Renate Dillmann: Wir haben in unserer kleinen Reihe die neuere Geschichte Chinas seit den Opiumkriegen betrachtet und können feststellen, dass das alte „Reich der Mitte“ inzwischen wieder in der obersten Liga der Nationen mitmischt. Das gilt natürlich als riesiger Erfolg! Denn das ist in dieser Welt der Staatenkonkurrenz ja die übliche Betrachtung: Was zählt und einem Land Respekt einbringt, ist sein ökonomischer Erfolg auf dem Weltmarkt und sein politischer Einfluss.
China verfügt heute bereits über die grösste Volkswirtschaft der Welt und ist Exportweltmeister, hat die Bundesrepublik in diesem Punkt abgelöst. Die chinesische Kommunistische Partei feiert all das auch als ihren Erfolg. Den „kapitalistischen Weg“ seit 1978 (also nach Maos Tod) stellt sie – wie wir in Folge 3 gesehen haben – gerne dar als Mittel dafür, die Produktivkräfte des Landes zu entwickeln und dann tatsächlich den Sozialismus ausrufen zu können. Betrachtet man die Lage der chinesischen Ökonomie daraufhin, könnte man feststellen: Dieses Ziel, die Entwicklung der Produktivkräfte des Landes, ist längst erreicht! Das Land verfügt inzwischen über alles, was man an Technik, Infrastruktur, Forschung und so weiter braucht, um eine Versorgung sämtlicher Chinesen auf gesichertem und steigendem Niveau zu gewährleisten. Man könnte sich also nach Jahren der Anstrengung zurücklehnen und es entspannt angehen lassen in der sozialistischen Volksrepublik… wenn es denn darum ginge!
Die chinesische Regierung setzt sich ganz andere Ziele. Mit dem Programm „Made in China 2025“ hat sie eine nationale Initiative auf die Tagesordnung gesetzt, die das Land bis 2050 zur „weltweit führenden Produktionsmacht“ machen soll. Das nimmt erkenntlich an etwas anderem Mass als einer guten Versorgung und einem schönen Leben – wenn Du die Frage des Sozialismus einbringst, wäre das eher so das, was ich mir vorstelle.
Aber einmal abgesehen von meinen subjektiven Vorstellungen – was soll am heutigen China sozialistisch sein? Das Leben der Chinesen unterscheidet sich in fast nichts vom hiesigen: Für alles wird Geld verlangt und das muss verdient werden. Man hat dauernde Sorgen um einen Arbeitsplatz, um die Gesundheit angesichts von Belastungen am Arbeitsplatz und Lärm, Luftverschmutzung und schädlichen Lebensmitteln. Man steht in ewiger Konkurrenz zu den lieben Mitmenschen und hat in seinem Leben, von der Schule bis zur Rente, allerhand Streitereien mit ihnen auszufechten…
Daniel (99:1): Wie steht es um den Lebensstandard der Arbeiterklasse in China, wie haben sich Löhne entwickelt in den letzten Jahrzehnten und welche sozialen Absicherungen gibt es oder fehlen in China?
Renate Dillmann: Die Löhne in China, insbesondere in den grossen industriellen Ballungsräumen in Südostchina, sind massiv gestiegen (von 2008 bis 2017 durchschnittlich um mehr als 80%) – da könnten die Arbeiter der BRD mit ihrer Lohnentwicklung in den letzten zwei Jahrzehnten ziemlich neidisch sein.
Es ist bemerkenswert, dass die chinesische Regierung einigen Lohnkämpfen in den letzten Jahren nicht per se feindselig gegenübersteht. Ein Beispiel dafür war der Lohnkampf bei Honda 2010/11. Neben dem Punkt, dass dieser Streik sich gegen ein japanisches Unternehmen gerichtet hat (Japan gilt in China immer noch als der „Hauptfeind“, der im 2. Weltkrieg für mehr als 20 Millionen Tote verantwortlich ist und sich für seine Gräueltaten nie entschuldigt hat), gibt es dafür zwei Gründe: Erstens will China keineswegs für immer das Billiglohnland der Welt sein – das widerspricht schlicht den eigenen Ansprüchen. Zweitens bemüht sich die chinesische Führung seit der Weltfinanzkrise verstärkt um die Entwicklung eines chinesischen Binnenmarkts, weil sie unabhängiger von den Konjunkturen der Weltökonomie werden will. Höhere Löhne in ihrer Funktion für eine höhere Binnennachfrage passen zu diesem Programm – in China gibt es also das, was der DGB hierzulande seit Ewigkeiten fordert.
Gleichzeitig gibt es in China allerdings nach wie vor eine Menge an Provinzen, die gerade mit Billiglöhnen konkurrieren – auch gegen die bereits fortgeschrittenen kapitalistischen Zentren des Landes an der Ostküste. Auch das ist staatlich gewollt – die Volksrepublik bietet ihren Investoren damit die gesamte Palette an Arbeitskräfteangebot in einem Land (was die EU mit ihren südosteuropäischen Billiglohnländern und ihren Wanderarbeitern ja sehr angestrengt nachahmt!).
Seit den 2000er Jahren baut China verschiedene sozialstaatliche Strukturen auf – nachdem man in den ersten beiden Jahrzehnten der Systemtransformation viele Einrichtungen der sozialistischen Phase zerschlagen hatte (durch Privatisierung der Krankenhäuser und Abschaffung der betrieblichen Verpflichtungen bspw.). Damit reagiert die kommunistische Führung auch auf eine weit verbreitete Unzufriedenheit – was eigentlich ein schönes Beispiel dafür ist, wie politische Reformen in diesem Land auch ohne demokratische Strukturen zustande kommen. Wo es der KP als funktional für den weiteren Erfolg von Wirtschaft und Staat einleuchtet, zieht sie Konsequenzen und leitet entsprechende Schritte ein.
In diesem Fall: Sie richtet eine Unfall-, Arbeitslosen-, Kranken- und Rentenversicherung ein, nicht auf sonderlich hohem Niveau, aber bereits ziemlich flächendeckend – weitgehend übrigens nach deutschem Vorbild, d.h. finanziert von Arbeitnehmern und Arbeitgeber und durch Staatszuschüsse. Ebenfalls gelernt haben sie von Deutschland, dass diese soziale Absicherung nur so ausfallen darf, wie es das Wachstum der Wirtschaft verträgt, also minimal. Das kann man – im Vergleich der Staaten, von denen ja längst nicht jeder eine solche soziale Absicherung betreibt (man denke etwa an die kapitalistische Weltmacht Nr. 1 und ihren internen Streit um ein bisschen Krankenversicherung) – ganz schön fortschrittlich und „sozial“ finden. Man kann allerdings auch den grundsätzlichen Schluss ziehen, dass die Lohnarbeiter in diesem Land sehr regelmässig Notlagen zu erwarten haben, denen sie finanziell nicht gewachsen sind, und den Aufbau des chinesischen Sozialstaats als ein Zeugnis über die perspektivisch bleibende Armut der Arbeiterexistenz nehmen (Dillmann/Schiffer-Nasserie: Der soziale Staat – über nützliche Armut und ihre Verwaltung).
Chinas (neue) Aussenpolitik
Daniel (99:1): Aussenpolitisch ist China in den letzten Jahren durch die Belt-and-Road-Initiative aufgefallen, die sogenannte „Neue Seidenstrasse“. Was ist dieses Projekt und welche Ambitionen und Ziele stehen dahinter?Renate Dillmann: Vielleicht zunächst ein paar grundsätzliche Worte zu Chinas neuer Aussenpolitik. Mit der Transformation von Chinas Wirtschaft hin zu einer kapitalistischen hat sich notwendigerweise auch der Inhalt der chinesischen Aussenpolitik verändert. Gleichgültig, was chinesische Politiker sich dazu gedacht haben, gleichgültig auch, wie anti-imperialistisch sie vorher eingestellt waren – wer eine kapitalistische Ökonomie betreuen und erfolgreich machen will, der muss dafür einiges in Gang setzen. Auch darin ist China ein richtiges Lehrstück über den Zusammenhang von Geschäft und Gewalt!
Ein Staat, der seine Wirtschaft erfolgreich Waren produzieren und am Weltmarkt verkaufen lassen will, braucht eine sichere Zufuhr von billigen Rohstoffen, insbesondere Erdöl. Auf der Suche nach verlässlichen Lieferländern, die sich auch nicht einfach erpressen lassen, ihre Lieferungen einzustellen, wenn das etwa die USA wünschen, werden die Chinesen deshalb mit Vorliebe fündig bei Ländern, die in einer gewissen Distanz zum Westen stehen, wie etwa Sudan, Iran, Russland. Mit dem, was sie sonst noch brauchen, bieten sie einer ganzen Reihe von Staaten in Südamerika und Afrika einen Ausweg aus ihrer bisherigen ökonomisch trostlosen Lage – weil sie für den Abtransport der Waren gleich noch die entsprechenden Verkehrswege bauen und mit ihren Krediten günstig finanzieren. Nichts anderes war und ist übrigens der Witz von Entwicklungshilfe! Die Chinesen verfahren also kein bisschen anderes als die bisherigen kapitalistischen Nutzniesser-Staaten; vielleicht mit etwas mehr Angebot an die Länder der 3. Welt in Asien, Afrika und Südamerika. Einerseits, weil sie als Nachzügler-Nation zunächst einmal etwas bieten müssen, um ins Geschäft zu kommen; andererseits sind sie in vielen Fragen aber auch schlicht näher dran an den Problemen dieser Länder mit Infrastruktur u.ä., weil sie das selbst erst gerade bewältigt haben. Mit ihrer Politik hat sich die Volksrepublik inzwischen als regelrechte Alternative zu den USA und Europa aufgebaut.
Zweitens braucht ein solcher Staat entsprechende Absatzmärkte – und die funktionieren keineswegs nach dem Motto „schön, dass ein Neueinsteiger auch etwas zu verkaufen hat“. Deshalb ist China der WTO beigetreten und kämpft zusammen mit Brasilien und Indien für bessere Exportbedingungen. Freihandelszonen in Asien und die „Neue Seidenstrasse“ gehören in diesen Kontext.
Erfolgreiches Geschäftemachen mit dem Ausland hängt von dem „politischen Einfluss“, letztlich also der Gewalt ab, die ein Staat gegen andere aufbieten kann – auch das ist eine Einsicht, die China heute beherzigt. Es agiert geostrategisch, das heisst: Es versucht, seine ausgreifenden Handelsinteressen, seine Bereicherung am Rest der Welt, abzusichern.
Die „Neue Seidenstrasse“ hat in den letzten Jahren Furore gemacht als das grösste Infrastruktur-Projekt der Weltgeschichte, mit geplanten Kosten von 900 Milliarden bis einer Billion Dollar.
Dieses Projekt hat erstens die Funktion, die Seewege, auf die China für seinen Handel angewiesen ist und die es für verletzbar hält durch amerikanische Sanktionen/Blockaden, durch kontinentale Handelswege abzusichern; dazu dient bspw. der Ausbau verschiedener Eisenbahnstrecken von China nach Süden und Westen.
Die „Neue Seidenstrasse“ bezieht damit zweitens Staaten, etwa in Zentralasien und auf dem Balkan, neu in den China-Handel ein und bietet ihnen Geschäftsmöglichkeiten – finanziert durch chinesische Kredite (so verwendet China momentan die aufgehäuften Dollar-Devisen!). Das ist natürlich ein Versuch, diese Staaten enger an sich zu binden und dauerhafte Abhängigkeiten zu stiften.
Und drittens ist die „Neue Seidenstrasse“ mit ihrer ausgreifenden Planung, die Afrika und Südamerika miteinschliesst, tatsächlich so etwas wie eine Kampfansage an die bisherige Weltordnung. China will die Bedingungen des weltweiten Geschäfts für die kommenden Jahrzehnte so mitgestalten, dass es den Nutzen daraus davon trägt – das bestreitet die Rolle der USA, die genau das bisher in ihrem Interesse tun. Wenn China für eine „multilaterale Weltordnung“ eintritt, hört sich das bescheiden an; der Sache nach attackiert es die „Dominanz der USA“.
Insgesamt ist festzuhalten: Chinas heutige Aussenpolitik entspringt den Notwendigkeiten seiner neuen kapitalistischen Ökonomie. Mit seinem Waren- und Kapitalexport will China sich an anderen Ländern bereichern; um diese Reichtumsquellen abzusichern, wird es geostrategisch aktiv. Das ist das Programm einer modernen imperialistischen Grossmacht. Imperialismus heute besteht nämlich nicht mehr darin, andere Staaten zu überfallen, auszuplündern oder zu Kolonien zu machen. Diese Zeit ist vorbei, seit die USA nach dem 2. Weltkrieg das Prinzip der Anerkennung souveräner Staaten gegen die alten Kolonialmächte durchgesetzt haben, weil sie so deren exklusiven Zugriff auf grosse Teile der Welt beenden und sich selbst ins Spiel bringen konnten.
Das sage ich auch gegen einige china-freundliche Autoren im linken Lager, die Chinas Aussenpolitik gegen den Vorwurf, dass es eine „imperialistische Politik“ betreibe, verteidigen wollen. Sie wenden ein, dass das Land in seiner Aussen- und Entwicklungspolitik zwar durchaus egoistisch handele, aber nicht aggressiv; dass es zwar aufrüste, dabei aber defensiv verfahre usw. Man merkt: Imperialismus wird da verstanden als aggressive, militärisch ausgreifende Politik: die Souveränität anderer Länder verletzen und sie ausplündern, letztlich als eine Art Kolonialpolitik. Das trifft m.E. den modernen Imperialismus nicht. Dessen Clou ist die Anerkennung souveräner Staaten und ihre Zulassung zu einer Weltmarktkonkurrenz, in der sie mit ihren Interessen und Mitteln antreten dürfen gegen die überlegenen kapitalistischen Staaten und dann in der Regel systematisch den Kürzeren ziehen (China war da die Ausnahme, ein Sonderfall, den wir letztes Mal thematisiert haben).
Das sage ich auch gegen einen politischen Idealismus, der damit zusammenhängt: Die Vorstellung nämlich, die Welt könnte doch auch friedlich bleiben, solange alle miteinander handeln. „Solange gehandelt wird, wird nicht geschossen“, heisst der dazu gehörende Spruch. Und der ist falsch; er müsste eigentlich heissen: „Weil gehandelt wird, wird dann auch irgendwann geschossen“.
Denn die Interessen, mit denen die Staaten in der Konkurrenz auf dem Weltmarkt antreten, sind keine, die miteinander verträglich sind. Handel und Kapitalverkehr zwischen kapitalistischen Nationen dienen schliesslich dazu, sich an-und gegeneinander zu bereichern. Auch wenn es Phasen gibt, in denen die diversen Regierungen davon schwärmen, dass ihre Handels- und Investitionsverträge allen Beteiligten von Nutzen sind und es für alle aufwärts geht („win-win“) – letztendlich werden die Erfolge eines Landes auf Kosten eines anderen errungen; das wird spätestens an der Konkurrenz der Währungen deutlich. Aus diesem „friedlichen“ Zustand des freien Handels- und Kapitalverkehrs erwachsen deshalb notwendig die Streitfragen um Einfluss-Zonen auf der Welt, wer wen zu was erpressen kann usw. – und deshalb bauen die Staaten auch allesamt im schönsten Frieden ihre Armeen auf, betreiben Geostrategie und rüsten sich so für die Auseinandersetzungen, die sie – im Unterschied zu den Friedensfreunden – für letztlich unumgänglich halten.
Es gibt aber auch die konträre Auffassung, die Chinas aussenwirtschaftliche oder -politische Konkurrenzpraktiken als besonders bösartig charakterisiert – auch dagegen richten sich diese Argumente. Das hat etwa der US-amerikanische Verteidigungsminister Esper bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2020 vorgeführt. „China habe sich durch „Diebstahl, Zwang und Ausnutzung freier Marktwirtschaften“ Vorteile verschafft und sinne darauf, das „System zu untergraben und zu zersetzen“. Es strebe überall auf der Welt „neue strategische Beziehungen“ an und übe „Druck auf kleine Nationen“ aus. Das hat allen Ernstes der Vertreter der Weltmacht USA mit fast 1.000 Stützpunkten auf der Welt vorgetragen – einen Kommentar dazu halte ich für überflüssig! Die praktische Konsequenz war Trumps Handelskrieg gegen China…
Diese Angriffe auf die neue „gelbe Gefahr“, oder – vornehmer ausgedrückt – den „systemischen Wettbewerber“ drücken zuallererst den westlichen, insbesondere US-Anspruch auf diese Welt, ihre Ressourcen und den Nutzen aus dem globalen Handel aus. Nicht weil China so besonders bösartig ist, sondern weil es dasselbe macht wie die etablierten kapitalistischen Nutzniesser des Weltmarkts und dabei so erfolgreich ist, kommt es ihnen in die Quere.
Es wäre übrigens extrem wichtig, wenn all diejenigen, die den Konflikt zwischen China und dem Westen als einen um Werte („Freiheit und Demokratie“ contra „Repression und Diktatur“) begreifen, verstehen würden, dass es sich dabei um das Feindbild handelt, das aus der praktischen Feindschaft, die wir gerade diskutiert haben, entspringt.
Daniel (99:1): Auch der Konflikt zwischen China und den USA ist in den letzten Jahren heisser geworden, nicht erst seit Trump. Von wem geht hier die Aggression aus und was ist der Hintergrund des Konflikts? Wie positioniert und behauptet sich China in dem Konflikt.
Renate Dillmann: Die USA als amtierende Weltmacht sehen sich bedroht durch diesen Konkurrenten, der scheinbar unaufhaltsam aufschliesst. Daran ist zweierlei sehr bemerkenswert.
Erstens kann man daran sehen, wie die Zulassung der sog. Entwicklungsländer zur Weltmarkt-Konkurrenz immer gemeint war. Der Name „Entwicklungsländer“ suggeriert ja: Macht in unserer Weltordnung mit, damit ihr euch entwickeln könnt, damit ihr so reich und mächtig werdet wie wir. Im Fall China haben wir das Entwicklungsland vor uns – das einzige! – dem es gelungen ist, diese grosszügige Verheissung wahr zu machen. Es hat sich entwickelt, ist ökonomisch stark geworden und tritt den USA heute auf Augenhöhe gegenüber. Das wird nicht freudig begrüsst und als Modell für den Rest der Dritten Welt gefeiert, sondern als Störfall dieser Weltordnung behandelt.
Zweitens: Du fragst, von dem hier die Aggression ausgeht. Aus Sicht der USA zweifellos von China! Dieses Land nimmt ihnen überall etwas weg und macht ihnen ihren bisherigen Erfolg und die Mittel streitig, die sie dafür hatten. Ein Beispiel: Durch ihre Handelsbeziehungen zu China werden etwa die Länder Südamerikas, sprich: der bisherige Hinterhof der USA, in eine neue Lage versetzt, die ihre einseitige Abhängigkeit und Erpressbarkeit durch die USA relativiert. Für die Politiker in Washington heisst die Schlussfolgerung: Wir müssen unsere bisherige Stellung verteidigen gegen dieses unangenehme Land, das „unsere“ Ordnung, d.h. die für uns nützliche Ordnung durcheinanderbringt. Man sieht also, wie wenig die Kategorien „Aggression“ und „Verteidigung“ die Lage erfassen: Die bisherige Weltmacht muss sich überall verteidigen – weil sie natürlich überall ihre Interessen, ihre Dollars, ihre Leute hat…
Die letzten US-Präsidenten haben das allesamt erkannt. Spätestens seit George W. Bush haben sie der Auseinandersetzung mit China oberste Priorität eingeräumt. Obama hat mit seinen Freihandelsabkommen versucht, Chinas Weltmarkterfolge einzudämmen; Trump mit seinem harten Handelskrieg, seiner Strategie des „Decoupling“ (also dem Versuch einer ernsthaften Entflechtung der amerikanischen Volkswirtschaft von chinesischen Importen) und der Bekämpfung von Huawei, dem modernsten chinesischen Kapital, das mit seiner 5-G-Technik weltweit erfolgreich ist. Biden hat seine Amtszeit unter das Motto „extremer Wettbewerb“ gestellt und als eine seine ersten Amtshandlungen eine Verordnung unterzeichnet, derzufolge US-Regierungsbehörden nur im eigenen Land erstellte Waren und Dienstleistungen kaufen dürfen (Umfang etwa 600 Milliarden Dollar). Keine Frage, dass diese US-Aktionen der chinesischen Wirtschaft schaden. Aber so richtig aus dem Tritt gekommen ist Chinas Wirtschaft bisher nicht.
Daniel (99:1): China rüstet ordentlich auf, laut dem Stockholmer Friedensforschungsinstituts in 2019 hat China den russischen Rüstungsetat überholt. Viel von dieser Aufrüstung konzentriert sich auf den sogenannten “Inselstreit” im ostasiatischen Meer. Was hat es damit auf sich?
Renate Dillmann: Es ist richtig, dass China seinen Verteidigungshaushalt seit Jahren stark ausbaut. Allerdings sollte man an dieser Stelle den immer noch riesigen Abstand zu den USA festhalten: 2020 haben die USA laut Sipri 778 Milliarden US-Dollar ausgegeben, China 252 Milliarden. Verdeckte Rüstungskosten wird es in beiden Staaten geben. Und natürlich haben die USA über Jahre bzw. Jahrzehnte diesen Abstand akkumuliert…
Meines Wissens versucht China gar nicht erst, das aufzuholen – ich bin natürlich kein Fachmann in diesen Dingen. Die Volksrepublik konzentriert sich auf eine relativ kleine nukleare Abschreckung, mit der sie einen Zweitschlag führen kann. Sie setzt auf die Möglichkeiten von cyber war. Und sie baut in erster Linie ihre Marine auf, um ihre Handelsschifffahrt abzusichern.
Dazu gehört neben dem Aufbau der Flotte auch der militärische Umbau der Inseln im südostasiatischen Meer, die zu einer Art von Stützpunkten ausgebaut werden. Auch China „verteidigt“ sich hier: Es verteidigt seine Handelsschifffahrt, die auf diese Routen unbedingt angewiesen ist, gegen eventuelle US-amerikanische Störversuche (ein nicht ganz unrealistisches Szenario, wenn man die letzten Jahrzehnte und die amerikanische Boykott-Politik betrachtet). Der Streit um die Insel-Linie, die China ziehen will, wird dabei von beiden Seiten mit aller Grundsätzlichkeit geführt. Die USA machen die „Freiheit der Meere“ geltend und versuchen, die Nachbar-Staaten gegen die Volksrepublik in Stellung zu bringen; China seinerseits will nicht einlenken, auch nicht um den Preis der angedrohten Verschlechterung der Beziehungen und einer militärischen Konfrontation.
Das ist die Ausgangslage für einen Krieg – übrigens ebenso wie der Streit um Taiwan, das von China als abtrünnige Provinz betrachtet wird und für das die Volksrepublik die Einhaltung des Ein-China-Prinzips fordert, ein Prinzip, das die USA zwar vertraglich anerkannt haben, von dem sie aber heute nichts mehr wissen wollen.
Wo wir an diesem Punkt angekommen sind, möchte ich eigentlich gerne ein paar Worte zum laufenden Ukraine-Krieg und seinem Zusammenhang zu China sagen. Die gehen jetzt weg von der bei uns üblichen Debatte „Wer ist schuld an diesem Krieg“, „Putin ist böse und grausam“, also den moralischen Beurteilungen.
Ich will die Aufmerksamkeit schlicht einmal auf einen m.E. interessanten Punkt lenken. In den letzten zwei Jahren, bis zum Herbst 2021 war klar: China ist der neue Hauptfeind der USA – die Journalisten haben sich die Finger wund geschrieben über den Stand der Konkurrenz der beiden Kontrahenten, über Aufrüstung und Bündnisse, über Kriegsszenarien (z.B. Taiwan) und natürlich darüber, wie schlimm dieses China ist, Vorwürfe über das autoritäre „Regime“ von Xi Xinping bis hin zum angeblichen Völkermord an den Uiguren. Praktisch und ideologisch war das die alles bestimmende Auseinandersetzung.
Nun läuft der Ukraine-Krieg – und scheinbar ist China gerade weniger wichtig. Oder gibt es vielleicht doch einen Zusammenhang? Immerhin formuliert der Westen inzwischen Kriegsziele, die verlangen, dass Russlands Ökonomie bleibend zerstört wird und dass Putin nicht im Amt bleiben darf, sprich: der russische Politiker, der nach der Selbstaufgabe der Sowjetunion und deren Zerlegung durch Jelzin eine Rekonstituierung des Landes erreicht hat. Russland ist wegen Putin heute wieder eine ernstzunehmende Militärmacht auf der Welt und es ist der wichtigste Bündnispartner Chinas. Eine Schwächung dieses Landes und die gerade offen angestrebte Spaltung des Bündnisses dieser beiden Staaten (EU-Verhandlungen mit China vor ein paar Tagen) zeigen, dass der Ukraine-Krieg zumindest dafür benutzt wird, bessere Bedingungen für die anstehende „grosse Auseinandersetzung“ mit der Volksrepublik zu schaffen. Das sind übrigens Überlegungen, die die amerikanischen think tanks anstellen, seit Russland und China enger zusammenarbeiten und seit das US-Militär sich fragt, ob und wie es einen Krieg gegen beide Mächte gleichzeitig führen könnte.
Ein neues “Reich des Bösen”
Daniel (99:1): Kannst du uns deine Meinung zu der westlichen Berichterstattung zu China vielleicht anhand einiger Beispiele charakterisieren und uns erklären, warum gerade in den letzten Jahren das Feindbild China immer zentraler wird, was man vor allem während Olympia jetzt auch immer wieder mitbekommen hat.Also manchmal kann man in all dem Elend auch nur noch lachen. So ging es mir jedenfalls, nachdem ich mir zwei Abende lang die Eröffnung der Olympischen Spiele angeschaut und mir angehört habe, was da so zusammen getalkt wurde. Wir sollten unseren Zuhörern vielleicht den kleinen Artikel zusenden, der dabei herausgekommen ist.
Zurück zum Feindbild: Wenn ich hier aufzählen sollte, was alles gegen China spricht, würden wir vor Mitternacht nicht fertig werden. Nehmen wir einige besondere Highlights: Wusstest du zum Beispiel, dass es in China Beispiel Ausbeutung gibt? – so erzielt dieser üble Staat nämlich seine Weltmarkterfolge. Ebenso wird „aufgedeckt“, dass China sehr rabiat mit seiner Umwelt umgeht – was wir hier ja gar nicht kennen. Korruption ist dort übrigens verbreitet und um die Meinungsfreiheit ist es übel bestellt.
An dieser Art von Vorwürfen können wir schon ein erstes Merkmal eines Feindbilds bestimmen. Es werden Dinge skandalisiert, die gar nicht china-spezifisch sind: Ausbeutung, rücksichtsloser Umgang mit der Natur, Korruption, ein staatliches Überwachungsbedürfnis – all die genannten Hässlichkeiten gibt es hier, im guten demokratischen Westen natürlich auch, politische Repression der härteren Art spätestens bei guten Verbündeten des Westens. Doch das sind dann „Ausnahmen“, ist staatliches „Versagen“, während davon in China nicht die Rede sein kann. Dort steht jeder einzelne Kritikpunkt ein für alle Mal dafür, dass das ganze System faul ist – zu verbessern ist da nichts, während uns hier konstruktive Kritik bei sämtlichen Einwänden abverlangt wird…
Hauptvorwurf an China ist natürlich die fehlende Demokratie: keine Wahlen, keine Parteien, keine Opposition; die Lieblingsbeschäftigung des chinesischen Staats ist es demnach, sein Volk zu unterdrücken – andere Zwecke fallen uns bei ihm einfach nicht ein. Man merkt: China wird schlicht daran gemessen, was bei uns üblich ist. So simpel kommt ja die ganze Negativ-Liste der Vorwürfe zustande: keine Wahlen, keine Parteien, keine Opposition, kurz: keine Demokratie. Warum man die Auswahl des politischen Herrschaftspersonals durch die Beherrschten (und mal konkret gedacht: diese alberne Auswahl zwischen CDU und SPD und jetzt auch noch den Grünen) für das A und O bei der Beurteilung eines Staats halten soll, ist sachlich ebenso unerfindlich wie offenbar feststeht, dass das der Massstab sein muss. Und die Frage, wie und warum die Chinesen es anders machen, kommt dann auch gar nicht mehr auf – in Folge 3 war das ja Thema.
Selektive Wahrnehmung, parteilich-missgünstige Vergleiche, deren Massstab wie selbstverständlich das bei „uns“ Gültige, Übliche oder Erwünschte ist, kampagnenartige Wiederholungen – all das kennzeichnet ein Feindbild. Nicht nur China ist davon betroffen; es gibt eine ganze Latte von Feindbildern, deren Bedeutung je nach politischer Konjunktur hoch- oder runtergespielt wird. Gerade erleben wir eine neue Hochkonjunktur für das Russland-Feindbild, bis vor kurzem war, wie gesagt, China wichtiger, davor die Islamisten. Wichtig dabei: Den Bürgern wird so eigentlich die Vorstellung vermittelt, wegen der angeklagten Tatbestände müsse man – die Regierung und auch sie selbst – zum Gegner des jeweiligen Landes werden. Tatsächlich verhält es sich natürlich umgekehrt: Weil das betreffende Land ins Visier der nationalen bzw. westlichen Aussenpolitik gekommen ist, werden an ihm die entsprechenden moralischen Abgründe gefunden, die den feindseligen Umgang legitimieren sollen. Dem Feindbild liegt die Feindschaft zugrunde, nicht umgekehrt, wie es sich viele moralisch denkende Zeitgenossen vorstellen.
Daniel (99:1): Vieles wird China heutzutage vorgeworfen, vielleicht könnten wir ja anhand einiger Beispiele deine Sicht der Dinge skizzieren und für weitere Details verweisen wir auf dein Buch: o China als besonders ausbeuterischer Kapitalismus
o China als besonders repressiver Staat
o Chinas Umgang mit den Protesten in Hong Kong
o Das Sozialkreditsystem
o Der Umgang der Chinesen mit den Uighuren
Renate Dillmann: Ich denke, dass wir zu den ersten zwei Punkten in Folge 3 schon einiges gesagt haben. Ganz kurz zusammengefasst: China hat seinen Einstieg in den Weltmarkt unter anderem mit dem Angebot besonders billiger Lohnarbeit hinzukriegen. Wer das kritisiert, sollte sowohl den chinesischen Staat attackierten wie die westlichen Unternehmen, die dieses Angebot mit Kusshand angenommen haben. Und die mit Verweis auf ihre Möglichkeiten in Fernost ihren Beschäftigten hier immer schlechtere Arbeits- und Lohnbedingungen aufnötigen! Als repressiver Staat tritt China vor allem deshalb auf, weil es mit der Einführung der kapitalistischen Konkurrenz um Eigentum eine grosse Menge harter sozialer Gegensätze losgetreten hat. Die letzten drei Punkte sind im Grund allerdings noch einmal drei eigenständige Themen, die wir hier natürlich nicht gebührend abhandeln können. Auch hier deshalb das Angebot: Wer mehr erfahren will, soll mir schreiben. Ich schicke dann gerne einen entsprechenden Textauszug.
Das chinesische Sozialkreditsystem
gilt hier bei uns als Ausbund staatlicher Überwachungstätigkeit und totaler Kontrolle – ausgehend von der Vorstellung, dass der chinesische Staat sowieso nichts anderes vorhat, als zu gängeln und zu unterdrücken.Betrachtet man die Sache mit etwas Distanz, handelt es sich um eine staatliche Erziehungskampagne, die Moral und Anstand in vielen alltäglichen Fragen der Bürger auf die Sprünge helfen soll: beim Kaufen und Verkaufen im Internet, im Strassenverkehr, den wenig freundlichen und eher bestechlichen Beamten. Verstösse werden gesammelt und führen schlimmstenfalls zu Sanktionen, z.B. dem Ausschluss von Hochgeschwindigkeitszügen und Flügen, für die man keine Tickets kaufen darf.
Die Kampagne nutzt dabei den fortgeschrittenen Stand der Technik, führt alle Verstösse zusammen und macht sie öffentlich zugänglich: Jeder kann sich über sein Gegenüber informieren. Das ist das Neue, während vieles andere bei uns ebenso existiert: die Schufa bspw. und das Strafregister in Flensburg und es auch ähnliche Sanktionen gibt (Herabsetzung der Kreditwürdigkeit, Führerscheinentzug).
Interessanter am chinesischen System scheint mir, dass es erstens auf die staatlichen Behörden ausgedehnt wird und zweitens auf die Unternehmen. Bei den Behörden will man auf diese Art und Weise offenbar die Anti-Korruptionskampagne ergänzen; bei den Unternehmen geht die Sache erheblich weiter: Da will sich die chinesische Führung eventuell (mit allem wird noch experimentiert) ein neues Instrument dafür verschaffen, mehr Einfluss auf laufende Unternehmensentscheidungen geltend zu machen. Das System heisst in China übrigens „gesellschaftliches Bonitäts-System“ und das trifft die Sache möglicherweise besser. Unternehmen werden daraufhin begutachtet, mit welcher Technologie und welchen Energieressourcen sie arbeiten, wie umweltschädlich ihre Emissionen sind, wie nachhaltig sie produzieren usw. usf. – die gesammelten Ergebnisse führen bei ihnen zu erleichterten oder erschwerten Kreditbedingungen…
Bei den professionellen China-Beobachtern vom Merics-Institut habe ich in den Beurteilungen dazu durchaus eine gewisse Befürchtung herausgelesen: Dass sich China damit vielleicht ein ganz modernes Instrument der Marktbeeinflussung schafft, das staatliche Entscheidungen schnell und effizient umsetzen kann – und sich so schon wieder Konkurrenzvorteile ergattert.
Die chinesischen Bürger sind übrigens mehrheitlich für das Sozialkredit-System – nicht, weil sie alle schon völlig pathologische Untertanen sind, sondern weil sie es schätzen, wenn Anstand und Moral mehr gelten in ihrem Land. Das würde bei uns, im Land der Anstandsbolzen, vermutlich nicht wesentlich anders aussehen!
Die Proteste in Hongkong
Ausgangspunkt war ein neues Auslieferungsgesetz, mit dem sich Festland-China Zugriff auf strafrechtlich gesuchte Bürger verschaffen wollte, die sich ganz gerne nach Hongkong absetzen (interessant, dass das ging, schliesslich ist Hongkong ein Teil Chinas – stellt euch das bitte mal für Deutschland vor: Bayern bietet Straftätern Zuflucht und es existiert nicht mal ein Auslieferungsgesetz). Politische Vergehen waren im ersten Gesetz ausgenommen, Hongkonger Richter sollten über die Auslieferung entscheiden. Die darauf einsetzenden Proteste haben sich dann bis zu der Forderung vorgearbeitet, Hongkong solle sich zum Schutz seiner Demokratie ganz von China separieren.Das hat die Regierung in Beijing mit der Klarstellung beantwortet, dass Hongkong zu China gehört: Ein Land, zwei Systeme, unterstrichen: Ein Land. Der Stadtstaat mit seinen 7 Millionen Einwohnern, dem viertgrössten Container-Hafen der Welt und als einer der wichtigsten Finanzplätze der Welt ist für die chinesische Ökonomie nicht eben unwichtig. Und geostrategisch wäre ein Ausscheren Hongkongs mit seiner Lage im Perlfluss-Delta, unmittelbar in der grössten und profitabelsten Industriezone China ein Desaster. Insofern eine klare Absage an Separatismus-Vorstellungen – wie üblich in der Staatenwelt, auch der demokratischen (siehe Katalonien, Korsika, Schottland).
Dass die USA und andere westliche Staaten sich massiv in die Proteste eingemischt haben und wichtige Figuren der Opposition finanziert und beraten haben, hat die harte Haltung der chinesischen Führung noch verstärkt und zu harten Sicherheitsgesetzen und einer massiven Zerschlagung von Organisationen in Hongkong geführt, die auch Gewerkschaften gleich mitgetroffen hat.
Nebenbei bemerkt: Grund zu Protest gibt es in Hongkong sehr. Die Lebensbedingungen der einfachen Leute dort sind miserabel – angefangen von den Wohnverhältnissen bis zu den arbeits- und sozialrechtlichen Bedingungen, die alle schlechter sind als auf dem Festland. Die Kommunistische Partei ist dort, im angeblichen Hort der Demokratie, übrigens verboten.
Der Umgang mit den Uiguren
Das ist – vor allem angesichts der moralischen Aufladung dieses Themas – eine schwierige Frage. US-Aussenminister Pompeo hat China an seinem letzten Amtstag „Völkermord“ an den Uiguren vorgeworfen und verlangt, dass die „kommunistische Führung zur Rechenschaft gezogen werden müsse“; sein Nachfolger Antony Blinken bestätigte bei seiner ersten Pressekonferenz, dass ein „Genozid“ an den Uiguren begangen werde. In unserer Öffentlichkeit treten immer wieder „Experten“ auf, die sich für Behauptungen verbürgen, dass Millionen Uiguren in KZ-artigen Lagern festgehalten und gehirngewaschen werden – so Adrian Zenz, ein Mann, der nach eigener Auskunft von Gott selbst geleitet wird. Das war allerdings kein Hindernis dafür, dass er im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ausführlich interviewt wurde…Klar – wenn man es sowieso so sieht, dass China grundlos Bürger einsperrt und quält, ist all das nur ein weiterer Beweis für die Bösartigkeit dieses Staates – und schon ist man fertig.
Für diejenigen, die damit nicht zufrieden sind, hier noch einige Informationen und Überlegungen:
Die Uiguren sind ein Turkvolk an der westlichen Grenze Chinas. Seit dem 19. Jahrhundert werden dort Kräfte berechnend angefeuert, die sich vom „Joch der chinesischen Herrschaft“ befreien wollen – von Grossbritannien, den USA, Deutschland und der Türkei.
Heute tritt der uigurische Separatismus als dschihadistischer Islamismus auf: 2009 mit einem Pogrom in Urumqui gegen Han-Chinesen, 134 Tote; 2013 mit einem Selbstmordattentat am Tienamen-Platz in Beijing, 3 Tote; 2014 mit einem Massaker am Bahnhof von Kunming, bei dem 8 Attentäter 31 Passanten umgebracht haben; 2014 Überfall auf ein Regierungs- und Polizeigebäude in Kashgar, bei dem 37 Zivilisten umgekommen sind; Überfall auf eine Kohlemine in Aksu mit 50 toten hanchinesischen Arbeitern. Die Organisation ETIM wird von Al Quaida finanziert und hat in Syrien, in Indonesien, Thailand und Afghanistan gekämpft. Auf das Pogrom in Urumqui reagierte der chinesische Staat mit einem Militär-Einsatz, angesichts der sich wiederholenden Anschläge mit einer Änderung seiner Politik gegenüber den Uiguren. Zuvor hatte sich die Führung in Beijing darauf verlassen, dass die ökonomische Entwicklung der Provinz auf Dauer ein genügend grosses „Integrations-Angebot“ auch an die zum Teil noch traditionell wirtschaftenden und nomadisierenden Uiguren darstellen und den Nährboden für ihre Unzufriedenheit austrocknen würde; nun setzt man auf eine Mischung von direktem Zwang und Angeboten.
Jörg Kronauer schreibt, dass in der Tat „Menschen in den Lagern ohne gerichtliches Urteil, gegen ihren Willen und über lange Zeit festgehalten, zur Veränderung ihres Verhaltens veranlasst und penibel überwacht werden. Weitere Vorwürfe, insbesondere den, dass in den Einrichtungen Gewalt und Folter angewandt würden, belegen sie (die Enthüllungspapiere China Cables) nicht. (…) Chinesische Stellen erklären stets, es handle sich um Einrichtungen, in denen Uiguren von ,terroristischen und extremistischen Gedanken' abgebracht und zugleich in der Landessprache unterrichtet wie beruflich fortgebildet werden sollen; es gehe darum, dem uigurischen Terrorismus langfristig den Nährboden zu entziehen.“ (Junge Welt, 5.12.2019)
Man kann mit Sicherheit davon ausgehen, dass das keine rational-aufklärende und auch keine sonderlich angenehme Sache ist, was in diesen Lagern veranstaltet wird – das kann es auch gar nicht sein, weil hier ein Staat versucht, einen Bevölkerungsteil, dem er misstraut, auf Linie zu bringen und irgendwie zur Loyalität zu erziehen.
Aber es ist eben auch eine ziemlich starke Strategie, wenn die USA an vielen Stellen der Welt die reaktionärsten und fundamentalistischsten Gruppen, die sie überhaupt finden können, aufhetzen und ausrüsten, weil es ihnen in ihren Konkurrenz-Überlegungen gerade nützlich erscheint. Ich erinnere nur mal an Afghanistan, Osama bin Ladin und seinen Kampf gegen die Sowjetunion. Hinterher, wenn ihnen das dann in die Quere kommt, halten sie dann ganze Kriege gegen den Terrorismus für nötig – mit allen dazu gehörenden Massakern, Bomben und Foltergefängnissen ein und bringen Hunderttausende um (siehe etwa das Buch von Michael Lüders zu Afghanistan). Dabei haben sie schon wieder die Moral auf ihrer Seite, denn das alles muss ja sein gegen diese „Mörder und Schlächter“ (die sie sich herangezogen haben!) Und nicht nur das: Wenn jemand ihre Gräueltaten öffentlich macht, wird seine Auslieferung verlangt und er wird mit lebenslanger Haft bedroht.)
Zurück zu China: Der „Völkermord“-Vorwurf will dem chinesischen Staat quasi abstreiten, dass seine Massnahmen auf einen tatsächlich virulenten islamischen Terrorismus in seinem Land zielen. Stattdessen soll er darauf aus sein, die uigurische Kultur auszulöschen – wobei „Völkermord“ oder „Genozid“ sich natürlich einiges drastischer anhören. Dabei wird selbst noch eingestanden, dass die Uiguren wie alle nationalen Minderheiten schon immer von der Ein-Kind-Politik ausgenommen waren. Aber vielleicht sollten unsere Zuhörer den Vergleich der chinesischen Massnahmen mit dem Anti-Terror-Krieg der USA und ihrer Bündnispartner selbst entscheiden.
In Hongkong wie bei den Uiguren mischen sich die USA stark als Kraft ein, die die dort existierende Unzufriedenheit von Menschen – und die gibt es immer, überall auf der Welt – berechnend anheizt, Oppositionsgruppen finanziert, PR-Aktionen macht usw. usf. Es ist eben so, dass Chinas weiterer Aufstieg natürlich auch davon abhängt, dass sein Wirtschaftswachstum ungestört weiter geht und seine Hoheit über Land und Leute funktioniert. Das ist die berühmte „politische Stabilität“, die für Kapitalanlage wichtig ist. An dieser Ecke greifen die USA China schon jetzt an und wollen es an einem empfindlichen Punkt stören; ein kleiner Bürgerkrieg im Land ist dafür allemal tauglich. Das hat dann umgekehrt die Konsequenz, dass der chinesische Staat jede oppositionelle Bewegung umso stärker unterbindet, weil er um die Möglichkeit weiss, dass sie vom Ausland gegen ihn in Stellung gebracht und stark gemacht wird…
Serienzusammenfassung und Ausblick
Daniel (99:1): Nun haben wir uns in vier Folgen mit der Entwicklung Chinas und der Kommunistischen Partei beschäftigt. Der Untertitel deines Buches heisst: “Ein Lehrstück über alten und neuen Imperialismus, einen sozialistischen Gegenentwurf und seine Fehler, die Geburt einer kapitalistischen Gesellschaft und den Aufstieg einer neuen Grossmacht”. Könntest du uns ein Fazit deiner Betrachtungen präsentieren: Was ist es genau, was man aus der Entwicklung Chinas lernen kann und vor allem: Was können Kommunisten aus den Lehren Chinas mitnehmen, für ihre eigenen emanzipatorischen Bestrebungen?Renate Dillmann: Da möchte ich eigentlich am liebsten, leicht verändert, den Schlussabsatz meines Buchs zitieren:
(1) Die beiden gravierenden »Mängel« der alten Sozialisten sind ihr staatsidealistischer Nationalismus und ihr Wertfetischismus. Die Lehre daraus: Eine sozialistische Gesellschaft, die den Staat als rettende Instanz einer gerechten Wertproduktion reorganisiert, eine sozialistische Gesellschaft, die zwar die Konkurrenz privater Eigentümer beseitigt, die vergesellschaftete Reichtumsproduktion aber erneut in den Dienst einer Nation stellt, überwindet das von ihr kritisierte System abstrakter Reichtumsproduktion nicht. Sie tritt an als radikaler Gegenentwurf zu Kapitalismus und Imperialismus, kommt aber mit einer gewissen Notwendigkeit zu dem Schluss, dass eben das doch die effektivere Form der Benutzung von Land und Leuten ist.
(2) Die kapitalistische Wirtschaftsweise des „gewendeten“ China bringt systemnotwendig das hervor, was zu ihren ungeliebten Begleiterscheinungen gezählt wird: Armut, Gewalt, Konkurrenz, Militarismus, Umweltzerstörung, Krieg. Die Lehre daraus: Eine andere Welt ist nicht zu haben, ohne die Gesetzmässigkeiten ihrer politökonomischen Ordnung zu begreifen und diese dann endlich auf den Müllhaufen der Geschichte zu befördern. Amerika und Europa zeigen seit 150 Jahren, wie „reformierbar“ der Kapitalismus ist. Die grundsätzlichen Widersprüche dieses Systems und die daraus resultierenden Schäden für die von ihm benutzten Menschen und die natürlichen Ressourcen dieses Planeten sind damit keineswegs beseitigt worden – im Gegenteil.
Eine Ergänzung, bezogen auf die heutige Situation, in der selbst ein nuklear ausgetragener Weltkrieg nicht mehr weit weg ist, nichts mehr ist, wovon nur die Marxisten immer gewusst und gesprochen haben: Es sollten sich alle überlegen, ob sie das jetzt auch noch mit sich machen lassen wollen: den ganze elenden Mist immer aushalten, nur damit es irgendwie weiter geht, und sich zum krönenden Abschluss auch noch von ihren Regierungen in den Weltkrieg reinziehen lassen. Sie sind das Material dafür, von ihnen werden die Opfer verlangt. Mit dem Verzichten geht es zurzeit ja schon gut los…