MEDITATION AUF EINER MÜLLDEPONIE
In einem Vorort von Kalkutta (offiziell Kolkata) stehen Moon und ich auf einen Müllberg. Krähen kreisen über dem Gelände.Vor uns laufen einige Schweine vorbei, um dann eine Tüte mit einem schwer definierbaren Inhalt auseinander zu reissen. Beladene Laster rollen den Weg hinauf und hinterlassen Sandwolken in der ohnehin schon völlig staubigen, schweratmigen Luft.
Dazwischen suchen Kinder im Müll nach Plastik, Papier oder anderen noch verwertbaren Materialien, um sie dann zu einem Minimalbetrag an einen Zwischenhändler weiterzuverkaufen.
Wer eine Megacity wie Kalkutta zumindest ansatzweise von Innen heraus kennen lernen will, der sollte den Reiseführer mit den Beschreibungen der kolonialen britischen Prachtbauten zur Seite legen und sich auf die Suche nach den eigentlichen Gesichtern der Stadt machen.
Zweifellos entsprechen derartige Mülldeponien und die umgebenden Slums nur einer Seite der Stadt. Doch gerade hier finden auf einer lokalen Ebene ganz unmittelbar die globalisierten Mechanismen sozialer Ausbeutung und ökologischer Zerstörung einen Ausdruck.
Als Gäste der Menschen auf diesem Müllberg kommen in uns Fragen nach Wertigkeiten und den Gestaltungsmöglichkeiten von Lebenswegen auf. Schweigend laufen wir umher, verweilen, lassen die Atmosphäre auf uns wirken, nehmen sie auf, tauchen in sie hinein. Wohl wissend, dass wir uns als Aussenstehende, die diesen Platz bald wieder verlassen werden, dieser Wirklichkeit nur annähern können.
Der Prozess gleicht einer urbanen Meditation, die keinen Tempel sucht und keinem imaginären Gott huldigt, sondern sich in die konkrete Erfahrung begibt. Eine Erfahrung, die für unzählige Menschen auf diesem Erdball der alltäglichen Realität entspricht.
Als wir uns durch die Müllschichten einen Weg bahnen, kommen uns drei Kinder entgegen. Ihr Lebensinhalt besteht zu einem wesentlichen Teil in der Arbeit auf dieser Halde. Und doch strahlen sie während unseres Gespräches von Innen heraus durch ihre Augen, ihre Worte und ihre tanzenden Bewegungen.
Am Ende erhebt einer von ihnen kämpferisch die Faust. Sie ist gegen niemanden direkt gerichtet, sondern vielmehr ein Zeichen der lächelnden Lebendigkeit in einer zerstörenden Umwelt.
DER ABGEBROCHENE BLEISTIFT
Mehrere Slum-Siedlungen haben sich am Subhas Sarovar gebildet, einem idyllischen, aber völlig verunreinigten See im Ostteil von Kalkutta. Dort unterhalte ich mich in gebrochenem Englisch, sowie mit Zeichensprache und vor allem beiderseitig guten Willen mit einigen BewohnerInnen. Anfangs geht es um unsere Familien, anschliessend im Zuge eines lockeren Gekickes mit einem fast platten Ball auch um Fussball.Eine Zeit lang steht die vergebliche Hoffnung im Mittelpunkt, ich könnte Arbeit vermitteln. Es folgt eine fragmentarische Diskussion über materielle Armut und inneren Reichtum.
Einige Kinder schrieben ihren Namen oder zeichneten ebenfalls auf den Zettel.
Meist waren es einfache Motive aus der direkten Umgebung, wie einige Häuser und Bäume. Dazwischen finden sich einige tanzende Menschen mit lächelnden Gesichtern.
Am folgenden Tag versuche ich den Kontakt weiter zu entwickeln, in dem ich an weitere Kinder Zettel, Stifte und auch Spitzer verteile. Ich hatte mich bewusst für Bleistifte aus abbaubarem Holz entschieden, um nicht durch Filzstifte oder Kulis zur weiteren Anhäufung des Plastikmülls beizutragen.
Nicht ausreichend bedacht hatte ich jedoch, dass die meisten Kinder keine Erfahrung mit Bleistiften hatten bzw. ohnehin kaum einmal in ihrem Leben geschrieben oder gezeichnet haben. Zum Teil drückten so deshalb viel zu fest mit dem Stift auf den Untergrund, so dass bei vielen Kindern gleich die Spitze abbrach.
UNTER DEM STAUB EIN LÄCHELN
Die Behausungen in den Slums bestehen zumeist aus Blech- und Holzplatten, über die an einigen Stellen löchrige Planen gespannt sind. Alles ist von einer grauen Staub- und Schmutzschicht überzogen. An einer Hütte ist darunter noch ein Verkaufsslogan und ein breit lächelndes Gesicht zu erkennen, das klar macht, dass diese Abtrennwand einst zu einem grossformatigen Werbebanner gehörte.Im Inneren befinden sich kaum mehr als ein Gestell mit einigen Tüchern als Schlafplatz, einige Gebrauchsgegenstände und als farbenfroher Gegensatz zur sonstigen Umgebung spirituelle Bilder. Es gibt weder fliessendes Wasser noch elektrischen Strom.
Beissender Smog durchzieht die gesamte Stadt. Insbesondere in den ärmeren Vierteln von Kalkutta sind die Strassen von Müll übersät. Eine Entsorgung von Seiten der Stadt ist bestenfalls eingeschränkt gegeben.
Öffentliche Müllbehältnisse sind nicht vorhanden, stattdessen bilden sich in den Strassen teilweise Müllhaufen, die dann wieder von SammlerInnen durchwühlt werden. Offensichtlich ist, dass ein ökologisches Bewusstsein kaum vorhanden ist bzw. in Anbetracht der umgebenden Bedingungen gegebenenfalls auch nur eingeschränkt umgesetzt werden kann.
Die künstlichen Rinnsale direkt am Strassenrand werden gleichermassen zur Hygiene, zum Waschen von Geschirr und Kleidung, teilweise auch als Toilette, sowie zudem oftmals zur Abschöpfung von Trinkwasser genutzt.
Auffallend ist immer wieder die Genügsamkeit mit der in Indien zumeist derartige Lebenswelten angenommen werden.
Verwurzelt ist sie in den religiösen Annahmen, dass das derzeitige Leben nur eines von vielen ist. Die besondere Ausgestaltung der derzeitigen Existenz sei wesentlich vom vorherigen Leben mitbestimmt und beeinflusst wiederum zukünftige Wiedergeburten.
Diese Grundhaltung eröffnet zum Teil eine beachtliche Gelassenheit und innere Ausgeglichenheit. Sie führt jedoch zum Teil auch in eine Schicksalsergebenheit, die notwendige gesellschaftliche Veränderungen vernachlässigt bzw. die Möglichkeit eines besseren Lebens auf einer persönlichen Ebene in nächste Inkarnationen verlagert.
Inzwischen leben wohl weit über 15 Millionen Menschen in Kalkutta und den diversen Randgebieten. Auf den ersten Blick gleicht die Stadt einem riesigen Chaos, wobei insbesondere die Slums unüberschaubar erscheinen. Doch gerade hier haben sich vielfältige gemeinschaftliche Strukturen herausgebildet.
Getragen sind sie auf vielen Ebenen von gegenseitiger Hilfe und Solidarität, wie auch von Improvisation, Genügsamkeit und einer grundlegend positiven Lebenshaltung.
Fliessend sind jedoch die Übergänge zu Bereichen, in denen der ständige Überlebenskampf vom Recht des Stärkeren bestimmt wird.
DIE VERKAUFTE REVOLUTION
In den ärmeren Vierteln findet sich vielfach das rote Hammer-und-Sichel-Symbol an den Hauswänden. Im Bundesstaat Westbengalen bzw. in seiner Hauptstadt Kalkutta steht es jedoch nicht für eine im Untergrund agierende kommunistische Gruppe, sondern für die dort seit weit über dreissig Jahren regierende "Communist Party of India (Marxist)".In keinem anderen Land gelang es einer kommunistischen Partei in freien demokratischen Wahlen über einen vergleichbar langen Zeitraum immer wieder gewählt zu werden.
Von der einstigen revolutionären Kraft oder gar von der Vision einer tatsächlich gerechten Gesellschaft ist jedoch auch in Kalkutta kaum etwas übrig geblieben. Die Partei verweist zwar auf Fortschritte hinsichtlich einer gerechteren Landverteilung und der Bekämpfung der Armut, doch faktisch erinnert gerade in Kalkutta die reale Politik eher an sozialdemokratische oder neoliberale Positionen.
Die gegenläufigen Entwicklungen fanden 2007 bei den Auseinandersetzungen um die Errichtung einer "Special Economic Zone" in der Provinzstadt Nandigram einen tragischen Höhepunkt. Grosse Teile der Bevölkerung wehrten sich gegen Landenteignungen zugunsten eines Unternehmens, das unter anderem den Bau einer Chemiefabrik plante.
Der Widerstand wurde auf Anordnung der Kommunistischen Partei durch bewaffnete Polizeikräfte gewaltsam niedergeschlagen. Vierzehn AktivistInnen der Potestbewegung kamen dabei zu Tode.
Allgemein wird damit gerechnet, dass die Kommunistische Partei die 2011 anstehenden Wahlen klar verlieren wird. Doch unabhängig von der politischen Ausrichtung der regierenden Parteien krankt das politische System in weiten Teilen an Machtmissbrauch, Korruption und Vetternwirtschaft, sowie an einer Ignoranz gegenüber ökologischen Aspekten.
Insbesondere die Veränderungsprozesse, die in den Slums eine Bedeutung erlangen, werden zumeist nicht von den Parteien angestossen, sondern vielmehr von den Graswurzelprojekten, die an der Basis vor Ort aktiv sind.
SEX-WORKER AND STREET-ARTISTS
Zu den grössten Graswurzelgruppen gehört die in der Mitte der neunziger Jahre gegründete Organisation Durba, der in Westbengalen rund 65.000 Sex-ArbeiterInnen angehören. Inzwischen kann Durba auf eine Reihe von Erfolgen blicken. So gelang es durch AIDS-Aufklärungskampagnen und ein geschlossenes Auftreten den lange von den meisten Freiern abgelehnten Gebrauch von Kondomen zu einer Selbstverständlichkeit zu machen.Eingerichtet wurden besondere Angebote für Sex-ArbeiterInnen in den Bereichen Gesundheitsversorgung, Kinderbetreuung und Kultur, sowie unter anderem auch zur Geldverwaltung. Zudem förderte der Zusammenschluss eine grundlegende Solidarisierung, wie auch die Entwicklung eines gestärkten Selbstbewusstseins. So gehen Durba-AktivistInnen inzwischen im Rotlichtviertel von Kalkutta auch militant gegen gewaltsame Freier oder Zuhälter vor.
Zentral für die Entwicklung Kalkuttas ist der Bereich der Bildung. Hier spiegeln sich besonders deutlich die sozialen Gegensätze, die für ganz Indien charakteristisch sind. Während Kalkutta inzwischen zu den führenden Städten der IT-Branche in Indien zählt, haben viele Slum-BewohnerInnen kaum Rechen- und Schreibkenntnisse. Die Analphabetenrate liegt bei rund 20 Prozent.
Solange das staatliche Schulsystem nur einen begrenzten Teil der Bevölkerung erreicht, sind gerade in den Armenvierteln der Stadt Bildungsprojekte von grosser Bedeutung, die von Basisgruppen und Hilfsorganisationen getragen werden. So konzentriert sich das Projekt "H.E.L.G.O. - Help for Education and Life Guide Organisation" auf Kinder, die zum Teil schon ab dem achten Lebensjahr arbeiten müssen. Das Projekt erstattet den Familien den geringen, aber lebensnotwendigen Lohn unter anderem in Form von Lebensmitteln und Gebrauchsgütern unter der Bedingung, dass die Kinder nicht mehr arbeiten müssen und stattdessen regelmässig zur Schule gehen.
Unter dem Motto "Art for Positive Change" organisiert Magic Wallrush in Kalkutta kulturelle Projekte, die in den öffentlichen Raum eingreifen. So organisierte die Gruppe eine Ausstellung mit Werken junger, engagierter KünstlerInnen, die direkt in einer Strasse an Zäumen, Absperrungen und Hauswänden aufgehängt wurden. Die Mitglieder von Magic Wallrush gehören auch zu den InitiatorInnen des Ujaan-Festivals, das dem Erhalt der für das Ökosystem äusserst wichtigen Sundarbans-Mangrovenwälder gewidmet ist.
Wie alle anderen Megacitys der Gegenwart schliesst Kalkutta unzählige soziale Abgründe ein. Zunehmend verschärfen sich zudem die ökologischen Problematiken. Die neoliberale Ideologie des unablässigen Wachstums verdrängt diese Entwicklungen nicht nur, sondern nimmt sie unter der Maxime der Profitsteigerung bewusst in Kauf.
Ein Gegengewicht bilden immer wieder lokale Graswurzelprojekte, in denen sich zumindest in Ansätzen auf einer praktischen Ebene die Visionen einer gerechten Gesellschaft widerspiegeln.