In Anbetracht der kürzlichen Entwicklungen legt inzwischen vieles nahe, dass es sich in der Ex-Sowjetrepublik um einen Konflikt innerhalb der Eliten handelt, die stets um die Macht konkurrieren. So kann man grundleged davon ausgehen, dass die vielerorts konstatierte Tatenlosigkeit der kasachischen Sicherheitskräfte, nicht ohne Beihilfe der eigenen Sicherheitsstrukturen, den plötzlichen Kontrollverlust der Staatsgewalt verschuldet hat und damit enorm zur einer brandgefährlichen Krise beigetragen hat.
Dafür, dass die dramatischen Ereignisse absichtlich herbeigeführt worden sein könnten, spricht auch, dass die fragwürdige Gaspreiserhöhung zu Beginn des Jahres zuerst die Unzufriedenheit der Kasachen provoziert hatte und anschliessend als Vorwand genutzt wurde, die Situation eskalieren zu lassen. Denn es ist höchst ungewöhnlich, wie schnell die friedlichen Proteste in der ehemaligen Hauptstadt Almaty gegen die Erhöhung der Preise für Flüssiggas am 3. und 4. Januar – trotz des sofortigen Einlenkens der Staatsführung, die Preise wieder auf den vorherigen Stand zu senken und die Regierung abzusetzen – bereits am 5. Januar laut Angaben des Österreichischen Rundfunks in landesweite gewaltsame und bewaffnete Ausschreitungen mündeten.
Ein weiterer interessanter Aspekt zeigt, dass neben mehreren Tausend Protestlern allem Anschein nach mehrere Dutzende gut organisierte Gruppen an der Gewalt beteiligt gewesen waren, die sowohl gegen Sicherheitskräfte als auch gegen staatliche und zivile Einrichtungen sowie einfache Bürger vorgingen. Berichten zufolge wurden am Ende mindestens 164 Menschen getötet, darunter 17 Sicherheitskräfte. Mehr als 2.000 sollen verletzt worden sein.
Kasachstans innerer Konflikt
Verantwortlich für das sicherheitspolitische Desaster machte kasachischer Präsident Präsident Kassym-Schomart Tokajew im Grunde Teile der Eliten des Landes, in erster Linie den Chef des Nationalen Sicherheitskomitees (KNB), Karim Masimow. Dieser gilt dem Wall Street Journal zufolge als einer der Schlüsselfiguren der kasachischen Politik, der eng mit Ex-Staatschef Nursultan Nasarbajew und dessen Umfeld verbunden ist und vor dem Machtwechsel 2016 sogar als dessen Nachfolger gehandelt worden war.Hinsichtlich des raschen Kontrollverlust der kasachischen Behörden am 5. und 6. Januar, als unter anderem Sicherheitskräfte von dem Schutz der staatlichen und zivilen Einrichtungen abgezogen worden waren, Waffendepots ohnen Gegenwehr in die Hände marodierender Gruppen fielen und viele Sicherheitskräfte sich einfach kampflos ergeben hatten, kommt die Frage auf, ob es sich dabei um Inkompetenz oder absichtliche Handlungen des Nationalen Sicherheitskomitees handelt? Der kasachische Staatschef vermutet hinter dem totalen Ausfall des Sicherheitsgremiums offenbar geplante Aktionen, weshalb Masimow wegen Verdachts auf Landesverrat am 6. Januar verhaftet wurde.
Am Tag davor hatte Tokaejw die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit OVKS eingeschaltet, deren Mitglied Kasachstan ist, um bei der Wiederherstellung der landesweiten Staatskontrolle notfalls eine Absicherung zu haben. Die OVKS-Partner Russland, Weissrussland, Armenien, Kirgisistan und Tadschikistan entsandten daraufhin im Rahmen einer Friedensmission knapp 5.000 Soldaten nach Kasachstan und trugen allein schon mit deren Anwesenheit enorm dazu bei, dass die kasachische Führung die Lage in in Almaty und anderen Städten wieder in Griff bekommen hat und die konstitutionelle Ordnung wiederherstellen konnte.
Folgen für Russland, China und Türkei
Es ist offensichtlich, dass Moskau durch die OVKS-Initiative eine wichtige Funktion bei der Regulierung des Konflikts übernahm, was zudem auch noch ganz klar den sicherheitspolitischen Interessen Russlands entspricht. Denn dort hatte man immer wieder betont, alles daran zu setzen, um ein Sicherheitsrisiko an seinen Grenzen zu vermeiden. Ein stabiles und friedliches Kasachstan, das eine 7.5000 kilometer lange Grenze mit Russland hat, ist logischerweise ein Kernanliegen der russischen Sicherheitspolitik.Auch für sein Nachbarland China spielt Kasachstan nicht zuletzt als sicheres Transitland im Zusammenhang mit dem Mega-Wirtschaftsprojekt 'Neue Seidenstrasse' eine zentrale Rolle. Insofern hatte die chinesische Führung ohne lange zu überlegen ihre Zustimmung für Tokajews Krisenmanagment erklärt.
Allerdings könnte die Verhaftung des Masimows womöglich Pekings Einflussmöglichkeiten treffen, da der Ex-KNB-Chef laut chinesischen Medien Verbindungen zu China hat, dessen Sprache er spricht und wo früher studiert und gearbeitet hatte.
Zu guter letzt wäre da noch die Türkei, die Kasachstan im Rahmen ihres ambitionierten zivilisatorischen Vorhabens 'Grosser Turan' als dessen Kernland betrachtet. Denn die Führung in Ankara propagiert bereits seit Jahren, ausgehend von der Annahme eines gemeinsamen Erbes und einer gemeinsamen Abstammung innerhalb der pantürkischen Welt, die Idee eines modernen türkischen Territorial-Expansionismus, der neben grossen Teilen Russlands, den Gebieten Griechenlands, des Balkans und der chinesischen Provinz Xinjiang, der Mongolei, dem Iran und auch das gesamte Zentralasien miteinbezieht.
Wegen Russlands Engagement bei der Konfliktregelung aber sehen viele türkische Medien und Politiker die Turan-Mission in Gefahr und fordern daher die Bildung einer pantürkischen Gross-Armee, selbstverständlich unter dem Oberbefehl Ankaras.
Man muss allerdings verstehen, dass die Erwartungen vieler Türken hinsichtlich des Grossen Turans sehr hoch sind, nicht zuletzt deshalb, weil man in der Türkei lange Zeit geglaubt hatte, Zentralasien nach dem Zerfall der UdSSR politisch, wirtschaftlich und kulturell leicht beherrschen zu können. In Wirklichkeit aber tut man sich nach wie vor schwer damit, trotz etwa der Verbindungen zu den Muslimen Kasachstans, mit dem russischen und sogar chinesischen Einfluss in der Region fertig zu werden, was die aktuellen Entwicklungen erneut verdeutlichen.