Ein Aufruf zur Solidarität mit den politischen Gefangenen des iranischen Regimes Damit die Bewegung „Frau, Leben, Freiheit“ nicht stirbt!
Politik
Wir denken, wahre Solidarität mit den Kämpfen der Unterdrückten muss auch den Schutz des Lebens und der Freiheit derjenigen beinhalten, die wegen dieser Kämpfe unter Folter und Qualen in den Gefängnissen sind.
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20. Oktober 2022
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Seit mehr als drei Wochen sieht die Welt ein neues Gesicht vom Iran, das auf die politische Subjektivität der Unterdrückten hinweist und nicht auf die übliche Show der Eliten des diktatorischen Regimes. Die Ermordung von Jina (Mahsa) Amini durch die Polizei war der Funke für einen breiten Aufstand gegen Frauenfeindlichkeit, Unterdrückung und Ungerechtigkeit, der sich in der Verbreitung des Slogans „Frau, Leben, Freiheit“ manifestierte.
Dieser freiheitsliebende und gegen Unterdrückung gerichtete Aufstand hat insbesondere durch die mutige Präsenz von Frauen und ihren Forderungen weltweit viel Aufmerksamkeit erregt und viele Hoffnungen geweckt. Obwohl dieser sich selbst entfaltende Freiheitskampf eine revolutionäre Perspektive sucht, ist er ein völlig ungleicher Kampf zwischen den Protestierenden mit leeren Händen und einer brutalen Diktatur, die ihren Repressionsapparat seit Jahrzehnten mit Ölgeld ständig erweitert hat. Trotzdem gehen die Demonstrant:innen weiter auf die Strasse und nehmen dabei eine weitreichende Repression und Gefahr für ihr Leben in Kauf.
Das islamische Regime versucht, wie bereits bei den vorangegangenen Aufständen, die Menschen durch verschärfte Repressionen einzuschüchtern und zu terrorisieren. Die individuellen Kosten für die Proteste werden so erhöht, damit weniger Menschen den Kampf fortsetzen können oder bereit sind, sich den Strassenprotesten anzuschliessen. Beispielsweise wurden allein in der Stadt Zahedan in weniger als einer Stunde mehr als 90 Demonstrierende von den Polizeikräften erschossen. Nach Schätzungen unabhängiger Menschenrechtsorganisationen wurden bislang mehr als 200 Menschen getötet und Tausende inhaftiert. Die Proteste und die blutige Unterdrückung gehen in einer Situation weiter, in der das Internet im Iran praktisch abgeschaltet worden ist.
Gleichzeitig forcieren der Propagandaapparat des Regimes und seine Justiz- und Repressionsorgane den Unterdrückungs- und Terrorisierungsprozess auf einem anderen Gebiet: Sie werfen den Verhafteten vor, gegen die nationale Sicherheit zu sein und behaupten, die Teilnehmer:innen dieser Proteste stünden unter dem Einfluss ausländischer Feinde des Iran. Diese Anschuldigungen richten sich auch gegen Aktivist:innen aus verschiedenen Bewegungen (Arbeiter:innen; Frauen; Lehrer:innen; Student:innen; ethnische, religiöse und sexuelle Minderheiten), sowie Umweltschutz- und Menschenrechtsaktivist:innen. Einige der Aktivist:innen wurden schon Monate oder Wochen vor Beginn des Aufstands festgenommen; andere „präventiv“ während des Aufstands, ohne überhaupt an den Protesten beteiligt gewesen zu sein.
Das Regime nutzt die derzeitige turbulente Situation aus, um durch falsche Anschuldigungen, wie z.B. einer vermeintlichen Verbindung inhaftierter Aktivist:innen mit ausländischen Geheimdiensten, mehr Druck auf politische Gefangene ausüben und härtere Strafen durchsetzen zu können. Das Ziel dieser Verhaftungen und Anschuldigungen ist, weitere bevorstehende Aufstände von den Erfahrungen von organisierten Kräften zu isolieren - zumal die Achillesferse der Regierung eine Kombination aus Strassenprotesten und weitreichenden Streiks (bis hin zum Generalstreik) wäre.
Alle wissen, dass es im politischen System des Iran nicht einmal das Minimum an juristischer Gerechtigkeit gibt und dass die Hinrichtung oder der verdächtige Tod von politischen Gegner:innen in den Gefängnissen keine Seltenheit sind. Was in den Gefängnissen passiert, wird nicht aufgezeichnet und hat kein Publikum. Üblicherweise werden die Gefangenen unter Folter zu Geständnissen und sich selbst belastenden Aussagen vor laufender Kamera gezwungen. Als eine Gruppe von im Exil lebenden politischen Aktivist:innen und ehemaligen Gefangenen aus dem Iran, die teilweise das Massaker an politischen Gefangenen im Jahr 1988 überlebten, sind wir sehr besorgt über die menschliche Katastrophe, die sich aktuell in den iranischen Gefängnissen abspielt. Denn nach zahlreichen Erfahrungen und Belegen weitet das Regime die brutale Unterdrückung der Strassenproteste auch in den Gefängnissen aus.
Wir erwarten von allen humanistisch denkenden Menschen der Welt, nicht nur aktiv gegen die blutige Unterdrückung der Demonstrant:innen Initiative zu ergreifen, sondern auch die Stimme der politischen Gefangenen des iranischen Regimes zu sein. Wir denken, wahre Solidarität mit den Kämpfen der Unterdrückten muss auch den Schutz des Lebens und der Freiheit derjenigen beinhalten, die wegen dieser Kämpfe unter Folter und Qualen in den Gefängnissen sind. Wir fordern nachdrücklich von den Aktivist:innen und politischen Organisationen weltweit, alles ihnen möglich zu tun, um den Druck auf das iranische Regime - insbesondere zur Freilassung politischer Gefangener - zu erhöhen.
Dazu zählt nicht nur die Verbreitung des vorliegenden Aufrufs, sondern auch permanente Öffentlichkeitsarbeit sowie Aktionen, wie z.B. Kundgebungen vor iranischen Konsulaten und Botschaften unter Bezugnahme auf die Situation der Gefangenen. Zudem fordern wir alle politischen Organisationen und Aktivist:innen sowie Menschenrechtsorganisationen dazu auf, Druck auf die lokale und nationale Politik auszuüben, um diese zu konkreten Reaktionen bezüglich der brutalen Repression sowie Inhaftierung, Folter und Hinrichtung von politischen Gefangenen durch das iranischen Regime zu zwingen.
Lasst uns die Parole „Frauen, Leben, Freiheit“ mit unserem individuellen und kollektiven Handeln am Leben erhalten und entfalten. Denn dieser Kampf und Slogan gehört allen, die eine freie und gleichberechtigte Welt wollen. Hoch die Internationale Solidarität!