Die starke Zunahme an Razzien der israelischen Armee ist nur einer von zahlreichen Aspekten, wie sich der Krieg auf die Palästinenser:innen im Westjordanland auswirkt. Massenverhaftungen, zunehmende Siedlergewalt und eine Wirtschaftskrise machen das dortige Alltagsleben seit dem 7. Oktober unerträglich.
Militärische Vorstösse
Die jungen Männer nehmen ihre Karten wieder in die Hand. Sie zeigen sich unbeirrt. Die Gelassenheit, mit der sie auf den israelischen Einmarsch reagieren, ist auffallend. Aus gutem Grund: Sie sind das gewohnt. Schon vor dem 7. Oktober gehörte das Eindringen israelischer Einheiten in palästinensische Dörfer, Städte und Flüchtlingslager – auch in Area A – zu ihrem Alltag.Dennoch haben diese militärischen Einsätze seit Kriegsbeginn eine neue Dimension erreicht, einerseits in ihrer Häufigkeit, andererseits in ihrer Intensität. Seit dem 7. Oktober wurden im Westjordanland – inklusive Ostjerusalem – bereits über 600 Palästinenser:innen getötet[1], mindestens 115 davon Kinder[2]. Fast ein Viertel aller Opfer wurde durch Luftangriffe getötet – eine Taktik, die Israel in den letzten zwei Jahrzehnten eigentlich nur im Gazastreifen anwendete, seit über einem Jahr aber auch vermehrt im Westjordanland. Zudem hat Israel um die 10 000 Palästinenser:innen verhaftet.[3]
Selbst Ramallah – vor dem Krieg einer der wenigen palästinensischen Orte, von wo sich das israelische Militär gemeinhin fernhielt – bleibt von den Militäreinsätzen nicht verschont. Die verkohlten Stände des Gemüsemarkts im Zentrum der Stadt sind eine ständige Erinnerung an den Brand, den israelische Soldat:innen bei einem Angriff im Mai verursachten. Im Hauptvisier Israels stehen allerdings die Flüchtlingslager, besonders diejenigen im Norden des Westjordanlandes. Sie gelten als Hochburgen palästinensischen Widerstands, den Israel mit allen Mitteln zu unterdrücken versucht[4] – auch mit Einfällen in Gebiete, in denen die israelische Armee nach Bestimmungen des Oslo-Abkommens gar nichts verloren hat.
Im Jalazone Camp bleibt es an diesem Abend, abgesehen vom weinenden Kind, ruhig. Die Bewohner: innen dürfen sich glücklich schätzen, nicht noch weitere Märtyrer:innen begraben zu müssen.
Siedlergewalt
Eine besonders starke Auswirkung des Krieges auf das Westjordanland ist die zunehmende Siedlergewalt – ein Phänomen, das schon lange vor Kriegsausbruch Realität war, sich seither aber massiv zugespitzt hat. Die Siedler:innen, inspiriert vom genozidalen Vorgehen ihrer Landsleute im Gazastreifen, angetrieben durch Rache- und Expansionsgelüste nach dem 7. Oktober und beschützt durch das eigene Militär, lassen ihren Emotionen im Westjordanland freien Lauf.Ein Besuch im «Youth Village», einem von Freiwilligen errichteten Ökodorf in Kufr Ni'ma, das sich wenige Kilometer nordwestlich von Ramallah befindet, vermittelt einen ersten Eindruck von der Zerstörungswut der Siedlergewalt. Am Vortag sind Siedler:innen der benachbarten Siedlung Sde Ephraim ins Dorf gestürmt und haben mehrere Bäume gefällt. Solche Angriffe gab es bereits in den vergangenen Wochen und Monaten. Darauf deuten die zerschmetterten und mit Einschusslöchern versehenen Glasfenster und -türen hin, die überall im Dorf zu sehen sind.
Setzt man Randale wie diese in den weiteren Kontext zunehmender Siedlergewalt, sind sie harmlos. Bei den 1250 Angriffen von israelischen Siedler:innen auf Palästinenser:innen, die seit dem 7. Oktober dokumentiert sind,[5] wurden mindestens zehn Menschen getötet – bei sieben weiteren ist unklar, ob Soldat:innen oder Siedler:innen für ihren Tod verantwortlich waren. Über Hundert Palästinenser:innen wurden bisher verletzt. Zudem sind etwa 1500 Menschen, die Hälfte davon Kinder, von ihrem Zuhause vertrieben worden.[6]
Der Staat Israel reagiert auf die Siedlergewalt mit nicht mehr als einem Schulterzucken. Gewalttätige Siedler:innen kommen in der Regel unbestraft davon. Und werden für ihre Verbrechen sogar belohnt – schliesslich ist jüdische Besiedlung seit 2018 ein «nationaler Wert» (Nationalstaatsgesetz). Wenige Tage vor unserem Besuch im «Youth Village» entschied das israelische Regierungskabinett, fünf neue Siedlungen zu etablieren, darunter auch die eben erwähnte Siedlung Sde Ephraim, die zuvor als «Outpost» sogar nach israelischem Recht illegal war.[7] So wurden die Siedler:innen von Sde Ephraim nach ihren Verbrechen mit der Legalisierung der Siedlung belohnt – und dankten der Regierung einige Tage später mit weiteren Verbrechen.
Der Internationale Gerichtshof hat am 19. Juli 2024 bekräftigt, dass Israels andauernde Besetzung der palästinensischen Gebiete völkerrechtswidrig ist, und den Staat aufgefordert, alle Siedler:innen aus dem Westjordanland zu evakuieren. Die UN-Vollversammlung hat dieses Rechtsgutachten bekräftigt und Israel aufgefordert, die Siedlungen innerhalb eines Jahres zu räumen. Dessen ungeachtet führt die israelische Regierung ihre expansive Siedlungspolitik fort.
Wirtschaftliche Lage
Westjordanland seit Kriegsausbruch massiv verschlechtert. So sind in dem Gebiet seither laut der Weltbank[8] etwa 144 000 Arbeitsstellen verloren gegangen. Weitere 148 000 Palästinenser:innen, die vor dem 7. Oktober täglich nach Israel pendelten und im dortigen Arbeitsmarkt beschäftigt waren, haben ebenfalls ihren Job verloren, weil Israel ihnen die Bewilligungen entzogen hat.Nach dem 7. Oktober hielt die israelische Regierung monatelang palästinensische Zolleinnahmen zurück, welche sie im Namen der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) einzieht und dieser normalerweise überweist. Hunderttausenden Angestellten der PA wurde der Lohn gestrichen oder gekürzt[9].
Diese beiden israelischen Sanktionsmassnahmen führten dazu, dass die palästinensische Wirtschaft im Westjordanland kurz vor dem Kollaps stand. Schliesslich bilden die Gehälter der PA und der palästinensischen Arbeitskräfte, die in Israel beschäftigt sind, das Rückgrat dieser Wirtschaft.
Inzwischen wurde ein Teil der Zolleinnahmen freigegeben und etwa 40 000 Palästinenser:innen dürfen wieder in Israel arbeiten. Dennoch haben die Massnahmen zu einer Inflation geführt, von der viele Palästinenser:innen im Westjordanland stark betroffen sind.