Olympia und eine überraschende Entdeckung: Chinesen sind begeisterte Patrioten „China jubelt“
Politik
Angesichts der Winterolympiade stellen westliche Beobachter immer wieder mit Bedauern fest, dass das chinesische Volk sich trotz aller materiellen Probleme, die es zu bewältigen, trotz aller gesellschaftlichen Ungleichheit, die es moralisch zu verarbeiten, und auch trotz aller behördlich-politischen Schikanen, die es zu erdulden hat, mehrheitlich einig weiss mit seiner politischen Führung.
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2. März 2022
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Es ist interessant, wie hellsichtig diese Leute sein können, wenn sie aus Ländern berichten, die ihnen nicht genehm sind. Da fällt den Profis in Sachen Weltbeobachtung glatt auf, was sie sonst eher selten und in ihren Heimatländern schon gar nicht feststellen können: Menschen, die nicht Nutzniesser der ökonomischen und politischen Verhältnisse sind, in denen sie leben, stehen »trotzdem« zu ihrer Regierung und »lieben« erklärtermassen und sogar ziemlich fanatisch die Nation, die ihnen doch ihr schäbiges Leben einbrockt. Den Nationalismus, den sie bei chinesischen Menschen im Unterschied zu anderen dieser Spezies also spielend dingfest machen, stellen sich die westlichen Journalisten andererseits ziemlich sonderbar vor.
Weil sie selbst der Ansicht sind, dass der chinesische Staat die Zustimmung seines Volks nicht verdient – hier äussert sich übrigens nichts anderes als ihr eigener Nationalismus, i.e. ihre Loyalität zu dem Staat, in dessen Herrschaftsgebiet es sie verschlagen hat und dessen innen- wie aussenpolitische Ansprüche, Sorgen, Standpunkte sie parteilich nachempfinden –, können sie sich gar nicht vorstellen, dass ein einfacher chinesischer Untertan es in diesem Land mit dieser Herrschaft aushält. Eigentlich, so denken sie, müsste hier ein Volk kurz vor der Revolte stehen, tut es dann doch aber nicht. Warum nicht? Weil das totalitäre Regime seine Massen mit nationalistischer Ideologie überschüttet und damit von dem ablenkt und abbringt, was eigentlich naheliegt: Kritik an den Verhältnissen zu üben.
Zwar ist es schon ein wenig widersprüchlich anzunehmen, ein Staat könne mit Goldmedaillen, geschickt dosiertem Antiamerikanismus etc. Menschen nationalistisch einwickeln, die sich gerade Widerstand gegen ihn auf die Fahne geschrieben haben. Was sollte die an den Erfolgen eines Staates beeindrucken, den sie doch gerade abschaffen wollen? Die Vorstellung, dass sich die Chinesen zum Nationalismus verleiten lassen, statt zu protestieren, verrät aber, dass ihre selbsternannten westlichen Betreuer sehr ungeniert der Idee anhängen, dass man Massen nach Belieben manipulieren könne.
Im Falle Chinas ärgern sie sich zwar darüber, dass die (angebliche) Manipulation funktioniert; aber genau damit gestehen sie ein, dass es ihnen im Prinzip enorm einleuchtet, wenn eine Staatsmacht ihre Untertanen mit Demonstrationen staatlichen Erfolgs – weltpolitisch genauso wie auf der Ebene extra dafür veranstalteter Sportereignisse – beeindruckt und begeistert.
Wahr an dieser Wunschvorstellung manipulativer Lenkung ist lediglich, dass man nationale Gefühlswallungen anfachen kann – genau das wollen die Staaten, die so etwas veranstalten oder ihre Sportler dorthin schicken, ja auch, ob in Deutschland bei der WM oder in Beijing bei der Olympiade. Dies unterstellt allerdings immer, dass es die Gefühle, die man in patriotische Wallungen versetzen will, bereits gibt.
So verhält es sich auch in China: Das Volk steht auch dort in seiner grossen Mehrheit loyal zu seiner Führung und patriotisch zu seiner Nation – erklärenswert ist das allemal, auch wenn sich die Haltung dieses Volks, die man durchaus zu Recht als Nationalismus kennzeichnen kann, in nichts von anderen Völker unterscheidet. Wie alle Völker nämlich behandelt auch das chinesische das, was ihm seine Führung ökonomisch und politisch auferlegt, schlicht als die alternativlose, quasi-natürliche Bedingung, unter der es sein Leben zu führen hat.
Es streckt sich nach der Decke – und wenn das jetzt unter den Vorzeichen einer »kapitalistischen Marktwirtschaft« zu passieren hat statt wie früher unter dem »Banner des Sozialismus«, dann tut es das in beiden Fällen in durchaus ähnlicher Manier: Angesichts eines Programms, das getrennt von ihm beschlossen wird, sucht es damit zurechtzukommen und für sein privates Leben das Beste daraus zu machen. Auf diese extrem unspektakuläre Art, schlicht indem es mitmacht, was verlangt oder auch nur rechtlich erlaubt wird, setzt ein Volk – in diesem Fall das chinesische – ganz grundsätzlich die Berechnungen seiner Herrschaft in Kraft: Es arbeitet auf den Feldern und in den Fabriken, es zahlt Steuern und zieht seine Kinder gross, es lässt sich verwalten und stellt im Ernstfall Soldaten, die die Nation und ihr Territorium bzw. ihre Ansprüche verteidigen. So funktioniert der Dienst des Volks an der Nation in seinem ganz elementaren Sinn – also lange, bevor »Hurra« gerufen oder mit einer Fahne gewedelt wird; und so funktioniert er auch gerade dann, wenn die Menschen das, was sie tun, für ihr ganz privates Leben halten, in dessen Intimsphäre kein Staat etwas zu suchen hat.
Zu dieser meist ganz ohne bewusste Entscheidung, allein durch die Bewältigung des eigenen Alltags stattfindenden praktischen Loyalität gegenüber der Staatsgewalt, auf deren Territorium jemand zufällig das Licht der Welt erblickt hat, tritt eine zweite explizite Loyalität hinzu. Dass sie in allen möglichen Fragen abhängig sind von der überlegenen Macht, die eine staatliche Herrschaft allemal auszeichnet, nehmen Völker wie einen guten Grund dafür, sich positiv zu dieser Macht zu stellen.
Sie begreifen den Umstand, dass sie dieser Macht alternativlos unterworfen sind, als quasi natürliches Verhältnis wechselweisen Schutzes und Aufeinander-Angewiesenseins. Sie denken (und handeln) darin in etwa wie Kinder, die ihre Eltern, von denen ihr Leben sehr elementar abhängt, auch dann lieben, wenn sie von ihnen weder sonderlich gut behandelt noch zurückgeliebt werden. Ganz analog halten Angehörige eines Volks die besondere Herrschaft, der sie durch den Zufall ihrer Geburt unterworfen sind, für etwas, was ihnen nahe steht und ihnen – im Unterschied und im Gegensatz zu anderen Herren in dieser Welt – entspricht.
Auch die chinesischen Menschen begreifen sich zumindest mehrheitlich auf Basis dieses Gedankens als nationales Kollektiv. Praktisch setzt ihr Staat sie heute in ein allseitiges Verhältnis der ökonomischen Konkurrenz, produziert jede Menge Unterschiede und Gegensätze zwischen ihnen. Als politisch denkende Bürger begreifen sie sich dessen ungeachtet als Teil eines Ganzen, zu dem alle gehören, die der Herrschaftsanspruch ihres Staates umfasst: Nutzniesser und Geschädigte, Herrscher wie Beherrschte.
Materielle Unterschiede und Gegensätze, oben und unten – all das spielt keine Rolle, wenn in dieser Art gedacht und nur das grosse »Wir« gesehen wird. Weil sie sich von ihrer Staatsgewalt praktisch in vielfacher Weise, wenn auch mit unterschiedlichem Erfolg, abhängig wissen, wünschen sie ihr und ihren Vorhaben prinzipiell gutes Gelingen. So teilen sie als Staatsbürger ideell den Standpunkt ihrer Herrschaft, dass das Funktionieren des »grossen Ganzen« sich nach innen gegen die vielen privaten Egoismen und nach aussen gegen konkurrierende Nationen durchsetzen muss.
Ausgerechnet ihre vollständige Unterordnung unter eine Macht, die mit Vorschriften und Vorgaben die Bedingungen ihres Lebens setzt, ist die objektive Grundlage für den Fehler von Leuten, sich als Volksangehörige mit all dem zu arrangieren und sogar zu identifizieren; und mit dieser affirmativen Einstellung zu ihrem Untertanendasein machen sie das Herrschaftsverhältnis erst so richtig stark und stabil.
Mündige Staatsbürger sehen das allerdings ein wenig anders. Sie halten es normalerweise für eine absolute, nicht weiter zu hinterfragende, geschweige denn kritikable Selbstverständlichkeit, Deutsche, Franzosen, Chinesen zu sein und sich als solche »zu fühlen«. Danach gefragt, was der Inhalt ihres »Nationalgefühls« ist, wissen sie zwar oft nicht viel zu sagen. Das macht aber nichts, denn zwei Grundelemente reichen völlig hin: Erstens der durch nichts zu erschütternde Eindruck, dass man im eigenen Staat allemal besser aufgehoben ist als in einem fremden – ein Eindruck, den man sich an den Bewohnern fremder Herrschaftsgebiete mit ihrem eigentümlichen Aussehen, ihren merkwürdigen Sitten und ihrem fragwürdigen Geschmack jederzeit unschwer verdeutlichen kann. Und zweitens die Freiheit, sich für die besondere Vorzüglichkeit der eigenen Nation eine passende Bebilderung vorzustellen – Heimat (in der man seine Kindheit verlebt hat), Landschaft, Kultur (Dichter und Denker) oder auch Lebensart (Frühlingsfest), so dass einem irgendwie warm ums Herz wird. Womit man sich auf dieser Vorstellungs- und Gefühlsebene alles gemein macht und was man sich damit alles einhandelt, wenn man als national denkender Zeitgenosse in die Pflicht genommen wird, daran darf man keinen Gedanken verschwenden; das wäre »zersetzend«. Ausser linken Skeptikern fragt danach aber sowieso niemand, weil im Grunde alle das seltsam abstrakte Gefühl, das einen Menschen, der einer Gewalt unterworfen ist, mit dieser und mit allen anderen, die im selben Verhältnis zu ihr stehen, zusammenschliesst, für etwas ganz und gar Normales halten.
In dieser Art und Weise sind also auch Chinesen in ihrer übergrossen Mehrheit ganz normale Nationalisten. In ihrem Leben befolgen sie die Vorgaben ihrer chinesischen Herrschaft und verhelfen damit ihrem Staat zu mehr Mitteln: Sie arbeiten an seiner Exportbilanz mit, sie zahlen ihm Steuern, sie sorgen für eine nächste arbeitswillige und -fähige Generation und sie denken und fühlen als chinesische Patrioten. Und tatsächlich unterstützt der chinesische Staat sein Volk bei dem, was es (auf Basis seiner pro-marktwirtschaftlichen Grundentscheidung) zu tun hat – das ist schliesslich Interesse und Aufgabe einer Regierung, die will, dass die Reichtumsvermehrung auf ihrem Territorium funktioniert und wächst. Das heisst zwar überhaupt nicht, dass die Politiker einem grösseren Teil ihrer Untertanen dazu verhelfen, dass deren Lebenspläne aufgehen. Aber die chinesische Staatsgewalt erweist sich dauernd und in allen möglichen Lebenslagen als unumgängliche und notwendige Bedingung dafür, dass private Interessenverfolgung überhaupt stattfinden kann: Mit ihrem Arbeitsrecht sorgt sie für mehr Sicherheit bei den Wanderarbeitern, die ihren Lohn von den Unternehmen wollen; mit ihren staatlichen Aufkaufpreisen sorgt sie für eine gewisse materielle Existenzsicherung der Bauern; mit Strassen und Bussen sorgt sie in den Städten dafür, dass die Leute zur Arbeit kommen usw. usf.
Auf dieser Basis deuten die chinesischen Menschen – wie auch sonst in der Welt üblich – all das, was sie stört und ihr Leben beeinträchtigt, als Versäumnis oder Fehler ihrer Regierung. Sie drehen das wirkliche Verhältnis – eine Herrschaft organisiert das Leben ihres Volks so, dass ihre staatlichen Mittel möglichst grösser werden – ideell um: Für sie hat »ihr Staat« die Aufgabe, sich um die Sorgen des Volks zu kümmern. Chinesische Menschen messen ihre Politiker daran, ob sie eine gute, fürsorgliche Herrschaft auf die Beine stellen, nehmen zu ihr also ein ganz unangebracht zutrauliches Verhältnis ein – und zwar auch und gerade dann, wenn sie sich ärgern und beklagen, dass ihnen in ihrem Alltag Unrecht geschieht.
Sogar wenn deutlich wird, dass das mitnichten nur in Einzelfällen passiert, sondern sich Millionen geschädigt und unter wenig hoffnungsvolle Perspektiven gesetzt sehen – auf ein zugrunde liegendes Prinzip, auf den notwendigen Gegensatz von oben und unten, wollen sie nicht schliessen. Stattdessen hofft jeder für sich, dass es doch irgendwann und irgendwo gerecht zugehen muss – bei der nächst höheren Stelle, der er seine Bitten vorträgt, oder schlussendlich wenigstens bei der Regierung in Beijing.
Das chinesische Volk steht in seiner grossen Mehrheit loyal zu seiner Führung und patriotisch zu seiner Nation – über diese Feststellung kann man sich, und zwar in sehr unterschiedlicher Hinsicht, ärgern.
Die westliche Öffentlichkeit sympathisiert sehr berechnend mit Äusserungen von Unzufriedenheit gegenüber dem chinesischen Staat. Dort, in China, setzt man sich für arme Bauern ein, für Bürger, denen Unrecht geschehen ist, für Meinungsfreiheit, für unterdrückte Minderheiten. Mit solchen Beiträgen profilieren sich Journalisten liebend gerne, die hier neue EU-Agrarbeschlüsse, die Kleinbauern ihre Existenzgrundlage entziehen, mit dem Etikett »unumgänglich« belegen, die Agenda 2010 eher für zu rücksichtsvoll im Umgang mit »sozialen Besitzständen« halten, abweichende Meinungen grundsätzlich aus ihrer Presse und ihrem Fernsehen heraushalten und von Demonstranten immer nur das eine wissen wollen, nämlich wie sie es mit der Gewalt halten (nicht der natürlich, die über sie herrscht, sondern den Steinen, die eventuell mal die Scheibe eines Bankgebäudes treffen).
Dass sich die von den marktwirtschaftlichen Praktiken Geschädigten wirklich erheben und jeder Art von Staatsgewalt, die sie für ihr nationales Erfolgsprogramm benutzt, ein für alle Mal die Treue kündigen und zukünftig die praktische Gefolgschaft verweigern – das wollen all die mitleidigen, entsetzten und aufgewühlten Redakteure natürlich überhaupt nicht, dort nicht, auf keinen Fall aber hier.