Aufruf zur Solidarität mit den erneuten Massenprotesten in Khuzestan/Iran Das Schweigen brechen
Politik
Weitgehend ignoriert von den Mainstream Medien aber auch einer linken Öffentlichkeit finden seit mehr als 10 Tagen erneute Grossdemonstrationen in mehreren Städten im Südwesten Irans statt.
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5. August 2021
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Die Proteste finden vor allem nahe der irakischen Grenze statt, in der Provinz Khuzestan, deren Süden überwiegend von der arabischen Minderheit im Iran bewohnt wird. Die iranische Regierung führt seit Jahrzehnten eine gezielte Vertreibungs- und Verarmungspolitik gegen die arabische Minderheit durch, die sich nicht in die nationalistische Staatslogik einbinden lässt und für ihr Recht auf kulturelle Selbstbestimmung kämpft.
Denn anders als das nationalistische Staatsnarrativ glauben lassen möchte, gehört ein Grossteil der Bevölkerung des Iran unterschiedlichen ethnischen Minderheiten an, wie z.B. Aserbaidschaner*innen, Kurd*innen, Lor*innen, Araber*innen, Balutsch*innen, Turkmen*innen, Afghan*innen etc. Bereits während der iranischen Revolution hatten linke Bewegungen in der Region einen grossen Einfluss und auch während der letzten Massenproteste 2018 und 2019 fanden in vielen Städten in Khuzestan grosse Demonstrationen statt.
Für das Regime geht es um den ungehinderten Zugriff auf und die Kontrolle über die Öl- und Gasindustrie in der Provinz, denn ca. 90% der iranischen Öl- und Gasproduktion stammen aus Khuzestan und 8 % der weltweiten Ölreserven liegen dort. In den letzten 40 Jahren hat das iranische Regime mit einem erzwungenen Bevölkerungsaustausch versucht, die Provinz zu „iranisieren“.
Dabei wurden mehr als 200.000 Hektar Land von arabischen Kleinbäuer*innen beschlagnahmt und auf persische Siedler*innen übertragen. Auch Arbeitsplätze in der Öl- und Gasindustrie, der Verwaltung oder dem Dienstleistungssektor sind der persischen Bevölkerung vorbehalten. Viele grundlegende Rechte werden der arabischen Bevölkerung verwehrt, die Provinz befindet sich seit Jahren in einem militärischen Ausnahmezustand.
Neben der Öl- und Gasindustrie gibt es kaum andere Industrien in der Provinz, die vom Irak-Iran-Krieg am meisten betroffen war und in grossen Teilen zerstört wurde. Bis heute sind die Folgen des Krieges deutlich zu sehen, ein Wiederaufbau ist nicht in Sicht. Der Grossteil der arabischen Bevölkerung lebt vor allem von Subsistenzlandwirtschaft und Tierzucht. Die ökologischen Bedingungen in der Region sind für sie ein wichtiger Faktor, um zu Überleben.
Ähnlich wie die türkische Regierung hat auch der Iran in den letzten Jahrzehnten riesige Staudamm- und Flussumleitungsprojekte geplant und umgesetzt. Laut der Zeitung Resalat wurden an den Flüssen Khuzestans und deren Zuflüssen insgesamt 170 Dämme errichtet. Laut den Informationen der Regierung sind noch mehr als 150 Staudammbau- und Wasserumleitungsprojekte in Planung, viele davon an den Flüssen, die durch Khuzestan filessen.
Ziel ist es, Wasser für die Industrien und das Agrobusiness in anderen Provinzen zur Verfügung zu stellen und der militärisch-ökonomischen Elite des Landes ein lukratives Geschäft einzubringen. Inzwischen zählt der Iran nach China zum zweitgrössten Staudammbauer der Welt. Neben Staudämmen wurden auch zahlreiche Flüsse aus der Region umgeleitet, um Wasser in andere iranische Provinzen zu transportieren. Durch die Flussumleitungen und Staudämme wurden nicht nur tausende von Dörfern überflutet und die Bewohner*innen vertrieben, sondern auch das natürliche Ökosystem der Region nachhaltig zerstört.
Viele der Flüsse und Seen in der Region sind inzwischen ausgetrocknet, viele der Kleinbäuer*innen können ihre Felder nicht mehr ausreichend bewässern, ganze Tierherden sind verdurstet. Die Staudamm- und Wasserpolitik führt zu einer künstlich erzeugten Dürre und verschärft die Auswirkungen des Klimawandels auf die Region massiv.
Vor dem Hintergrund der jahrzehntelangen systematischen Diskriminierung, der staatlich produzierten Armut sowie Vertreibungs- und Wasserpolitik lieferte eine akute (Trink-) Wasserknappheit sowie in deren Folge zahlreiche Stromausfälle den aktuellen Anlass für den Ausbruch der Massenproteste. Seit etwa 10 Tagen gehen in fast allen Städten, Dörfern und Gemeinden der Provinz jeden Abend Tausende von Menschen auf die Strassen.
Sie fordern nicht nur konkrete Veränderungen ihrer Lebenssituation, sondern vielfach auch ein Ende der Diktatur. Besonders ist diesmal, dass sich sowohl die Arbeiter*innen der Öl- und Gasindustrie solidarisieren, die sich selbst seit mehr als fünf Wochen im Streik befinden, als auch die Bevölkerung in anderen Regionen des Landes, darunter auch Städte, die vorwiegend von der Minderheit der Loren bewohnt werden.
In der Vergangenheit war das Verhältnis zwischen arabischer Minderheit und Loren geprägt von Konflikten und Auseinandersetzungen. Die zahlreichen Solidaritätsbekundungen seitens der lorischen Bevölkerung stellen deshalb eine neue Qualität der Proteste dar. Ebenso wie Solidaritätsdemonstrationen in anderen Grossstädten wie z.B. in Tabriz, der Hauptstadt der Provinz Aserbaidschan oder in Teheran.
Die Erfahrungen der Niederschlagung der Massenproteste in den letzten Jahren, sowie die zunehmend geteilte Erfahrung von Armut und prekären Arbeitsverhältnissen infolge der neoliberalen Politik und Naturzerstörung haben dazu geführt, dass innerhalb der Bevölkerung ein neues Bewusstsein entstanden ist, dass trotz aller Unterschiede nur ein gemeinsamer Kampf gegen das Regime Erfolg haben kann.
Für die Fortsetzung der aktuellen Aufstände spielt auch die weitere Entwicklung der Kämpfe der Arbeiter*innen eine wichtige Rolle. Sollten sich solidarische Streiks ausweiten und irgendwann in einen Generalstreik münden, wäre dies ein wichtiger Schritt, um die jahrelange Sackgasse der Repression zu überwinden, in die die Massenproteste bisher gemündet sind.
Die Antwort des Regimes auf die Proteste folgt immer dem üblichen Muster: Leugnung, Kriminalisierung und massive Repression. Als die ersten Videos über die Demonstrationen in Khuzestan auftauchten, behauptete die Regierung noch, diese seien gefälscht. Als die Proteste unübersehbar wurden, räumte sie Probleme bei der Wasser- und Stromversorgung ein, beschuldigte die Demonstrant*innen jedoch, von ausländischen Mächten gelenkt zu sein und dem Iran schaden zu wollen bzw.
Separationsbestrebungen zu verfolgen. Gleichzeitig wurde die Militärpräsenz massiv ausgeweitet und die Protestierenden mit aller Brutalität angegriffen. Dabei wird auch – wie bereits in den Massenprotesten von 2018 und 2019 – mit scharfer Munition auf die Protestierenden geschossen, viele Demonstrant*innen wurden teils schwer verletzt, mehrere getötet. Um die Verbreitung von Aufnahmen der Proteste im Internet zu verhindern und die Kommunikationskanäle zu unterbrechen, wurde zudem das Internet und Mobilfunknetz tagelang ausgeschaltet.
Auch wurden viele Demonstrant*innen festgenommen, u.a. auch aus Krankenhäusern heraus, die verletzte Demonstrant*innen wegen notwendiger Behandlungen aufgesucht hatten. Im Internet kursieren deshalb zunehmend Anleitungen, wie Schussverletzungen oder andere Wunden eigenhändig zu operieren sind, um eine ärztliche Behandlung in Krankenhäusern vermeiden zu können. Bei der Repression gegen die eigene Bevölkerung benutzt das Regime neben Waffen auch modernste Überwachungstechnologien, die es unter anderem auch von deutschen Unternehmen erhält. Nach der Grünen Bewegung von 2009 wurde etwa bekannt, dass Siemens
Überwachungstechnologie an den Iran geliefert hat. Neuerdings wird die Teilnahme an Demonstrantionen mithilfe einer neuen Technologie ausgewertet, die auf der Analyse von Chips basiert, die sich z.B. auf EC-Karten befinden.
Die aktuellen Proteste in Khuzestan und in manchen Nachbarprovinzen reihen sich ein in eine Serie von Massenprotesten und Streikwellen, die in immer kürzeren Abständen im Iran ausbrechen. Anders als es das Regime (und ein Teil der anti-imperialistischen Linken) darstellen, sind sie weniger die Folge ausländischer Provokationen, sondern vielmehr die Konsequenz der jahrzehntelangen ultra-neoliberalen Politik des Regimes, die zu einer Verarmung breiter Teile der Bevölkerung im Iran geführt hat.
Arbeitslosigkeit und extrem prekäre Arbeitsverhältnisse sind an der Tagesordnung, aktive Arbeitsaktivist*innen werden ebenso brutal verfolgt, verhaftet und hingerichtet, wie Teilnehmer*innen der Massenproteste. Da die einzige Antwort des Regimes die brutale Niederschlagung und Unterdrückung jeglicher widerständiger Tendenzen ist, werden sich die vielfältigen Krisen im Iran auch in Zukunft weiter zuspitzen und weitere Massenproteste zur Folge haben.
Umso wichtiger ist es, dass linke Bewegungen hierzulande, eine klare Position zu den Protesten im Iran entwickeln und sich mit ihnen solidarisieren. Dazu gehört zu allererst, das Schweigen zu brechen und den Protestierenden und ihren Kämpfen hierzulande eine Stimme und Öffentlichkeit zu geben. Gleichzeitig ist es wichtig, die Rolle der bundesdeutschen Politik sowie deutscher Unternehmen bei der Unterstützung des iranischen Regimes und seines Repressionsapparates sichtbar zu machen und anzugreifen.
In den Mainstream Medien findet sich vor allem Kritik an den autoritären und patriarchalen Aspekten der Diktatur im Iran. Die katastrophalen Auswirkungen der neoliberalen Politik, sowie die zahlreichen Streiks und Massenproteste dagegen werden weitaus weniger thematisiert. Das ist was die herrschende Politik angeht nicht weiter verwunderlich. Kritisch ist jedoch, dass selbst in Teilen der linken Bewegung eine Solidarisierung mit den Protestierenden ausbleibt – sowohl teilweise seitens der iranischen Linken als auch der nicht-iranischen Linken weltweit.
Grund dafür ist ein Imperialismusverständnis, dass ausschliesslich auf der Ebene der Staaten ansetzt und diese schematisch in imperialistische und anti-imperialistische Kräfte unterteilt. Der Iran wird darin zu einer anti-imperialistischen Macht gegen den US-Imperialismus stilisiert und jegliche Proteste innerhalb des Irans auf Systemchange Bestrebungen der USA reduziert.
Diese Logik führt letztlich dazu, dass selbst Teile der iranischen Linken in der aktuellen Situation das iranische Regime unterstützen und ihrer Interpretation folgen, die Niederschlagung der Massenproteste sei eine notwendige Verteidigung gegen den US-Imperialismus. Dass der Iran selbst eine imperialistische Politik im Mittleren und Nahen Osten verfolgt und mit aller Brutalität die herrschenden kapitalistischen Ausbeutungsbedingungen gegen die eigene Gesellschaft durch- und umsetzt, bleibt in dieser Lesart nachranging, ebenso wie der notwendige Widerstand der Bevölkerung gegen die unerträglichen alltäglichen Zustände.
Wir halten eine Unterstützung des iranischen Regimes und eine Entsolidarisierung mit den Protesten der Bevölkerung für fatal und das zugrundeliegende Imperialismus-Verständnis für zu verkürzt. Letzteres trennt antiimperialistische Kämpfe von antikapitalistischen und landet dadurch notgedrungen in der Geopolitk und somit in der nationalen Falle.
Auch wenn es Bestrebungen der USA und anderer Mächte gibt, den Iran von innen heraus zu destabilisieren, so können die Massenproteste der letzten Jahre nicht darauf reduziert und ihr emanzipatorisches Potential nicht verleugnet werden. Aus unserer Perspektive kann weder das blutige iranische Regime, noch die blutige US-Interventionspolitik eine Alternative bilden, sondern nur das Potential, dass aus einer Bewegung von unten erwachsen kann. Denn die Entstehung von revolutionärer Subjektivität ist ein Kampfprozess von unten.
Insofern sollte der revolutionäre Charakter eines Aufstandes vorwiegend anhand seines Potentials beurteilt werden, Menschen verändern und beeinflussen zu können und nicht anhand der unmittelbaren Auswirkungen auf die Strukturen der etablierten Ordnung. Umso wichtiger ist es, dass gerade iranische Linke die Massenproteste und Aufstände aktiv unterstützen und in den Diskurs intervenieren, um die emanzipatorischen Stimmen und Kräfte zu stärken.
Die Massenproteste im Irak von 2019 bis heute haben gezeigt, dass auf vielen der Demonstrationen gegen das irakische Regime der Slogan “Weder der Iran, noch die USA” gerufen wurde. Diese Tendenzen finden sich auch in den Aufständen im Iran, denn die Erfahrungen mit den US-Interventionen im Irak und in Afghanistan sind auch der Bevölkerung im Iran im Bewusstsein und stärken Positionen die eine emanzipatorische Alternative fordern.
Der Nahe Osten befindet sich in einer multiplen Krise infolge der zunehmenden Militarisierung, den Auswirkungen des Klimawandels und der imperialistischen, neoliberalen und naturzerstörerischen Politik der regionalen und globalen Mächte. Der Iran gilt als wichtiger Akteur in der Region. Wachsende Proteste und Streiks im Iran sind deshalb auch ein wichtiges Moment, um andere Menschen im Nahen Osten zu inspirieren und zu ermutigen, für ihre Interessen einzutreten und solidarisch für eine andere Gesellschaft zu kämpfen.
Unsere Solidarität ist deshalb bei den Demonstrant*innen und streikenden Arbeiter*innen im Iran! Lasst uns den Kampf internationalisieren! Lasst uns die Hoffnung internationalisieren!