: Sie sind erpressbar mit niedrigen Löhnen und langen Arbeitszeiten, sie hatten bis vor kurzem keinen Anspruch auf Gesundheitsversorgung, Rente etc. und sie werden von ihren Arbeitgebern oft auch noch um den Lohn geprellt. Das ist das üble Modell, mit dem die Unternehmen (unsere westlichen Unternehmen!) natürlich blendende Gewinne erzielen konnten und können – und übrigens: so ziemlich dasselbe läuft inzwischen in der EU mit den Wanderarbeitern, die aus Osteuropa in die erfolgreichen europäischen Ökonomien kommen (Schlachthöfe, Pflegepersonal, Bauarbeiter).
Die andere Seite dieser Geschichte war, dass besser gestellte Bauern das Land dieser wegwandernden Arbeiter gepachtet haben. Mit grösseren Flächen, mit Kapital-, Dünger- und Maschineneinsatz konnten sie dann rentabler wirtschaften. Die Zahl der Menschen, die in der chinesischen Landwirtschaft arbeiten, hat in den letzten Jahrzehnten stetig abgenommen – heute sind nur noch ca. ¼ der Bevölkerung Bauern.
2) Die Öffnung ihres Landes für westliches Kapital hat die chinesische KP in Form der Sonderwirtschaftszonen begonnen. Sie hat dafür einige Regionen ihres Landes an der Ostküste ausgewiesen (an der Ostküste deshalb, weil die Produkte exportiert werden sollten). Diese Unternehmungen waren also von vornherein für den Weltmarkt konzipiert; die innere Wirtschaft der Volksrepublik blieb zunächst davon unberührt – sie funktionierte weiter nach Plan (das ist wichtig, weil es deshalb keinen Zusammenbruch der Produktion und der Beziehungen zwischen den Unternehmen gab wie etwa in der Sowjetunion infolge der Gorbatschow-Reformen). Die westlichen Unternehmen mussten sich auf einige Bedingungen einlassen, wenn sie in China investieren wollten: a) sie mussten chinesische Partner akzeptieren, sog. „joint ventures“, die dafür sorgen sollten, dass langfristig auch chinesische Firmen weltmarktfähig wurden;
b) sie mussten einen Teil der Vorprodukte in China produzieren lassen (local content) – was ebenfalls dazu führte, dass konkurrenzfähige chinesische Kapitale entstanden sind;
c) sie mussten Technologietransfer nach einigen Jahren zugestehen;
d) finanzkapitalistische Investitionen waren nicht gestattet;
nur produktive Investitionen waren erlaubt – damit wollte chinesische Führung verhindern, dass das kapitalkräftige Ausland sich chinesische Unternehmen, Rohstoffe etc. unter den Nagel reissen konnte. Dass sich die westlichen Unternehmen auf diese für sie gewiss nicht berauschenden Bedingungen eingelassen haben (die international auch keineswegs üblich waren), liegt an der besonderen Qualität des Angebots, das China damals und in den folgenden Jahren immer mehr dargestellt hat: Das Land war soz. der letzte grosse weisse Fleck auf der Weltkarte des Kapitals; mehr als 1,3 Milliarden Menschen, endlos viele Billigarbeiter und vor allem potentielle Konsumenten – das war einfach unwiderstehlich attraktiv. Da musste nach allen gültigen Gesetzen der Konkurrenz einfach jeder dabei sein – insofern haben sich die westlichen Unternehmen und die Staaten an ihrem eigenen Interesse packen lassen: Gewinn zu erzielen. Sie selbst haben damit zu einem ganz einzigartigen Sonderfall der jüngeren Weltgeschichte beigetragen: Dem nämlich, dass ausländischer Kapitalimport zum Mittel des Aufstiegs für das Ziel-Land wird.
Ganz entgegen der gängigen Ideologie von den „Entwicklungsländern“, die beinhaltet, dass die souverän gewordenen Dritte-Welt-Staaten sich mit ihrem Einklinken in den Weltmarkt „entwickeln“ sollen und ihnen das westliche Kapital dabei hilft, dass sie eben so reich und mächtig werden wie die etablierten Staaten, führt dieser Weg im Normalfall ja zu negativen Handelsbilanzen, zum Ausverkauf der Rohstoffe bzw. wenigen Export-Produkte und zur massiven Verschuldung dieser Entwicklungsländer (wenn sie nicht gerade über Öl verfügen), und damit auch zu politischen Abhängigkeiten.
Dass das im Falle Chinas anders ausgegangen ist, dass China das einzige Entwicklungsland ist, das ökonomisch aufgeholt hat und den etablierten Grossmächten heute auch politisch auf Augenhöhe gegenübertritt, das haben die westlichen Staaten weder vorhergesehen noch gewollt; entsprechend wenig passt ihnen das Resultat.
Zusammengefasst: Dass die Öffnung für westliches Kapital ist zu einem Mittel Chinas geworden ist, ist ein Sonderfall der Geschichte. Die Gründe: Grösse des Landes und Zahl seiner Einwohner waren ein unabweisbares Argument für die westlichen Unternehmer, sich auf Sonder-Konditionen einzulassen; unbedingt dazu gehört auch der stoische Nationalismus der chinesischen KP, die darauf geachtet hat, dass diese Öffnung zum Mittel des nationalen Aufstiegs wird – und nicht nur zum Reichwerden einiger Oligarchen taugt. Wenn wir letztes Mal darüber gesprochen haben, wie schädlich sich der Nationalismus der KP für den Sozialismus in China ausgewirkt hat, sehen wir hier das Gegenteil: zum kapitalistischen Programm passt er ganz ausgezeichnet!
3) Als drittes hast du nach den chinesischen Unternehmen gefragt. Schauen wir uns zunächst diejenigen an, die bereits existierten: die staatseigenen Unternehmen. Auch für sie galt die neue Devise „bereichert euch“. Allerdings nur zum Teil. Sie wurden verpflichtet, den noch geltenden Plan weiter zu erfüllen – damit hat die Volksrepublik das Fortbestehen der wirtschaftlichen Zusammenhänge garantiert. Darüber hinaus durften sie frei experimentieren, produzieren, verkaufen. Die KP nannte das „aus dem Plan herauswachsen“. Gleichzeitig wurden private Unternehmungen erlaubt, die nach und nach auch immer mehr Arbeitskräfte beschäftigen durften. Auf dem Land und in den kleinen Städten bildeten sich alle möglichen Formen von Unternehmen, z.T. als kollektive oder genossenschaftliche Gründung ganzer Dörfer (hier kamen dann die während des „Grossen Sprungs“ gegründeten Produktionsstätten zum Zug!), z.T. von Provinzregierungen oder der Armee initiiert. Ein buntes Durcheinander, die als Formen bis heute nebeneinander existieren. Sie haben dann ähnlich wie die Bauern einen grossen Sortierungsprozess hinter sich gebracht: sie mussten sich an den jetzt entstehenden chinesischen Märkten oder als Anbieter auf dem Weltmarkt bewähren. Das konnten am ehesten diejenigen, die Zugang zu Kapital oder Ressourcen hatten – also diejenigen mit Verbindungen zu staatlichen Stellen, Banken oder der Armee.
An diesem Punkt liegt ein, vielleicht der Ursprung von dem, was als „Korruption“ bezeichnet wird. Ich sage absichtlich: „bezeichnet wird“, weil das damit angesprochene chinesische Phänomen etwas anderes ist als die bei uns übliche Korruption. Bei uns gibt es die im Wesentlichen, wenn private Firmen staatliche Entscheidungsträger zu ihren Gunsten beeinflussen; im China dieser Zeit, während der Transformation einer ehemals sozialistischen Wirtschaft zu einer kapitalistischen, handelt es sich aber um den Prozess, bei dem überhaupt so etwas wie „private Interessen“ aus einer vorher komplett staatlichen Ökonomie heraus entstehen. So etwas geht nur als vornehm gesagt „Umwidmung“ von vorherigem Staatseigentum, richtiger gesagt: als Aneignung, Diebstahl, d.h. dann Korruption.
4) Letzter Punkt: Die Banken. Sie blieben in staatlicher Regie; sie wurden vom Staat mit Mitteln ausgestattet und mit der Aufgabe betraut, vor allem den staatseigenen Unternehmen bei ihrem Umbau von vorher sozialistischen zu rentabel wirtschaftenden kapitalistischen Unternehmen Kredit zu geben. Vorher hatte der sozialistische Staat Kreditvergabe im Wesentlich vermieden, weil ihm das als spekulativ und krisenträchtig schien; nun begann er mit einer richtigen Kreditpolitik.
Die Kredite hatten dabei mehrere Aufgaben: Sie sollten verhindern, dass die staatseigenen Unternehmen scheitern, wenn sie nicht sofort Gewinn erwirtschaften. Ein Unterargument dabei: Die staatlichen Unternehmen waren bisher für eine ganze Reihe sozialer Aufgaben zuständig: vom Angebot von Kindergärten über Sanatorien bis zur Rente für ihre Arbeiter_innen. Das gehörte alles zum alten schlimmen Sozialismus… Auf den neuen Märkten waren die alten Unternehmen insofern schlechter gestellt als neu gegründete private Unternehmen, die all das nicht zu machen brauchten. Mit seinen Krediten unterstützte der chinesische Staat seine staatseigenen Unternehmen auch dabei, die Übergangszeit zu überstehen und die sozialpolitischen Verpflichtungen beizubehalten. Insgesamt waren die Chinesen bei der Unternehmensreform anders vorsichtig als wenig später die Sowjets. Sie hatten sehr wenig produzierende Industrie-Unternehmen und wollten auf alle Fälle verhindern, dass mit der „Transformation“ auch noch welche pleite gehen – im Gegenteil, die sollten ja besser in Schwung kommen.
Andererseits – das ist jetzt die 2. Funktion – gaben die Kredite den Unternehmen aber auch ein Mass an Gewinn vor, zwangen sie also ein Stück weit zum neuen Ziel wirtschaftlicher Rentabilität: Die Betriebe mussten künftig mindestens die Zinsen bedienen können (und zwar nicht, weil ein Funktionär das mit seinem Plan vorschreibt und was dann folgenlos bleibt, wenn der Gewinn nicht erreicht wird), sondern weil es quasi „objektiv“ so war, wenn sie wieder an Kredit kommen wollen.
Und die Kredite hatten noch eine dritte Aufgabe: Denn das neue alleinige Unternehmensziel Rentabilität führte bei vielen von ihnen zu der Strategie, die Kosten für Arbeitskräfte nach unten zu drücken und viele Arbeiter_innen als überflüssige loszuwerden. Das hatte im grossen China natürlich auch gleich grosse Dimensionen: an die 50 Millionen schickte man in dieser Zeit des Umbaus nach Hause. Diese Leute wurden freigestellt bzw. frühverrentet. Die Kredite an die staatseigenen Unternehmen waren insofern auch Kosten der Systemtransformation: Die kommunistische Partei sorgte auf diese Weise dafür, dass die anstehenden Entlassungen über einen grösseren Zeitraum gestreckt und sozial abgefedert wurden. Man könnte auch sagen: dieser Zynismus ist der Beginn des modernen chinesischen Sozialstaats. Erst stellt man die Weichen so, dass massenhaft soziale Notfälle anfallen; dann wird geholfen, damit die Sache nicht aus dem Ruder läuft.
Mit der Eröffnung von zwei Börsen in Shanghai und Shenzen erlaubte die chinesische KP dann auch erste Formen von Finanzspekulation, allerdings relativ scharf beschränkt auf chinesische Anleger. Auf diese Art und Weise sollten chinesische Unternehmen Gelder für sich einsammeln können jenseits der staatlichen Banken, was auch ziemlich gut anlief. Die Chinesen sind ein ziemliches Volk von Zockern und diese Börsen waren in den ersten Jahren insofern tatsächlich so etwas wie „Volksbörsen“, an denen wirklich kleine Leute wirklich kleine Summen investierten – was in der Masse dann durchaus viel ist. Und was, wenn es schief geht (und das muss es in einer Konkurrenz immer bei einigen), die kleinen Leute natürlich wirklich viel kostet!
Nadim (99:1): Was für Widersprüche bringt dieses „kapitalistische Experiment“ mit sich?
Renate Dillmann: Wir haben ja gerade schon gesehen, dass ab 1984 eine Menge chinesischer Arbeiter aus den Staatsbetrieben entlassen wurden – und das waren die Leute, für die die „sozialistischen Errungenschaften“ am weitesten voran gekommen waren und um die sich vorher ideologisch vieles gedreht hatte, eben Leute aus dem Kern der städtischen Arbeiterklasse. Allgemein hatten viele städtische Bewohner ein Problem mit ihrer Versorgung, weil das alte System staatlicher Preisbewirtschaftung nach und nach ausgegeben wurde und die Preise „stiegen“, wie das so ihre Art ist. Trotz der Bemühungen der KP – es gab weiter Zuschüsse für die wichtigsten Lebensmittel – kam es in der Folge zu Unzufriedenheit. Es gab Proteste in den Städten; es wurden Gewerkschaften neben der Staatsgewerkschaft gegründet – was die Führung sehr beunruhigte.
Die Ausweisung der Sonderwirtschaftszonen, in die viel staatliche Mittel zur Infrastrukturförderung etc. flossen, um das ausländische Kapital anzulocken, verärgerte die übrigen Provinzen, denen Entwicklungsmittel gestrichen wurden. Die Provinzen fingen an, ebenfalls auf „Bereicherung“ zu setzen – und zwar gegeneinander; sie förderten Unternehmen bei sich, fingen teilweise an, Zölle gegen Einfuhren aus anderen Provinzen zu erheben und ähnliches. Das hätte der Beginn separatistischer Bürgerkriege sein können.
Ein weiterer Punkt: Unternehmen, auch staatseigene, und Provinzen nahmen die neuen Freiheiten so wahr, dass sie Auslandsimporte in Auftrag gaben. Das hatte die Führung auch gewollt, weil sie ja auf ausländische Technologie setzen wollte; dafür hatte sie ihr Aussenhandelsmonopol gelockert. Die Resultate waren dann allerdings enorme Handelsdefizite (1985 über 15 Milliarden Dollar – das war das grösste in der Geschichte der Volksrepublik) und ein Ansteigen der chinesischen Auslandsverschuldung, die die chinesische Führung ja eigentlich unbedingt vermeiden wollte (1987 über 50 Milliarden Dollar).
Die Unternehmensgründungen dieser Zeit wie die eben erörterte Unternehmens-transformation basierten auf Krediten; in der Folge kam es zu einer gehörigen Inflation, 1988 wurde sie offiziell mit 18,5% angegeben. Die Lebensmittelpreise stiegen dabei sogar um 50%.
Nicht zuletzt: Das Ansehen der Partei hatte bei vielen ihrer Anhänger gelitten – insbesondere durch die weit verbreitete Korruption (wir haben uns ja eben gerade klar gemacht, dass das eine Notwendigkeit der „Systemtransformation“ war – entsprechend flächendeckend gab es sie).
Man kann das ganze Sammelsurium so zusammenfassen: Die kommunistische Staatsführung hatte mit ihrer „neuen Linie“ bei aller Vorsicht, zu der sie sich selbst dauernd ermahnt hat, einiges an Gegensätzen in ihrer Gesellschaft losgetreten. Das ist auch gar nicht anders vorstellbar, wenn man die Konkurrenz privater Interessen zum Hebel für eine Beschleunigung des Wachstums machen will. Es kam zu einer ganzen Menge kontraproduktiver, ja zerstörerischer Konsequenzen und die Partei musste ständig Erwünschtes von Missliebigem trennen – was sachlich gar nicht so ohne weiteres möglich war.
1989 haben dann Studenten auf dem Tiananmen-Platz in Peking, quasi vor dem Mao-Mausoleum, protestiert. Sie verlangten diverse Reformen, vor allem aber wollten sie, dass die ökonomische Wendung der Volksrepublik durch eine politische ergänzt würde: mehr Freiheiten, mehr Demokratie. Das hatte die KP allerdings klar und kategorisch ausgeschlossen; gerade Deng Xiaoping hatte klargestellt, dass in einer Zeit des Umbruchs das Heft des Handelns klar bei seiner Partei bleiben müsse und dem Ausland keine Hebel für Einflussnahme gegeben werden sollten. Nach einer Zeit der Verhandlungen liess die KP die studentischen Proteste gewaltsam auflösen – ein im kollektiven Bewusstsein der Chinesen unerhörter Vorgang, weil sich die Volksbefreiungsarmee damit erstmals gegen das Volk gestellt hatte.
Wir können hier nicht näher darauf eingehen, was die Studenten genau gefordert hatten, wie die KP mit ihnen verhandelt hatte und warum die politische Führung sich am Ende für dieses harte Vorgehen entschieden hat, aber in meinem Buch habe ich das alles genauer untersucht. Eines erscheint mir jedenfalls klar: Vieles von den jedes Jahr am 4. Juni vorgetragenen westlichen Vorwürfen stimmt nicht – weder was die Zahlen noch was den Verlauf angeht; umgekehrt ist es bei dieser Aktion auch keineswegs nur um die Studenten gegangen. Die politische Führung hat damals auch die freien Gewerkschaften zerschlagen (das bleibt im Westen bspw. weitgehend unerwähnt) und in der Folge viele der eben erwähnten Widersprüche unterbunden; mit einem klaren Zweck: die eingeschlagene Linie Richtung kapitalistischer Wirtschaft und Öffnung zum Weltmarkt sollte weitergehen.
Insofern: die westlichen Medien sind bis heute jedes Jahr voll von Entsetzen gegenüber dem „Tiananmen-Massaker“ (als hätte es diese Art von Kämpfen mit dem entsprechenden staatlichen Zuschlagen in ihren Staaten nicht zuhauf gegeben), die westlichen Unternehmen und ihre Staaten aber haben die Sache extrem schnell ad acta gelegt, sind zur Tagesordnung übergegangen und haben in den nächsten Jahrzehnten praktisch ungemein davon profitiert, dass China für politische Stabilität gesorgt hat.
Nadim (99:1): Du sprichst in deinem Buch von einem andauernden Prozess der Geburt der Klassengesellschaft, mit einer neuen Kapitalistenklasse auf der einen Seite und neuen freien Lohnarbeitern auf der anderen Seite. Was sind hier die Kernpunkte für dich, um zu verstehen, wie die chinesische Gesellschaft sich nach 1978 entwickelt.
Renate Dillmann: Grob gesagt bedeutet die „neue Linie“, die unter Deng Xiaoping eingeführt wurde, die Auflösung der alten egalitären Gesellschaft, die das sozialistische China kennzeichnet. Sicher hatte es auch während der sozialistischen Etappe in China soziale Unterschiede gegeben; vor allem zwischen Stadt und Land (dass es den Bauern verboten war, in die Städte abzuwandern, ist ein deutliches Zeichen dafür, dass das Leben auf dem Land härter und ärmer war), und mit Sicherheit auch in der kommunistischen Partei, wo höhere Posten Privilegien mit sich brachten.
Mit der Einführung der kapitalistischen Konkurrenz ging dagegen die Entstehung neuer Klassen einher – das ist etwas durchaus anderes als diese Art „sozialer Unterschiede“. Was ist mit Klassen gemeint? Das sind ökonomische Kollektive, deren Interessen diametral (Marx hat gesagt: antagonistisch) entgegengesetzt sind. In einer kapitalistischen Klassengesellschaft beruht der Reichtum der Kapitalisten auf der Armut, sprich: der Erpressbarkeit und daraus folgend der Ausbeutung der Arbeiter; das, was die Arbeiter an Reichtum schaffen, gehört nach dem Recht des Eigentums nicht ihnen; sie selbst bleiben von ihm ausgeschlossen, also arm – und sie sind um so ärmer, je mehr Reichtum sie für die andere Klasse produzieren. Das ist der qualitative Zusammenhang zwischen diesen Einkommensquellen; etwas ganz anderes also, als die quantitativen Unterschiede (die man irgendwie versöhnen oder ausgleichen könnte), die die Sozialwissenschaft kennt und per empirischer Sozialforschung misst.
Zurück zu China: Was ist in dieser Frage passiert? Die Bauern und Arbeiter verloren durch die Reformen nach und nach ihre bis dahin ärmlichen, aber sicheren Lebensverhältnisse – die berühmte „eiserne Reisschüssel“, die in typisch chinesischer Anschaulichkeit deutlich macht, auf was man sich verlassen konnte. Unter den neuen Verhältnissen sind die fast 1,3 Milliarden Chinesen selbst für ihren Lebensunterhalt zuständig. Sie müssen ihn in Konkurrenz zu anderen verdienen – ob sie das wollen oder nicht, ob sie dafür die Mittel haben oder nicht. Diese Frage wollte der sozialistische Staat nicht dem Auf und Ab der Märkte überlassen oder an die private Bereicherung von Unternehmern knüpfen – das erschien ihm verheerend für das Schicksal der Massen. Er hatte die Wirtschaft deshalb selbst organisiert und jedem ein Recht auf Arbeit und damit Existenz zugesichert. Das hat ihn am allermeisten unterschieden vom kapitalistischen Wirtschaften. Und eben dieser Unterschied wurde jetzt aufgegeben, wie gesagt, ob die davon Betroffenen das wollten oder nicht. Man könnte auch zugespitzt sagen: die Chinesen sind von ihrer Kommunistischen Partei zur Freiheit gezwungen worden!
Welches Schicksal sie dann erwartet hat, welchen Lohn sie bekommen, wie lange und wie hart sie arbeiten müssen, wie sie sich gegen andere durchboxen – das sind seitdem die Fragen, die sich für sie auftun. In diesem Sinne ist „das Leben“ in dieser kapitalistischen Konkurrenz für sie wieder der Kampf geworden, der auch sonst auf der ganzen Welt üblich ist. Soviel zu der einen Seite, denjenigen, die nicht über nennenswerte Mittel verfügen.
Die andere Seite, die neuen Eigentümer oder die neuen Reichen, kommen im Wesentlichen darüber zustande, dass Leute sich in der Zeit des Übergangs, der Zeit der sog. Transformation, Teile des alten Volkseigentums aneignen können oder Zugriff auf irgendwelche Ressourcen (Betriebe, Land, Kredite, Transportmittel) haben, mit denen sie gewinnbringende Aktionen starten können. Das ist erstens notwendig eine rechtliche Grauzone; zweitens ist klar, dass das vor allem Leute sind, die an irgendwelchen Schalthebeln der Macht sassen, Parteifunktionäre, Militärs, Bürgermeister, Provinzführungen etc. Insofern kein Wunder, dass die neuen Reichen aus diesen Reihen kommen – eine Tatsache, die die westlichen Medien den chinesischen Kommunisten ja gerne unter die Nase reiben.
Bei dieser Kritik wird sich übrigens nicht darüber aufgeregt, dass es wieder Reiche gibt (früher hatte man das maoistische „egalitäre“ China ja auch ganz schrecklich gefunden, all diese gleich aussehenden „Ameisen“); es wird sich auch nicht darüber aufgeregt, dass die ihren Reichtum darüber beziehen, dass sie andere erpressen und ausbeuten, sondern skandalisiert wird, wer zu diesen Reichen gehört und wie er in diese Position gekommen ist.
Insgesamt ist dieser Prozess ein Beispiel für die von Marx im „Kapital“ so genannte „ursprüngliche Akkumulation“: Enteignung der grossen Masse auf der einen Seite und Aufhäufung von privaten Geldvermögen auf der anderen Seite. Und wir sind Zeitzeugen dieses Prozesses, der bei uns schon so lange zurückliegt, dass seine Resultate uns als etwas quasi natürliches vorkommen.
Nadim (99:1): Auch die Rolle des chinesischen Staates verändert sich fundamental. Du gehst in deinem Buch sehr ins Detail, wie sich ein neues System der Rechtsstaatlichkeit entwickelt und auch, wie sich ein funktionierendes kapitalistisches System entwickelt, was so gar nicht in die Konzepte der westlichen Demokratie-Freunde passt. Ohne zu sehr ins Detail zu gehen, was sind für dich die wichtigsten Punkte um die Funktion des chinesischen Staates und sein Verhältnis zum Volk zu verstehen?
Renate Dillmann: Als erstes ist klar, dass die neue Ökonomie, die die chinesische Führung eingeführt hat, einiges braucht, was in der alten sozialistischen Art der Wirtschaft schlicht nicht existiert hat, weil es nicht nötig war. Das sind beispielsweise Garantien für die ausländischen Investoren ebenso wie für die neuen chinesischen Privat-Eigentümer: Garantien für ihr Eigentum (auch ein Erbrecht); Garantien dafür, dass sie ihre Gewinne zurück transferieren können, wenn sie das wollen etc. Es braucht Regelungen für die Ansprüche der neuen, privaten Eigentümer gegeneinander, z.B: ein Konkurs-Recht, eine Regelung von Schadensersatzansprüchen. Es braucht rechtliche Regelungen für den Umgang mit Grund und Boden (der ja komplett in staatlicher bzw. kommunaler Hand war). Es würde zu weit führen, das im Einzelnen durchzugehen, aber ich denke, es ist klar, was gemeint ist. Für die Bedürfnisse der neuen Wirtschaftssubjekte braucht es einen ganzen Haufen rechtlicher Regelungen – man sieht daran, wie wenig die Behauptung stimmt, dass ein auf Egoismus gründendes Wirtschaftssystem so einfach der Natur des Menschen entspringt: Es ist sehr viel staatliche Regelung und Sanktionsgewalt nötig, damit dieses System nachhaltig existieren kann. In China wird jedenfalls seitdem heftig am Aufbau eines Rechtsstaats gearbeitet und die westlichen Staaten konkurrieren darum, wer den Chinesen sein Rechtssystem (deutsches gegen angelsächsisches Recht) schmackhaft machen kann, denn es hat für ihre Unternehmen natürlich Vorteile, wenn in einem so grossen Wirtschaftsraum nach einem ihnen vertrauten Rechtssystem gehandelt wird.
Wir haben eben schon kurz über die Frage der Demokratie in China gesprochen.
Allgemein kann man sagen, dass Demokratie die für eine kapitalistische Gesellschaft angemessene Herrschaftsform ist. Warum? Weil so die verschiedenen und zum Teil gegensätzlichen Interessen der Gesellschaft bei der Definition des Allgemeinwohls konkurrieren dürfen. Mit der Etablierung einer Opposition wird gleichzeitig der notwendigerweise aufkommenden Unzufriedenheit eine Stimme verliehen und diese Unzufriedenheit wird auf eine staats-konstruktive Alternative verpflichtet, wenn sie ins Parlament bzw. die Regierung will. Das ist eine ziemlich produktive und effektive Art des Regierens.
Sie setzt allerdings einiges voraus. Erstens, dass alle wirklich abweichenden Interessen vernichtet, bzw. klein und bedeutungslos gemacht worden sind – das betrifft vor allem separatistische oder ernsthaft sozialistische Bewegungen. Zweitens, dass die kapitalistische Konkurrenz vom Standpunkt der Nation aus einigermassen erfolgreich verläuft – ansonsten wird per Diktatur oder Faschismus versucht, das gewaltsam zu verbessern, indem innere und äussere Feinde bekriegt werden. Und drittens setzt gelingende Demokratie voraus, dass die Menschen im Staat ein einigermassen brauchbares Mittel dafür sehen, dass sie zumindest existieren bzw. um ihre Existenz kämpfen können.
Man kann sich auf Basis dieser Überlegungen vielleicht ausrechnen, dass es für einen Staat, der sich einen regelrechten Systemumbau auf die Tagesordnung setzt wie die Volksrepublik, allerhand Argumente dafür gibt, warum er keine Demokratie nach westlichem Vorbild einführt. Immerhin ist das, was wir oben als „ursprüngliche Akkumulation“ gekennzeichnet haben, der Sache nach eine ziemlich gewaltsame Angelegenheit. Überall werden gesellschaftliche Gegensätze der härteren Art aufgeworfen. Beispiele: Bauern müssen gezwungen werden, die Enteignung des ihnen vorher zugesprochenen Landes zugunsten von Gewerbeflächen anzuerkennen; Anwohner müssen die Existenz einer giftigen Chemie-Fabrik und die für deren Rentabilität notwendige Verseuchung der Flüsse akzeptieren usw. usf. (es ist eben nicht so, dass die staatliche „Unterdrückung“ in China vorwiegend bei den Künstlern und Journalisten zuschlägt – wie es sich Presse und auch Linke oft vorstellen).
Das ist auch der Grund dafür, dass der Einsatz staatlicher Gewalt gegenüber dem Volk im Zuge der flächendeckenden Ausbreitung marktwirtschaftlicher Prinzipien nicht geringer geworden ist, sondern ganz im Gegenteil stetig zugenommen hat – ein Zusammenhang, den die Freunde der Marktwirtschaft nie so gern erkennen wollen: Wie notwendig Gewalt zu dieser Produktionsweise gehört, in der um Eigentum konkurriert wird! Wenn westliche Stimmen bedauern, dass in China „trotz wirtschaftlicher Öffnung keine politische Liberalisierung“ zu verzeichnen sei, würden chinesische Politiker insofern antworten, dass das gerade wegen der wirtschaftlichen Öffnung und ihren Risiken innen wie aussen nicht sein könne.
Fazit
Nadim (99:1): Was könnte man aus der Analyse der sozialistischen Geschichte und kapitalistischen Gegenwart Chinas lernen?Renate Dillmann: Der erste chinesische Sozialismus war mit Sicherheit noch nicht das Gelbe vom Ei. Natürlich ist es sehr unglücklich, dass die beiden grossen sozialistischen Revolutionen, in Russland wie in China, in Ländern mit extrem schwach entwickelten Industrien stattgefunden haben. Und natürlich haben es beide Länder mit einer imperialistischen Feindschaftserklärung erster Güteordnung zu tun gekriegt, die ihren Aufbau massgeblich beeinflusst hat und insbesondere die Sowjetunion im 2. Weltkrieg wie im Kalten Krieg einen riesigen Teil ihrer Mittel gekostet hat – neben den vielen Millionen Kriegstoten. Insofern werden wir nie sagen können, wie sich diese ersten sozialistischen Versuche ohne diese Hindernisse, sozusagen frei, entwickelt hätten.
Aber von ihrer inneren Logik her waren die Sowjetunion wie China mit einigen systematischen Fehlern behaftet. Vor allem dem, dass sie den Kapitalismus gar nicht so grundsätzlich überwunden haben, wie es nötig gewesen wäre. Sie haben die privaten Eigentümer abgeschafft, in ihrer Planung allerdings ansonsten vieles aus dieser Produktionsweise reproduziert und sich damit viele Widersprüche eingeheimst. Und sie haben sich nicht nur gezwungenermassen auf der militärischen Ebene, sondern auch freiwillig in einen Systemvergleich zum kapitalistischen Westen begeben und wollten auf allen Ebenen – ideologisch, sportlich, kulturell – die besseren sein, statt deutlich zu sagen, dass eine sozialistische Gesellschaft ihr eigenes Ding macht und mit diesem Schwachsinn nichts zu tun haben will.
Verloren haben sie diesen Systemwettbewerb jedenfalls beim Ausbeuten ihrer Völker und bei der Aufrüstung – da war der Westen einfach besser. Das hat ihre Führungen letztlich dazu gebracht, den Sozialismus zu verwerfen – weil sie ihn im Vergleich mit den kapitalistischen Nationen nicht effektiv genug fanden. Und da kann man in der Tat festhalten: Die Einführung des Kapitalismus in China war vom Standpunkt der chinesischen Nation aus ein grosser Schritt nach vorn: China ist ökonomisch am Weltmarkt extrem erfolgreich und inzwischen zur Weltmacht aufgestiegen (wie und mit welchen Konsequenzen, das wird uns beim nächsten Mal beschäftigen). Was Kapitalismus für die meisten Chinesen heisst, ist eine ganz andere Frage.
Nadim (99:1): Eines der Kernargumente sowohl Maos, der KP unter Deng als auch Stalins und der Sowjetunion war, dass staatskapitalistische Marktwirtschaft unabdinglich sei, um die “Produktivkräfte” der Gesellschaft zu entwickeln, es sich also um eine Übergangsform handle mit dem Ziel, danach zum Sozialismus zu gelangen. Dies war eine Sicht, die Marx auch in einigen Briefen an russische Revolutionäre immer wieder zum Ausdruck brachte, wenn auch in seinem späteren Leben relativierte. Die chinesische KP sieht sich ja auch heute noch, zumindest nominal, dem Sozialismus verpflichtet. Sie gesteht zwar ein, dass die klassenlose, kommunistische Gesellschaft zurzeit und auch in den nächsten Jahrzehnten noch nicht erreicht werden kann, da die Entwicklung der Produktivkräfte noch nicht abgeschlossen sei; als langfristiges Ziel erklärt sie es trotzdem. Wie sehr kann man dieses Argument für bare Münze nehmen?
Renate Dillmann: Nehmen wir für einen Moment an, diese staatliche Selbstdarstellung sei wahr.
Dann sähe die Geschichte der letzten vier Jahrzehnte ungefähr so aus:
Die ungemein harten Arbeitsbedingungen in den Fabriken und an den Baustellen, die Lebensmittelskandale chinesischer Unternehmen, die offenbar beschleunigt „reich“ werden wollten und dafür die Vergiftung ihrer kleinen und grossen Mitbürger in Kauf genommen haben; die gewaltsamen Enteignungen chinesischer Bauern durch lokale Behörden, die Gewerbegebiete ausweisen wollten; die Zerstörung von Luft, Land und Flüssen als Mittel einer profitablen Produktion – all das wäre die etwas „dornige“ Art und Weise, mit der letztlich die Entwicklung der chinesischen Produktivkräfte als Voraussetzung des Sozialismus erreicht werden soll. Dann könnte man heute feststellen, dass das geschafft ist! Chinesische Arbeiter_innen hätten sich lange genug abgeschuftet im Dienst an der Produktion billiger T-Shirts und teurer I-Phones. Sie hätten ihrem Land damit die erwünschten Mittel und Produktivkräfte verschafft und könnten ab jetzt die süssen Früchte dieser harten Jahre geniessen ...
Die chinesische Führung selbst dementiert diese Vorstellung allerdings ganz deutlich. Gegen das eventuelle Missverständnis, dass sie den Weg zur ersehnten „sozialistischen Gesellschaft“ in etwa so gemeint habe – einige Jahrzehnte harter Arbeit und danach endlich sichere, auskömmliche und behagliche Lebensverhältnisse für alle –, hat sie regelrecht programmatisch ihre nächste mittel- und langfristige Zielbestimmung gesetzt: „Der chinesische Staatsrat kündigte im Mai 2015 ,Made in China 2025' als nationale Initiative zur Verbesserung der verarbeitenden Industrie an. Das letztendliche Ziel ist die Umwandlung Chinas in eine weltweit führende Produktionsmacht.“
Weltweit führende Produktionsmacht zu werden – das ist das Ziel, das Chinas Kommunisten sich selbst setzen. Das nimmt an etwas anderem Mass als an einer guten Versorgung und einem angenehmen Leben der eigenen Bevölkerung. Weniger Arbeit, weniger Stress, mehr Lebenssicherheit und mehr Genuss werden nicht angekündigt. Dauernde Sorgen um den Arbeitsplatz und das nötige Geld, um die Gesundheit angesichts der Belastungen an Arbeitsplätzen und im sonstigen Leben mit Lärm, Luftverschmutzung und schädlichen Lebensmitteln gehören auch im heutigen China einfach dazu – ein qualitativer Unterschied zum Leben in den westlichen kapitalistischen Staaten ist nicht zu erkennen. Die regierungs-offizielle Zielvorgabe in dieser Frage sieht vor, dass das Volk sich an Arbeitsplätzen aller Art, ein Leben lang um „bescheidenen Wohlstand“ mühen darf (Original-Ton der KP). Angesichts dessen, wie es im Rest der Welt aussieht, hat das in der Tat schon fast den Charakter einer Verheissung. Aber eben auch nur angesichts dessen und vergleichsweise.
Nadim (99:1): Viele Linke stecken ja grosse Hoffnung in China. Es gibt Gruppen die glauben, dass China der Ausgangspunkt für einen neuen, weltweiten Kommunismus sein wird. Wie sehr sprechen Chinas “Erfolge”, was die Beseitigung von Armut, das immense Wachstum der letzten 20 Jahre und die erfolgreiche Behauptung auf dem Weltmarkt angeht, dafür, dass China vielleicht doch “Recht” hatte und sich eventuell tatsächlich auf dem Weg zum Kommunismus befindet.
Renate Dillmann: Eigentlich habe ich ja gerade schon deutlich gemacht, dass ich von Sozialismus oder einem Weg dorthin weit und breit nichts sehe in China. Weil das aber doch eine relativ weit verbreitete Vorstellung ist und auch von einigen China-Autoren vertreten wird, die (dankenswerterweise) gegen das Feindbild China argumentieren, will ich noch einmal etwas weiter ausholen.
Stichwort Armutsbekämpfung: Es gibt viel Armut in der Welt und China hat in der Tat die diesbezüglichen Statistiken der UNO fast als einziger Staat ins Positive gewendet. China ist das Land, das die grössten Erfolge in der Armutsbekämpfung zu verzeichnen hat. Dabei geht es um absolute Armut. Absolute Armut gibt es im Rest der Welt vor allem deswegen, weil alle Staaten kapitalistisch wirtschaften, das Kapital die grosse Mehrheit der Bevölkerungen vor allem der Drittweltländer für seine Akkumulation, seine Gewinnwirtschaft, einfach nicht braucht. Einige Milliarden Menschen sind dafür mehr oder weniger überflüssig – sie leben in absoluter Armut und gelten vom Standpunkt westlicher Kapitalvermehrung aus schlicht als „Überbevölkerung“.
Wir haben heute betrachtet, wie China den Übergang seines Landes zu einer kapitalistischen Wirtschaft hingekriegt hat. Seine Führung ist momentan damit befasst, diesen (aus ihrer Sicht) erfolgreichen Zustand auf das ganze Land, die gesamte chinesische Bevölkerung auszudehnen. Dafür tut sie viel, baut Infrastruktur in den bisher unentwickelten Landesteilen, richtet auch dort für's Kapital vorteilhafte Bedingungen ein. Im Unterschied zu westlichen Staaten, insbesondere den USA, die sich nicht viel darum scheren, wenn es in ihren hochentwickelten Staaten auch viel Verfall und Verwahrlosung grosser Städte und ganzer Regionen gibt, steht die Volksrepublik auf dem Standpunkt, wirklich ihr gesamtes grosses Territorium und ihre gesamte Bevölkerung „in Wert zu setzen“. Insofern ist die erfolgreiche Armutsbekämpfung in China alles andere als ein Beweis dagegen, dass China kapitalistisch wirtschaftet. Es ist eher ein Ausdruck davon, wie zielstrebig und organisiert sich China bemüht, sein gesamtes Land für kapitalistische Reichtumsvermehrung herzurichten.
Warum gibt es aber im Falle Chinas immer wieder diese Frage, ob das Land nicht doch sozialistisch ist? Dafür gibt es m.E. nach zwei Anhaltspunkte und einen Grund:
Der erste Anhaltspunkt ist ganz banal: Die Führung des Landes hält fest an den überkommenen Bezeichnungen: sozialistische Volksrepublik, kommunistische Partei. Sie behauptet damit ideologisch, in ihrer Selbstdarstellung, eine Kontinuität seit Gründung der Volksrepublik – und sie hat sich, neue Linie hin oder her – auch nicht distanziert von Mao Zedong und seinen Kampagnen. Nach innen hat das den Vorteil, dass die alten KP-Genossen alle mitgenommen wurden in die neue, kapitalistische Realität (ich erinnere an unseren Anfang heute: die Bezeichnung des Systemwechsels als „Modernisierung“). Nach aussen zeigt man damit gewissermassen selbstbewusst und trotzig, dass man sich von seinem eigenen Weg nicht durch eine Verbeugung vor den westlichen Werten abbringen lässt.
Der zweite Anhaltspunkt ist das nach wie vor grosse Eingreifen des Staats in die Wirtschaft. Nach wie vor ist der chinesische Staat Mit- bzw. Eigentümer vieler grosser Unternehmen; nach wie vor gibt es kein privates Grundeigentum, aber staatlichen Banken sowie staatliche Direktiven für Kreditvergabe, Unternehmenszusammenschlüsse, ausländische Kapitalanlangen usw.
Nun ist das auch in den westlichen Staaten nicht gerade unbekannt: In allen Phasen kapitalistischen Wirtschaftens haben die Staaten so etwas gemacht, wenn sie es für nötig hielten, um Konkurrenzfähigkeit der nationalen Ökonomie herzustellen. Im Westen sind allerdings viele, gerade die erfolgreichen Staaten, zwischenzeitlich dazu übergegangen, diese staatlich bewirtschafteten Unternehmen bzw. Branchen zu privatisieren, um auch sie zum Mittel privater Reichtumsvermehrung zu machen. Marxistisch gesprochen: Der ideelle Gesamtkapitalist definiert sich – auf Basis des erreichten Entwicklungsstandes – um; die übliche Bezeichnung dafür heisst Neoliberalismus. In dieser Hinsicht ist China anders verfasst: Seine Führung will tatsächlich das Heft in der Hand behalten und die kapitalistischen Unternehmen auf die nationalen Ziele hin trimmen können, die sie für wichtig hält. Insofern kann man sagen, dass die Rolle des Staats in der chinesischen Ökonomie wesentlich stärker ist als in den westlichen Ländern. (An dieser Stelle kann man durchaus interessante Fragen aufwerfen zu dieser chinesischen Variante…)
Das aber mit Sozialismus zu identifizieren, geht nur dann, wenn man sich Sozialismus eben so vorstellt: als einen vom Staat gezügelten oder gar beherrschten Kapitalismus (deshalb heisst es ja auch meistens etwas verschwiemelt: sozialistische Marktwirtschaft oder Marktwirtschaft mit sozialistischen bzw. chinesischen Kennzeichen). Leute aus der Ex-DDR oder der DKP können sich anscheinend ganz gut vorstellen, dass eine nach chinesischer Art „modernisierte Planwirtschaft“ die DDR oder auch den restlichen Sozialismus vor seinem Untergang bewahrt hätte; sie gehen teilweise sogar so weit, China heute für den ersten erfolgreichen Sozialismus zu halten. Das kann man natürlich auch als eine Art Selbstauskunft über den eigenen Idealismus und Realismus verstehen…
Das waren die zwei Anhaltspunkte: die Selbstdarstellung der Partei und der staatliche Interventionismus, der quantitativ grösser ist als im Westen. Der Grund, China als sozialistisches Land zu bezeichnen und dafür diese Anhaltspunkte ins Feld zu führen, liegt m.E. nach aber vor allem darin, dass Linke immer gerne auf einen Hoffnungsträger schauen und deuten wollen. Früher waren das die realsozialistischen Staaten. Heute ist es eben China, das man sich deshalb entsprechend zurecht frisiert, damit es passt. Da muss man schon einiges übersehen, einiges klein reden, dafür anderes gross machen und vor allem: Man muss den heutigen Erfolg Chinas in der Staatenkonkurrenz schon irgendwie verwechseln mit seinem früheren Anti-Imperialismus.
Das würde ich lieber sein lassen. Meine Devise ist da: Antreten gegen das inzwischen in dieser Republik virulente Feindbild China, ohne sich deshalb in der Kritik an Chinas heutigem Kapitalismus, seinem Staatswesen und seiner Aussenpolitik zurückzuhalten.