Gespräch mit Cemil Bayik Das Jahr 2016 in Kurdistan – Eine Bilanz aus Sicht der PKK
Politik
Cemil Bayik ist Gründungsmitglied der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). 1976 schloss er sich dem Zirkel um den Kurdenführer Abdullah Öcalan an, seitdem hat er wichtige Funktionen in der kurdischen Befreiungsbewegung inne. Heute führt er zusammen mit Bese Hozat den Dachverband Union der Gemeinschaften Kurdistans (KCK), in dem auch die PKK Mitglied ist.
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18. Januar 2017
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Wie man weiss, liess die AKP im vergangenen Jahr die gesamte Armee und Polizei auf jene Städte los, in denen das kurdische Volk organisiert ist. In diesen Städten leben die Teile des kurdischen Volkes, deren Selbstbewusstsein am stärksten und deren Organisierungsgrad am höchsten ist. Hier hat weder die politische noch die Verwaltungsstruktur des genozidalen Kolonialismus etwas zu sagen.
Die türkische Regierung hetzte in diesen Gebieten das Militär und die Polizei auf die Bevölkerung, um die Sehnsucht des Volkes nach einem freien und demokratischen Leben und die Organisierung, die es auf dieser Basis geschaffen hatte, zu unterdrücken.
Die politische und psychologische Atmosphäre für diesen Angriff schufen die türkischen Machthaber bereits ein Jahr zuvor. Während des gesamten Jahres 2015, sogar bereits ab Ende 2014 sagten sie: „In jeder Stadt, in jeder Strasse der Türkei werden wir für die öffentliche Sicherheit und Ordnung sorgen.“ Sie wollten klarstellen, dass sie die Sehnsucht des Volkes nach einem freien und demokratischen Leben angreifen werden. Über den Krieg, den sie am 24. Juli 2015, dem Jahrestag des Lausanne-Vertrages, anfingen, sagte Ahmet Davutoğlu: „Wir bereiteten uns auf diesen Krieg seit einem Jahr vor.“ Er sagte es klar und deutlich, dass sie dem Militär und der Polizei ein Jahr zuvor Anweisungen gaben, Vorbereitungen für diese Angriffe zu treffen.
Diese Angriffe werden unternommen, da der türkische Staat gesehen hat, dass die Kurden sowohl im ganzen Nahen Osten als auch in Bakurê Kurdîstan [ Nordkurdistan, kurdische Gebiete im Südosten der Türkei, d. Red.] stärker werden. Diese Stärke des kurdischen Volkes will man unterdrücken.
Bei diesen Angriffen machten sie über zehn kurdische Städte dem Erdboden gleich. Sie bewiesen aber gleichzeitig auch ihren ideologischen und politischen Bankrott in Kurdistan. Dass so viele Angriffe unternommen und Hunderte von Zivilisten ermordet wurden, hat die Schwäche des türkischen Staates demonstriert. Die AKP erlebte im Landesinneren eine Auseinandersetzung mit zahlreichen politischen Kräften, die Bürgerkriegsniveau erreicht hatte.
Denn die Kurden wurden seit 2014 nicht nur in Nordkurdistan, sondern auch in Rojava, Başur und Rojhilatê Kurdîstan sowie im ganzen Nahen Osten stärker. Sie gewannen an Kraft, aber der türkische Staat hat keine Lösungspolitik für die Kurdenfrage! Immer noch wollen sie an den Kurden auf der Grundlage der Verleugnung einen Genozid begehen.
In einer Atmosphäre, in der die Kurden stärker werden, schuf die genozidale Politik des türkischen Staates, der diesen Zustand nicht zulassen will, diesen Krieg. Das Dolmabahçe-Abkommen wurde abgelehnt, unser Vorsitzender strengstens isoliert und die Wahlergebnisse vom 7. Juni 2015 für nichtig erklärt, da bei einem Treffen des Nationalen Sicherheitsrates am 30. Oktober 2014 der Beschluss gefasst wurde, die Kurden durch einen Krieg zu zerschmettern.
Da der Staat sah, dass der Stärke der Kurden ohne Militär- und Polizeigewalt nicht beizukommen ist, setzte er solche Angriffe ein. Denn er hat seine ideologische und politische Hegemonie über die Kurden verloren. Diese wollte er mit brutaler Gewalt wiederherstellen. Die AKP-Regierung war im Inneren geschwächt, mit grossen Konflikten und Auseinandersetzungen konfrontiert. Eigentlich gab es im Inneren einen politischen Bürgerkrieg. Sie war im Nahen Osten und aussenpolitisch geschwächt. Deshalb beabsichtigte die AKP-Regierung alle Chauvinisten, Faschisten und Nationalisten auf der Grundlage von Kurdenfeindlichkeit zu vereinen und auf ihre Seite zu ziehen. Dadurch wollte sie zu ihrer alten Stärke zurück finden.
Auch der Putsch am 15. Juli [2015] war ein Ausdruck dieses Bürgerkrieges. In einer solchen politischen Atmosphäre versuchte die AKP so wie jede andere faschistische Macht auch den Chauvinismus zu stärken, um den Boden unter den Füssen nicht zu verlieren. Durch eine Kriegspolitik im Inneren wie Äusseren versuchten sie von den eigentlichen Problemen abzulenken. Aber die Kräfte, die in den Krieg getrieben wurden, sagten sich: „Wir führen diesen Krieg, wir sollten also an der Macht sein.“ Und so unternahmen sie einen Putschversuch.
Durch diesen Putschversuch kam heraus, dass die AKP-Regierung in Wirklichkeit nicht so mächtig ist. Ohnehin finden alle Staatsstreiche in einer Atmosphäre statt, in der die bestehende Regierung die Probleme nicht lösen kann und im Inneren wie Äusseren schwächelt. Putsche legitimieren sich durch eine solche politische Atmosphäre. Die AKP zog die MHP, die Chauvinisten, die Ergenekon-Leute und alle Kurdenfeinde auf ihre Seite und brachte den Putsch zum Scheitern. Sowieso hatte die AKP nach der Wahl am 7. Juni gesehen, dass sie schwächer geworden war, und versuchte, sich zu halten, indem sie sich auf alle Chauvinisten stützte. Sie verschärfte nach dem Putsch diese Kriegspolitik im Inneren wie Äusseren noch weiter. Sie verkaufte den Putsch als Anlass zur „Notwehr“ und steigerten die Kurdenfeindlichkeit in neue Dimensionen.
Dass die AKP Nordsyrien besetzen und in den Nordirak einmarschieren will, rührt ebenfalls von ihrem Wunsch her, die neue Stärke der Kurden zu unterdrücken. Sie sahen, dass die Kurden in Rojava, in Syrien, im Irak stärker wurden. Und so wie sie in Bakur die kurdische Befreiungsbewegung unterdrücken wollen, entwickelten sie auch in Syrien und im Irak eine Praxis, die auf einem Angriff mit dem Ziel basiert, das Erstarken der Kurden zu unterbinden.
Diese Aggression ist also ein Ausdruck der Schwäche. Die AKP zielt darauf ab, sich durch Einsatz aller zur Verfügung stehenden Mittel wieder zu einer Macht zu entwickeln. Wie man aber sehen kann, ist die AKP im Nahen Osten mit Konflikten und Auseinandersetzungen mit vielen verschiedenen Kräften konfrontiert. Zwar betreibt sie in Syrien, im Irak und im ganzen Nahen Osten Politik, doch weder die noch die ihrer Verbündeten und Unterstützer ist sonderlich wirkmächtig.
Die AKP befindet sich in einem Zustand, in dem ihre Macht zusammenzubrechen und sie alles zu verlieren droht, wenn man ihr Widerstand leistet. Mag sein, dass ihre Attacken im Inneren unter Einsatz staatlicher Mittel sehr intensiv sind, aber wenn man ihr Paroli bietet, kann sie diesen Krieg nicht lange fortsetzen.
Niemand sollte erwarten, dass das Regime seine Politik aufgeben würde, nur weil man an es appelliert und sagt: „Warum tut ihr das, warum tut ihr Schlechtes? Hört auf!“ Nur dadurch, dass man sagt, Frieden solle herrschen, die Gefechte sollen aufhören, kann weder Frieden herrschen, noch können die Morde verhindert werden. Die AKP sieht ihre Existenzmöglichkeit im Tod der Kurden. Sie sprechen von einem Unabhängigkeits- und Überlebenskrieg. Also wenn die demokratischen Kräfte im Inneren sowie im Äusseren gegen die AKP vorgehen, wenn die demokratischen Kräfte und die Kurden gemeinsam agieren, wird die AKP-Regierung besiegt werden. Das können wir jedenfalls sagen.
Die Brutalität des türkischen Staates nahm 2016 neue Dimensionen an. Die Guerilla stellte sich vielerorts den türkischen Militär- und Polizeikräften entgegen. Während einerseits die türkischen Kräfte grosse Verluste erlitten, zogen die Zivilverteidigungseinheiten (YPS) sich andererseits aus Städten wie Cizre, Sur, Nusaybin und Şırnak zurück. Schätzen Sie die Aktionen als erfolgreich ein und wird die Guerilla ihre Strategie, Militär- und Polizeistationen zu beschädigen, fortsetzen?
Als der türkische Staat unsere Städte mit Panzern, Kanonen, Hubschraubern und allen möglichen schweren Waffen angriff, um sie samt ihrer Bevölkerung dem Erdboden gleich zu machen, entstand im Frühling 2016 die Notwendigkeit, den Widerstand mit anderen Methoden fortzusetzen.
Also verliessen die Jugendlichen und die YPS-Kräfte die Städte oder setzten den Widerstand dort in neuer Form fort, indem sie als sehr kleine geheime Einheiten agierten. Da der selbstverwaltete Widerstand im Winter geleistet wurde, war man mit ernsthaften Problemen konfrontiert. Mit Beginn des Frühlings entstand allerdings die Möglichkeit, diesen Kampf in ganz anderen Formen fortzusetzen. Ab dem Frühling zielten die Angriffe insbesondere auf Basen, in denen Soldaten und Polizisten stationiert waren. Das Ergebnis waren die Zerstörung vieler Stationen von Militär und Polizei sowie Anschläge auf deren Fahrzeuge, die sowohl von von Kämpfern der HPG (dem militärischen Arm der PKK; Anm. der Red.) als auch von YPS-Kräften ausgeführt wurden.
Gegen die Bombardierung der Städte, die der türkische Staat zudem mit Panzern, Kanonen, schweren Waffen und Hubschraubern beschoss, richteten sich weit verbreitete Guerillaaktionen, sodass es weder in den Innenstädten noch entlang der Landstrassen noch Militär- oder Polizeistationen gibt. Sie wurden fast alle zerstört; die an den Landstrassen zumeist durch Guerilla- und Selbstaufopferungsaktionen. Die noch verbleibenden sind mit Betonbarrieren ummauert. Das verdeutlicht, dass Polizei und Armee in den Frühlings- und Sommermonaten sehr schwere Schläge erlitten haben.
Die Guerillaaktionen werden mit Sicherheit auf vielerlei Weise fortgesetzt. Es wird weiter Anschläge auf Einrichtungen und Fahrzeuge geben. Und manchmal ereignen sie sich auch in den türkischen Metropolen. Die Aktionen der Guerilla werden dabei entsprechend den Massnahmen des türkischen Staates variieren. Auch wenn die Armee und Polizei neue Wege und Methoden entwickeln, um sich zu verteidigen, wird die Guerilla deren die Schwachpunkte herausfinden und Taktiken entwickeln, um sie genau dort zu treffen. Es ist unvorstellbar, dass der Guerilla Aktionen und Ziele ausgehen.
Der Guerillakrieg zeichnet sich seit Jahrhunderten, wenn nicht Jahrtausenden dadurch aus, den Feind zu beobachten, seine Schwachpunkte zu erkennen, um ihn dort zu treffen. Das gilt zwar generell für jeden Krieg, trifft aber auf die Guerillastrategie in noch höheren Masse zu.
Die Kurden wollen dabei die Türkei nicht spalten. Die Absicht ist nicht, der Türkei zu schaden. Sie fordern allerdings die Grundrechte des kurdischen Volkes und dessen Autonomie ein. Die AKP-Regierung betreibt hingegen eine Politik des Genozids. Sie sagt: Wir werden die Kurden beseitigen und eine Nation, ein Vaterland schaffen. Sie akzeptiert weder verschiedene Identitäten noch ein gemeinsames Vaterland. Sie sagt: Wir akzeptieren nichts ausser den Zentralstaat.
Gegen diese Genozidpolitik wird natürlich Widerstand geleistet. Es sind doch nicht die Kurden, die dieses Problem zu lösen haben! Die Kurden müssen Widerstand leisten! Wenn die Kurden die Rechte anderer usurpiert hätten, dann könnte man ihnen sagen: „Warum löst ihr nicht dieses Problem, warum gebt ihr dieser Gruppe ihre Rechte nicht, warum erkennt ihr sie nicht an?“ Es handelt sich aber nicht um so eine Situation. Es ist unmöglich, dass die Kurden diesen Krieg beenden! Es ist der türkische Staat, der das Problem zu lösen und den Krieg zu beenden hat. Es ist der türkische Staat, der die Existenz des kurdischen Volkes nicht anerkennt. Es ist der türkische Staat, der sagt, „Ich werde euch bis zum Ende unterdrücken“, wenn die Kurden ein freies und demokratisches Leben fordern.
Wenn der türkische Staat seine Genozidpolitik aufgeben würde, dann würde von einem Tag auf den anderen Frieden herrschen. Alle Probleme würden rasch gelöst. Alles hängt davon ab, dass der türkische Staat seine aktuelle Politik aufgibt. Solange die Genozidpolitik des türkischen Staates gegenüber den Kurden fortgesetzt wird, wird auch der Widerstand dagegen fortgesetzt. Es ist nicht die PKK-Frage, nicht diese oder jene Fragen, sondern es geht um Demokratie und die Freiheit eines Volkes. Wenn so viele Städte dem Erdboden gleich gemacht, Hunderte von Jugendlichen ermordet werden, dann leisten die Guerilla und das Volk Widerstand dagegen. Kann man angesichts dieser Genozidpolitik von der kurdischen Jugend erwarten, dass sie still bleibt?
Der türkische Staat rief den Ausnahmezustand aus. Der seit der Ausrufung des Ausnahmezustands zustandegekommenenen Repression begegnet man nicht einmal in Notstandsfällen. Im Moment herrscht in der Türkei ein repressives Regime, das in der ganzen Welt seines gleichen sucht. Es scheint sogar verboten zu sein, dass zwei, drei Menschen zusammenkommen. Überall werden Kurden mit politischem Bewusstsein in den Kerker geworfen. Der türkische Staat wurde zu einem richtig militaristischen Staat. Wer nach Kurdistan fährt, sieht, dass es ein von Soldaten und Polizisten besetztes Land ist. Die Strassen und Plätze sind besetzt. Wahrscheinlich gibt es in Kurdistan gemessen an der Bevölkerung weltweit die meisten Soldaten und Polizisten. Die Polizei in der Türkei und Kurdistan ist weltweit beispiellos. Wenn man die Nachrichtendienste, geheimen Ziviltruppen und Dorfschützen dazu rechnet, sieht man, dass es sich um eine sehr grosse Angriffsmacht handelt. Folglich werden dieser Angriffspolitik, dieser militaristischen Vorgehensweise auch in der Zukunft Kampfmethoden entgegengesetzt, die sie brechen werden.
Ankara hat zudem einen Angriff gegen Tausende von legalen kurdischen Aktivisten gestartet. Bürgermeister der HDP und DBP wurden verhaftet, Lehrer aus dem Dienst entlassen, selbst humanitäre Institutionen wie der Rojava-Verein werden drangsaliert. Wohin führt diese Strategie? Wie glaubt Erdoğan die Kurdenfrage lösen zu können? Welche Möglichkeiten haben Kurden und Linke in der Türkei noch, eine legale und parlamentarische Politik zu verfolgen?
Die AKP-Regierung führt nicht nur gegen die Kurden, sondern auch gegen andere demokratische Kräfte sehr massive Attacken. Sie verhält sich demokratiefeindlich. Sie hat nun alle demokratischen Möglichkeiten abgeschafft. Zur Zeit herrscht in der Türkei ein durch und durch faschistisches System. Den Oppositionellen, Demokraten, Kurden, Menschen mit verschiedenen Identitäten, wird keinerlei demokratischer Spielraum mehr gelassen. Einzig um Europa und die Welt zu täuschen, hat sie ein paar Vereine, Parteien und Institutionen unangetastet gelassen; die aber sind weder in Bevölkerung verankert noch verfügen sie über Kampfkraft. Alle Organisationen jedoch, die einen effektiven Kampf führen bzw. die Politik des türkischen Staates empfindlich stören könnten, wurden verboten und zerschlagen, ihre führenden Kader in den Kerker geworfen. Schriftsteller und Akademiker wurden eingesperrt. Wenn sogar Schriftstellerinnen wie Aslı Erdoğan und Necmiye Alpay verfolgt werden, beweist dies, dass in der Türkei niemand mehr sicher ist.
Was sie wollen, ist, dass niemand mehr den Mund aufmacht, der an die Kurdenfrage demokratisch herangeht oder von Rechten der Kurden spricht. Das ist die Politik, die der türkische Staat zur Zeit verfolgt. Er ist im Grunde genommen demokratiefeindlich. Denn wer Demokrat ist, verteidigt die Rechte der Kurden.
Im Moment erfordert es Mut, in der Türkei von den Rechten der Kurden zu sprechen. Denn alle, die sich dafür aussprechen, erwartet der Kerker. Wer statt dessen darüber schweigt oder gar zum Ausdruck bringt, dass er gegen die Befreiungsbewegung der Kurden ist, der hat nichts zu befürchten, dem wird die Redefreiheit garantiert.
Während der ganzen Regierungszeit der AKP wurden Operationen des politischen Genozids durchgeführt, sobald man die organisierte Macht der Kurden sah. Bei den Kommunalwahlen am 29. März 2009 gewannen die Kurden in ihrer Region. Obwohl man nach diesen Wahlergebnissen demokratische Schritte einleiten hätte sollen, wurden unter dem Namen „KCK-Razzien“ Tausende von kurdischen Politikern verhaftet, weil die AKP sah, dass die Kurden stärker wurden. Das war ihre Antwort auf das Erstarken der Kurden.
Sie zielten mit diesen politischen Genozidoperationen auf die Zerschlagung der organisierten Macht der Kurden. Als 2009 die Friedensgruppen in die Türkei gingen und von Millionen empfangen wurden, blieb dieses Bewusstseinsniveau, diese Organisierung, diese soziale Stärke der Kurden nicht unbemerkt. Und sofort wurde die kurdische Partei verboten, die Parlamentarier des Amtes enthoben, Tausende Politiker in die Kerker geworfen. Diese Angriffe dauerten an, bis Abdullah Öcalan wieder zum Waffenstillstand aufrief.
Wenn man sich die hundertjährige Geschichte der türkischen Republik anschaut, sieht man, dass jedes Mal, wenn die Sehnsucht der Kurden nach Freiheit grösser wurde, Bewusstseinsbildung und Organisierung zustande kam, eine Verhaftungs- und Hinrichtungswelle einsetzte.
Jetzt wird diese Genozidpolitik in grösserem Ausmass fortgesetzt. Man kann sagen, dass die intensivste Genozidpolitik gegen die Kurden in der Geschichte der Türkei in der AKP-Ära betrieben wird. Selbst nach dem 12. September [1980, Militärputsch, d. Red.] waren die Attacken nicht so stark. Die Angriffe nach dem 12. September richteten sich nur gegen die kämpfenden organisierten Kräfte. Jetzt wird gegen alle Denkenden, alle Demokraten, gegen alle Individuen und Gruppen mit politischem Bewusstsein eine Genozidpolitik betrieben.
Die ganze Welt sollte das sehen. Es handelt sich nicht um einen Krieg des türkischen Staates gegen den Terror. Mit diesem Diskurs wollen sie die Welt irreführen und den genozidalen Krieg gegen die Kurden verdecken.
Warum ist der türkische Staat gegen die Revolution in Rojava? Haben die politischen Führungskräfte in Rojava nicht stets gesagt, dass sie sich mit der Türkei einigen und in Frieden leben wollen? Warum will der türkische Staat diese Appelle nicht hören? Ist der Grund dafür nicht klar? Sie denken, wenn dort ein kurdisches Gefüge entsteht, in Syrien die Kurden frei und demokratisch leben, wäre das ein Vorbild für die Türkei. Sie müssten die Kurdenfrage lösen. Aber sie leugnen die Existenz der Kurden. Sie haben keine Lösungspolitik. Aus diesem Grund sind sie der Revolution in Rojava gegenüber feindlich gesinnt.
Die Kurden wollen dieses Problem natürlich innerhalb der Grenzen der Türkei lösen. Aus diesem Grund bevorzugen sie eine Lösung, die auf der Demokratisierung der Türkei beruht. Deshalb wollen sie auf der Grundlage eines Bündnisses aller demokratischer Kräfte kämpfen.
Die Kurden versuchten sogar das Problem mit dem bestehenden Staat, der bestehenden Regierung zu lösen. Nach sehr grossen Bemühungen des Vertreters des kurdischen Volkes [gemeint ist Abdullah Öcalan, d. Red.] wurde der Öffentlichkeit ein Abkommen präsentiert, dem auch die staatlichen Funktionsträger zugestimmt hatten.
Aber der Staatspräsident lehnte dieses Abkommen ab, erklärte es für nichtig. Das zeigte klar und deutlich, dass das Problem in der Türkei nicht mit Regierungen zu lösen ist. Aber wenn die Kurden mit den demokratischen Kräften gemeinsam kämpfen, die demokratischen Kräfte durch diesen Kampf stärker werden, wenn es einen Kampf gibt, der zur Demokratisierung der Türkei führt, dann kann man den Staat und die Regierung verändern und das Problem lösen. Oder wenn die demokratischen Kräfte an die Macht kommen, kann man das Problem lösen. Mit der bestehenden Denkweise, dem bestehenden Staat, der bestehenden Regierung kann das Problem nicht gelöst werden. Von der Regierung, dem Staat die Lösung des Problems zu erwarten ist reine Träumerei.
Die demokratischen Kräfte in der Türkei sind starker Repression ausgesetzt. Elementare demokratische Rechte sind abgeschafft. Alle Möglichkeiten, den Kampf auf demokratische Weise zu führen, existieren nicht mehr. Trotzdem beharren die Kurden darauf, mit demokratischen Mitteln zu kämpfen. Obwohl es nicht mehr möglich ist, im Parlament zu kämpfen, harren sie dort aus. Allerdings wäre es Selbstbetrug zu glauben, unter den bestehenden Bedingungen liesse sich auf dieser Ebene noch irgendetwas ausrichten.
Aber auch der legale ausserparlamentarische Kampf wird unmöglich gemacht. Es dürfen nicht einmal Presseerklärungen verlesen werden. Wenn der Widerstand daher illegal und auch bewaffnet erfolgt, bedeutete das mitnichten, dass nicht versucht wird, bis zuletzt um legale Mittel zu ringen, mögen die Menschen dafür auch einen hohen Preis zahlen, im Knast landen oder gar ermordet werden.
Der türkische Staat bekämpft indes sämtliche demokratischen Aktionen, verhaftet alle kurdischen Bürgermeister und Mandatsträger. Er verhaftete sogar Intellektuelle und Schriftsteller, die nichts anderes gemacht haben, als ihre Meinung zu äussern. Hunderte, ja Tausende von Akademikern wurden verklagt und eingeschüchtert. Der türkische Staat sagt: Wenn ihr auf der Seite der Kurden steht, wenn eine Demokratie verlangt, die das freie und demokratische Leben der Kurden anerkennt, werdet ihr definitiv im Gefängnis landen. Aus diesem Grund sind die Bedingungen natürlich schwerer geworden.
Die türkische Armee marschierte im August 2016 in Syrien ein, um zu verhindern, dass SDF und YPG einen Korridor zwischen den Städten Afrin und Kobane öffnen …
Der Angriff des türkischen Staates auf Syrien und Rojava hat definitiv das Ziel, zu verhindern, dass die Kurden ihre demokratischen Rechte erkämpfen. Die Offensive hat mit der Bekämpfung des IS oder irgendeiner anderen Gruppierung nichts zu tun. Mittlerweile haben sie auch mit dem syrischen Regime kein Problem mehr. Auch wenn sie behaupten, nach wie vor gegen Assad zu sein, schlugen sie Syrien vor, gemeinsam gegen PYD und YPG zu kämpfen. Allerdings wurde dieser Vorschlag von der syrischen Regierung nicht angenommen. Denn Syrien steht der türkischen Politik skeptisch gegenüber, da Ankara noch immer Kontakte zu den Rebellen pflegt. Ohnehin hat der türkische Staat nicht vor, gegen den Islamischen Staat einen Krieg zu führen. Als die Kurden in Cerablus, Mınbiç und al-Bab gegen den IS vorgehen wollten, war er es, der das verhinderte. Die Tatsache, dass der IS noch existiert, ist der Politik des türkischen Staates geschuldet. Andernfalls hätte man ihn Syrien viel früher zerschlagen. Aber die AKP hat mittlerweile gemerkt, dass sie den kurdischen Befreiungskampf in Syrien nicht mit Hilfe des IS oder irgendeiner anderen Kraft aufhalten kann, und interveniert nun direkt.
Die AKP benutzte zuerst al-Nusra, dann den IS. Mit deren Hilfe wollte sie die Revolution in Rojava aufhalten und sich in Syrien und im ganzen Nahen Osten Einfluss sichern. Die türkische Regierung dachte: »Warum soll ich mich selbst in den Hexenkessel begeben, wenn ich meine Handlanger habe?« Erst als ihre Handlanger scheiterten, und der Kampf der Kurden von der ganzen Welt als legitim angesehen wurde, intervenierte die AKP in Syrien direkt.
Sie einigte sich zuerst mit dem IS, sodass dieser widerstandslos die Stadt Cerablus verliess. Die von Ankara unterstützten Banden haben nicht die Kraft, gegen den IS zu kämpfen. Der türkische Staat marschierte mit seinen Panzern, Kanonen und Spezialeinheiten in Cerablus ein. Die FSA-Banden setzte er nur zum Schein ein. Jetzt marschieren seine Einheiten auf das südwestlich gelegene al-Bab zu. Sichtbar wird aber auch, dass Schwierigkeiten bestehen. Beabsichtigt war, die Banden, die türkisches Militär unterhält, als Bodentruppen einzusetzen und mit seinen Spezial- und Kommandoeinheiten und der Unterstützung durch Flugzeuge, Hubschrauber, Panzer und Kanonen innerhalb von zwei Wochen in al-Bab einzumarschieren. Dieses Ziel wurde verfehlt.
Die AKP will nicht, dass die Demokratischen Syrischen Kräfte zwischen Afrin und Kobane aktiv werden. Sie will dort keine Gruppen dulden, die mit den Kurden befreundet sind. In dieser Region namens Şehpa leben Kurden, Araber, Turkmenen, Tschetschenen zusammen. Die Kurden betreiben mit Sicherheit keine Politik, deren Ziel es wäre, in al-Bab einzumarschieren, die Araber zu vertreiben und Bab zu kurdisieren. Mınbiç und Bab sollen von ihren eigenen Bevölkerungen selbst verwaltet werden. (…)
Wie schätzen Sie die Rolle der USA und Russlands bei diesen illegalen Angriffen auf Rojava ein? Lassen sie Erdogan in Syrien freie Hand?
Es besteht keine Zweifel daran, dass die USA und Russland den Einmarsch der Türkei dulden. Die Türkei ist Verbündeter der USA und NATO-Mitglied. Aus diesem Grund werden die Vereinigten Staaten sich nicht komplett der Türkei entgegenstellen, auch wenn sie die Politik der AKP stört.
Zweifellos hat auch Russland ein Auge zugedrückt. Russland verhandelte. Jetzt versteht man, dass Moskau dem Einmarsch unter der Bedingung zustimmte, dass die Rebellen Aleppo verlassen und völlig evakuieren. Zunächst liessen sie zu, dass die Türkei in beschränktem Ausmass einen Korridor [auf syrischem Territorium] errichtete. Die Türkei argumentierte mit dem Flüchtlingsthema. Sie sagte, sie würde die Flüchtlinge dort unterbringen. Die AKP liess ihre militärischen Einheiten in Syrien einmarschieren, nachdem sie sich mit Russland geeinigt und gesehen hatte, dass die USA sie gewähren lassen würde. Wie es aussieht, erlaubte das indirekt auch Syrien.
In diesem Sinne liessen die USA und Russland Erdogan freie Hand. Aber das taten sie innerhalb bestimmter Grenzen. Die Türkei marschierte im Rahmen dieser beschränkten Erlaubnis in Syrien ein, da die AKP-Regierung rascher und verlustarmer Siege bedarf. Aber nachdem Erdogan in Cerablus und einigen anderen Orten Fuss gefasst hatte, versuchte er seinen Einmarsch in al-Bab und Mınbiç zu erzwingen.
Durch die Eroberung von al-Bab wollte er eigentlich auf Aleppo Einfluss nehmen. Doch die Oppositionellen erlitten dort eine Niederlage. So ging die Rechnung, die eigene Position in Syrien zu stärken, nicht auf. Erdogan nahm an, dass sich die Situation ändern könnte, wenn er al-Bab erobern würde, bevor syrische Truppen in Aleppo einmarschierten. Aber Russland liess das nicht zu. Es sieht so aus, dass Russland vor der völligen Evakuierung Aleppos keinen türkischen Einmarsch in Bab zulassen wollte.
Man sieht, dass die USA und Russland aus unterschiedlichen Gründen der Türkei erlaubten, in Bab einzumarschieren – auch wenn die Umstände dieser Erlaubnis nicht näher bekannt sind.
Wie stellte sich 2016 das Verhältnis zu Damaskus dar? In Haseke fanden zeitweise Gefechte zwischen den kurdischen Kräften und dem Regime statt. Aber in Aleppo sieht man eine Zusammenarbeit mit dem Regime. Wie sind die Beziehungen zwischen den kurdischen Kräften und dem Regime?
Der Freiheitskampf des kurdischen Volkes wurde im Grunde genommen auf der Basis der Demokratisierung des syrischen Staates angefangen. Als in Syrien die politische Krise begann, erlangten die Kurden die Kontrolle über ihre eigene Region. Bis dahin wurde die Region, in der die Kurden leben, vom Staat kontrolliert.
Nun wurden die staatlichen Kräfte verdrängt und die kurdischen demokratischen Kräfte erlangten die Kontrolle über die Orte, in denen Kurden leben. In den Orten, in denen Kurden leben, leben natürlich auch Araber und Assyrer. Nachdem die staatlichen Kräfte entfernt wurden, versuchten Kurden, Araber und Assyrer ein gemeinsames politisches System zu errichten, damit das soziale Leben weiterging. Heute gibt es in Rojava eine gemeinsame demokratische Verwaltung von Kurden, Arabern und Assyrern.
Es wurde ein System errichtet, in dem jeder Ort sich selbst verwaltet und diese Orte in einer bestimmten Koordination in einer gemeinsamen Verwaltung zusammen kommen. Dieses System kämpft gegen alle diejenigen, die die Revolution in Rojava angreifen.
Die Herangehensweise der Revolutionäre in Rojava ist, dass die kurdischen, arabischen und assyrischen Bevölkerungen die Orte, in denen sie leben, selber verwalten. Sie stehen in Beziehung und Kontakt zu all denjenigen, die dieses demokratische System in Rojava und Nordsyrien anerkennen und selber einen demokratischen Ansatz haben. Das grundsätzliche Ziel der Revolutionäre in Rojava ist die Demokratisierung Syriens. Wer auf der Grundlage der Demokratisierung Syriens die Rechte der Kurden, Assyrer und aller anderen Völker mit verschiedenen Identitäten anerkennt, wird mit ihnen eine Einigung erzielen.
Denn die Revolutionäre in Rojava und die SDF-Kräfte verfolgen keine Politik der Spaltung von Syrien oder der Errichtung eines unabhängigen Staates. Da sie keinen unabhängigen Staat errichten wollen, ist die grundsätzliche Herangehensweise der Revolutionäre in Rojava und der in Nordsyrien lebenden Völker, mit all denjenigen, die im neu zu errichtenden Syrien einen demokratischen Ansatz haben, in Beziehung zu treten und Bündnisse zu schliessen. Wir halten das für die richtige Herangehensweise.
Sie leisteten all denjenigen Widerstand, die ihr in diesem Rahmen errichtetes System angriffen. Al Nusra griff an, sie leisteten gegen sie Widerstand. Der IS griff an, sie leisteten dem IS Widerstand. In Haseke und Qamışlo griffen die staatlichen Kräfte und ihre Verbündeten an und die SDF-Kräfte leisteten ihnen Widerstand.
Die Situation in Aleppo ist anders. Die Angriffe auf die kurdischen Stadtteile in Aleppo gehen von den Banden aus, die mit dem türkischen Staat zusammenarbeiten. Diese Banden haben andauernd die kurdischen Stadtteile angegriffen, damit die Kurden in Aleppo nicht aktiv werden können. Zunächst ging von den Kurden keine Aktion gegen irgendwen aus, sie kontrollierten den Bereich, in dem sie lebten. Wenn der Staat angriff, wandten sie sich gegen den Staat. Wenn die oppositionellen Banden angriffen, leisteten sie ihnen Widerstand.
Aber vor allem nachdem der türkische Staat in Cerablus einmarschierte, intensivierten diese Banden ihre Angriffe auf die kurdischen Stadtteile in Aleppo. Die mit dem türkischen Staat zusammenhängenden Kräfte unternahmen der Politik des türkischen Staates folgend Angriffe auf die Demokratischen Kräfte Syriens, die Kräfte in Afrin und die Demokratischen Kräfte Syriens in Şehba. Die kurdischen Kräfte in Aleppo und die Demokratischen Syrischen Kräfte leisteten diesen Banden Widerstand. Sie versuchten, die Stadtteile, in denen Kurden leben, unter ihre Kontrolle zu bringen. Denn bis vor kurzem stand ein Teil von den Bezirken, in denen Kurden leben, noch unter der Kontrolle der Banden. In dieser Hinsicht sind die Stadtteile, die die kurdischen Kräfte befreiten, Stadtteile, in denen Kurden leben. Die SDF und die dortigen kurdischen Kräfte kämpften nicht in den Teilen der Stadt, in denen keine Kurden leben. Entweder vertrieben sie die Banden aus den Stadtteilen mit einer kurdischen Mehrheit oder in den Stadtteilen, in denen Kurden und Araber zusammenleben, gingen sie gegen diese Banden vor.
Es gab in Aleppo keine Zusammenarbeit mit dem Regime. Aber da die Gefechte zeitgleich stattfanden, wurde versucht, so ein Bild zu erzeugen. Das tat vor allem der türkische Staat mit seiner Propaganda. Andererseits gibt es aber ständig Spannungen zwischen den kurdischen und den Regimekräften. Die Regimekräfte akzeptieren nicht, dass die Stadtteile, in denen Kurden leben, von den Demokratischen Kräften Syriens kontrolliert werden. Es könnte sein, dass in Aleppo die Spannung zwischen dem Regime und den kurdischen Kräften noch mehr steigt. Wenn die Regimekräfte den Kurden wieder das zentralistische, undemokratische Regierungsverständnis aufzwingen wollten, würde das zu Spannungen und Auseinandersetzungen zwischen den kurdischen und den syrischen Regimekräften führen.
Solange es in Syrien kein demokratisches System gibt, ist es unmöglich Stabilität zu erreichen. Und die wichtigste Voraussetzung der Gewährleistung der Stabilität ist ein demokratisches Regime. Ohne Anerkennung der Rechte und Autonomie der Kurden ist die Demokratisierung Syriens unmöglich.
Die Kurden stellen im Moment zusammen mit den Völkern, mit denen sie in der Nordsyrischen Föderation gemeinsam eine demokratische Verwaltung errichteten, das Fundament für die Demokratisierung Syriens dar. Wer in Syrien Stabilität und Frieden erreichen und verhindern will, dass in der Zukunft solche Banden wie Al Nusra und der IS entstehen, sollte sich mit den Demokratischen Kräften Syriens einigen. Wenn das geschieht, erlangt Syrien Stabilität. In dieser Hinsicht ist die Demokratisierung der Schlüssel zu der Stabilität und dem Frieden.
Heute versuchen sowohl die USA als auch Europa zu einem Ergebnis zu kommen, indem sie mit dem syrischen Regime Beziehungen aufnehmen und politische Verhandlungen führen. Die Kurden befürworten politische Verhandlungen. Sie wollen auf der Grundlage politischer Verhandlungen die Demokratisierung Syriens. Die Kurden haben nur eine Vorbedingung, und das ist die Demokratisierung Syriens. Im Rahmen der Demokratisierung Syriens sind sie zu jeder Verhandlung bereit. Es könnte mit dem Regime, mit den Oppositionellen sein oder in Genf, wo das Regime und die Oppositionellen an einem Tisch zusammenkommen.
Es ist ein grosser Fehler, dass die Kurden in Genf nicht dabei sind. Wie soll es ein demokratisches Syrien geben, ohne dass die Kurden in Genf dabei sind? Genf ohne Kurden bedeutet, gegen die Demokratisierung Syriens zu sein. Es bedeutet, dass Syrien wieder so werden soll, wie es früher war, oder dass das bestehende Regime und die Oppositionellen sich wieder auf autoritäres Syrien einigen und die Macht miteinander teilen. Ein Verhandlungstisch ohne Kurden kann nur die Diskussion über ein undemokratisches, autoritäres und zentralistisches Syrien bedeuten, in dem einige Kräfte die Macht untereinander aufteilen. Die Kurden befürworten kein solches Syrien. Wenn Verhandlungen über die Demokratisierung eingeleitet werden, sei es mit den Oppositionellen, sei es mit dem Regime, würden sich die Kräfte der Demokratischen Nordsyrischen Föderation an so einem Verhandlungsprozess beteiligen und als Teil des demokratischen Syriens ihre Rolle spielen.
Während in Syrien der Krieg weiterlief, verlegte Erdoğan Truppen an die türkisch-irakische Grenze. Es entsteht die Gefahr, dass die türkische Regierung den Nordirak und Kandil besetzt. Kann sie das wagen? Wenn ja, wozu würde es führen?
Worauf der türkische Staat abzielt ist klar. Das alte Kräfteverhältnis im Nahen Osten ist zerstört und der türkische Staat will nicht, dass die Kurden in den Ländern, in denen sie leben, bei der Errichtung eines neuen Gleichgewichts stärker werden. Er betrachtet das Erstarken der Kurden im Nahen Osten als gefährlich für seine genozidale Kurdenpolitik.
Aus diesem Grund greift er überall die Errungenschaften der Kurden an. Auch die Verlegung von Truppen an die türkisch-irakische Grenze zielt darauf ab. Der türkische Staat versucht, das als ein politisches Drohungsmittel einzusetzen. Er zielt damit darauf ab, sowohl den Irak als auch die Başurê Kurdîstan Föderation sowie die kurdische Befreiungsbewegung kontinuierlich unter Druck zu setzten. Der türkische Staat hat sowieso viele Basen und Tausende Soldaten in Başurê Kurdîstan (Südkurdistan, Nordirak). In gewisser Hinsicht ist Başurê Kurdîstan von türkischen Soldaten besetzt.
Aber diesem Zustand widersetzen sich weder die Regierung Başurê Kurdîstans noch die KDP oder die PUK. Auch wenn die politischen Kräfte sich so verhalten, akzeptiert die Bevölkerung Başurê Kurdîstans diese Besatzungsmacht nicht. Sie will, dass die türkischen Soldaten ihr Land verlassen.
Aber da die Regierung der Südkurdischen Föderation weder den Reaktionen des Volkes Rechnung tragen, noch selber eine Reaktion zeigen, bleibt der türkische Staat weiterhin dort. Andererseits nutzt die KDP den türkischen Staat sowohl gegen die kurdische Befreiungsbewegung als auch gegen die politischen Kräfte aus Başurê Kurdîstan und gegen den Irak als ein Drohmittel.
Zuletzt setzte sie dieses Drohmittel auch gegen Şengal als ein Drohungsmittel. In Şengal gründeten die Jesiden ihre eigenen Selbstverteidigungskräfte und betreiben ihre eigene Selbstverwaltung. Die KDP versucht, die Jesiden in Şengal zu bedrohen und sagt: „Wenn ihr nicht davon abkommt, wenn ihr unter dem Einfluss der PKK, der Guerilla solche Sachen macht, wird die Türkei kommen, diese Gegend bombardieren und besetzen.“
Es ist wirklich schwierig, auf die Frage, ob der türkische Staat die Media-Verteidigungsgebiete angreifen, Kandil zu besetzen versuchen würde, nur auf die Vernunft gestützt zu antworten. Denn der AKP-Regierung und Tayyip Erdoğan ist jegliche Vernunft längst abhanden gekommen. Mit diesem Charakter könnte er jedes Abenteuer wagen.
Einst gab es Enver Pascha, der in der letzten Phase des Osmanischen Reiches überallhin Feldzüge machte. Er wollte als letztes die Muslime in Russland organisieren und sie gegen Russland einen Krieg führen lassen, wurde aber umgebracht. Auch Tayyip Erdoğan ist so eine Figur! Er verhält sich nach dem Wunsch, ein grosser Türke, ein zweiter Atatürk zu werden. Andererseits setzt er im Inneren wie Äusseren vor allem auf eine Kriegspolitik, um seine Macht aufrechtzuerhalten. Aus diesem Grund könnte es ein Fehler sein, zu erwarten, dass Erdoğan und die AKP-Regierung der Vernunft entsprechend eine Entscheidung treffen würden.
Wenn man vernünftig denkt, ist es natürlich nicht einfach für ihn, Kandil anzugreifen. Es ist nicht so einfach wie man denkt, in die Media-Verteidigungsgebiete einzumarschieren und Kandil zu besetzen. Die Guerilla würde dem einen grossen Widerstand entgegensetzen. Sie würde dem türkischen Staat, der diese Gegend zu besetzen versuchen würde, grosse Schäden zufügen wollen. Alle Vorbereitungsmassnahmen dafür wurden bereits getroffen.
Ob Erdogan das wagen würde, wissen wir nicht, aber es ist nicht ausgeschlossen. Er bedroht insbesondere Şengal. Er bedroht Telaffer und Mossul. Der türkische Staat sagt in gewisser Weise, dass er überall einmarschieren würde, wo die Politik nicht seinen Interessen entspricht. Das ist seine Herangehensweise. Natürlich wird in Şengal nicht das passieren, was der türkische Staat will. Auch nicht das, was die KDP will. Wenn die KDP sich mit den jesidischen Kurden, die alle dortigen Gesellschaftsgruppen umfassen, auf eine jesidische Verwaltung, eine gemeinsame jesidische Selbstverteidigung einigen würde, könnte dies eine Lösung darstellen. Ansonsten werden sich weder die Türkei noch die KDP durchsetzen können.
Sie sehen die Jesiden als ein schwaches Volk an; Alle wollen sich auf sie stürzen. Es besteht die Möglichkeit, dass der türkische Staat Şengal angreift. Aber die Jesiden sind nicht mehr so, dass sie alles über sich ergehen lassen würden. Sie haben ihre eigene Organisierung und Selbstverteidigung.
Manche linke Gruppen aus Europa und den USA werfen der kurdischen Befreiungsbewegung vor, vor allem in Rojava mit den imperialistischen Mächten zusammenzuarbeiten. Wie würden Sie diesen Vorwürfen antworten?
Es ist traurig für uns, von diesen Bewertungen zu hören. Aber das sind subjektive und oberflächliche Ansichten, die dadurch zustande kommen, dass das Problem nicht umfangreich und tiefgründig untersucht wurde. Ausserdem trägt auch die Anti-Propaganda gegen die kurdische Befreiungsbewegung zu dieser Wahrnehmung bei. In dieser Hinsicht zeigen diese Einschätzungen, dass sie sich mit der Revolution in Rojava nicht auskennen. Die Revolution in Rojava findet der apoistischen Linie entsprechend statt. Die ideologischen, politischen Ansätze des Vorsitzenden Apo sind klar. Sein Verhältnis zum Kapitalismus und Imperialismus ist auch klar. Abdullah Öcalan ist vor allem ein Antikapitalist. Aus diesem Grund sollte man bei solchen Analysen vorsichtiger, massvoller und gerechter sein.
Wenn man aus der Ferne guckt, keine umfangreichen Analysen unternimmt und einem oberflächlichen Ansatz folgt, kann man zu derartigen Einschätzungen wie den oben genannten kommen. Denn zur Zeit arbeiten die USA in manchen Bereichen mit der PYD zusammen. Die PYD arbeitet nicht nur mit den USA, sondern auch mit Russland zusammen. In dieser Hinsicht haben die revolutionären Kräfte in Rojava Beziehungen zu verschiedenen internationalen Mächten. Auch die YPG und SDF haben vor allem Beziehungen zu den militärischen Kräften der USA, die Luftangriffe durchführen. Ausserdem haben sie ebenfalls Beziehungen zu Russland.
Wir wissen, woher diese Vorwürfe stammen. Sie kamen vor allem dadurch zustande, dass die USA während des Kobane-Widerstands IS-Ziele in der Umgebung von Kobane bombardierten. Davor gab es keine Beziehungen. Bis zu dem Tag hatten sich die Revolutionäre in Rojava ausschliesslich auf ihre eigene Kraft gestützt, ohne von irgendjemandem Unterstützung zu erhalten. Ein Grossteil der Region, die man heute Rojava nennt, wurde vom IS und Al Nusra befreit. Davor hatten die Revolutionäre das Assad-Regime aus ihrem Gebiet vertrieben.
Vor dem Kobane-Widerstand leisteten die Guerillakämpfer in Şengal gegen den IS-Angriff erfolgreich Widerstand, ohne von den USA oder einer anderen Kraft Unterstützung zu erhalten. Zunächst intervenierte die Guerilla, hielt die Angriffe auf und besetzte die strategischen Punkte. So verhinderte sie, dass Şengal, Êzidîxan komplett in die Hände des IS fielen. Auch das wurde von der Guerilla geschafft, ohne von irgendwem Unterstützung zu bekommen, und so wurden die Jesiden vor dem Genozid gerettet.
In dieser Phase hatten die USA keine Beziehungen zu den revolutionären Kräften im Bezug auf den Kampf gegen den IS. Die bekannt gewordenen Beziehungen fingen mit Kobane an. Und es gab Gründe dafür. Der IS begann nicht nur für die Revolutionäre und die Kurden, sondern für die gesamte Menschheit eine Gefahr zu sein. Er wurde zum Feind der Menschheit.
Er machte menschenfeindliche Aktionen, die das Gewissen der Menschheit verletzt, das Gewissen aller Völker erschüttert haben. Das hat sowohl auf Europa als auch auf Amerika einen Einfluss. Und das nicht nur auf die Völker, sondern auch auf die Regierungen. Die Regierungen mussten die Reaktionen der Völker berücksichtigen. Zeigten die Völker nicht in Europa, den USA und der ganzen Welt Reaktionen auf die Gräueltaten des IS? Nicht nur die Völker, sondern auch die Regierungen fingen an, den IS als eine Gefahr zu betrachten. Man muss diese Tatsache sehen.
Warum haben die USA gegen den IS Stellung bezogen? Der IS ist mittlerweile zu einer Gefahr für die ganze Menschheit geworden. Wenn man gegen ihn nicht interveniert hätte, hätten die Völker ihre Regierungen zur Rechenschaft gezogen und gefragt, warum sie nicht eingreifen, warum sie eine so unmenschliche Bewegung tolerieren. Die Regierungen fürchten sich vor der Reaktion des Volkes und berücksichtigen sie. Vor allem als Kobane umzingelt und angegriffen wurde, waren die Reaktionen der Völker gross.
Mit dem Angriff auf Kobane sahen die Völker der Welt genauer, was für eine brutale Organisation der IS ist. Es entstand danach am 1. November der Welt-Kobane-Tag. Am 6., 7. und 8. Oktober standen das gesamte kurdische Volk und die Revolutionäre und Sozialisten in der Türkei auf und zeigten sich sehr solidarisch mit Kobane. All das beeinflusste am 1. November, dem Welt-Kobane-Tag, und danach die USA und ihre Politik.
Was die Vereinigten Staaten dazu bewegte, mit den Revolutionären in Rojava gemeinsam gegen den IS vorzugehen, war vor allem der Aufstand der Völker der Welt. Die Völker der Welt traten für Kobane, für die Menschlichkeit ein. Die Zerstörung und der Tod Kobanes wären die Zerstörung und der Tod der Menschheit geworden. Wenn Kobane gefallen wäre, wäre der IS zu einer unaufhaltbaren Kraft geworden. Alle Völker haben das gesehen. Deswegen schlossen sie sich für Kobane zusammen.
So wie im Zweiten Weltkrieg die ganze Welt bis hin zu den Bourgeois und Kapitalisten sich für Stalingrad zusammenschlossen, fand für Kobane ein ähnlicher Zusammenschluss statt. In dieser Hinsicht ist es falsch, die Bombardierung des IS durch die USA, diese Beziehung zwischen der YPG und den USA so zu interpretieren, als würde die Revolution in Rojava die imperialistische Politik der USA und das kapitalistische System, auf dem die USA beruhen, befürworten.
Sollen wir dann auch Stalin wegen des Zweiten Weltkrieges Vorwürfe machen? Die Sozialisten arbeiteten mit den Kapitalisten zusammen, sollen wir das falsch finden? Das Wesen des IS führte zu einer ähnlichen Situation. Der IS ist der dunkelste Faschismus. Er ist nicht nur den Linken, sondern der ganzen Welt gegenüber feindlich gesinnt. Es entstand ein religiös fanatischer Ansatz, der insbesondere für die westliche Welt sehr gefährlich ist. Der IS provozierte historische Vorurteile. Er verwendete den Islam als eine Maske, um die grössten Gräueltaten zu begehen, was bei der westlichen Welt, den westlichen Völkern empörte Reaktionen auslöste. Es ist völlig normal und gerechtfertigt, dass die westliche Welt über den IS empört war. Ebenfalls ist es gerechtfertigt, dass die USA und Europa eine Koalition gegen den IS gründeten. Denn der IS ist sehr gefährlich geworden. Wir können ihnen nicht sagen: „Warum habt ihr denn so eine Koalition gegründet? Wir können andere Aspekte ihrer Politik, ihre imperialistische Politik kritisieren.
Man kann ihnen sagen: Warum habt ihr es bisher zugelassen, diese Organisationen sind durch eure Politik entstanden. Wenn so eine Bewegung wie der IS entstanden ist, müsst ihr vor allem eure eigene Politik in der Region in Frage stellen. All das können wir sagen. Aber es gibt eine Tatsache: Der IS ist wirklich unmenschlich geworden.
Aus diesem Grund kam es zu einem Zusammenschluss aller Kräfte unabhängig von ihren Meinungen, Glauben, Ideologien – wie im Zweiten Weltkrieg gegen den Faschismus. Das ist eine Zusammenarbeit, die in einem konkreten Fall entstanden ist. Ja, in gewissem Sinne ist es eine Interessengemeinschaft. Denn der IS stellt für alle, also nicht nur für die Kurden, sondern für die ganze Menschheit eine Gefahr dar. Denn er macht zwischen rechts und links, zwischen diesem und jenem keine Unterscheidung, er ist gegen alle ausser sich selbst, will alle ausrotten. Und die Revolutionäre in Rojava leisteten Widerstand. In diesem Sinne wurde ihr Widerstand zu einem der Menschheit. Für den Westen und Osten, für den Süden und den Norden, für alle ethnischen und religiösen Identitäten leisteten sie Widerstand. Denn der IS ist Feind aller Verschiedenheiten. In diesem Rahmen entstand eine solche Zusammenarbeit.
Aber diese Beziehung bedeutet nicht, dass die USA die legitime Politik der Revolution in Rojava unterstützen würde. Die USA geben der Türkei teilweise immer noch Rückendeckung. Es ist nicht so, dass die USA den legitimen Kampf Rojavas durch eine konsequente Politik unterstützen würden. Es wäre ohnehin nicht richtig, das zu erwarten. Sie möchten durch ihre Politik ihren Einfluss auf Rojava vergrössern.
Es ist nicht richtig, aus der Ferne oberflächliche und allgemeingültige Analysen zu entwerfen. Im Rahmen des Kampfes gegen den unmenschlichen IS fand eine gewisse Zusammenarbeit statt. Unter den bestehenden Bedingungen ist eine Zusammenarbeit gegen den IS zugunsten der Menschheit. Darüber, dass die USA ein imperialistisch-kapitalistischer Staat sind, der sich nicht konsequent verhält, sollte man auf einer anderen Ebene diskutieren.
Die Beziehung der USA und Europas zur Revolution in Rojava und den SDF-Kräften kam sicherlich durch die Haltung der Völker der Welt gegen den IS zustande. Es ist nicht so, dass die USA kamen und sagten: Lasst uns zusammenarbeiten und den IS gemeinsam bekämpfen.
Dass die USA gegen den IS eine Haltung einnahm und so intensiv zuschlug, kam, nachdem die Guerilla gegen die Besetzung Şengals und den Genozidangriff des IS auf die Jesiden sowie gegen die Belagerung Kobanes heldenhaft Widerstand geleistet hatte. Die USA wurden dadurch zu so einem Vorgehen gezwungen, dass sich die Völker der Welt mit Kobane und den Revolutionären in Rojava solidarisierten.
Man kann selbstverständlich die Revolution in Rojava kritisieren und analysieren. Alle demokratischen Kräfte, die linken und sozialistischen Kräfte können die Revolution in Rojava kritisieren. Wenn jemand die Revolution in Rojava kritisieren sollte, dann sind sie es. Wir respektieren diese Kritiken und sehen sie als Ausdruck der Sensibilität. Aber solche Analysen wie „Die Revolution in Rojava arbeitet mit den Imperialisten zusammen, die Revolution in Rojava steht unter dem Einfluss der Imperialisten“ sind nicht richtig.
Worauf sollte man achten, um die Revolution in Rojava richtig kritisieren zu können? Man muss berücksichtigen, was für ein ökonomisches Leben, was für ein soziales Leben etabliert werden, wie die Politik der Revolutionäre im Allgemeinen aussieht. Wodurch wird die Innen- und Aussenpolitik bestimmt? Sind es nicht die Sozial-, Kultur- und Wirtschaftspolitiken? Sind es nicht die politischen Ansätze? Was für ein Leben errichten die Revolutionäre in Rojava? Was für ein Verhältnis haben sie zu den Assyrern, dem arabischen Volk und anderen Volksgruppen? Wo liegt hier das Machtzentrum? Haben das Volk und die Volksräte Macht? Kann sich das Volk frei organisieren? Wer hat die Herrschaft? Diese Faktoren sollten berücksichtigt werden. Denn in der uns bekannten Literatur wird die Politik durch Wirtschafts-, Sozial-, Kultur-, Frauen- und Jugendpolitik bestimmt, durch die Beziehungen zu verschiedenen Identitäten sowie durch das Verhältnis zum Kapitalismus bestimmt. Lange Rede, kurzer Sinn: Die Revolution in Rojava sollte vor Ort und anhand der verwirklichten Praxen analysiert werden.
Man kann sagen, dass in Rojava diese oder jene Wirtschaftspolitik fehlt, dass die kommunale Wirtschaft so und so aussehen sollte, dass in dem Bereich so und so die Freiheiten eingeschränkt sind. Solche Kritiken sind wertvoll. Wir geben ihnen auch Recht. Manchmal haben wir auch Kritik. Denn die Revolutionäre kämpfen und arbeiten als eine unabhängige Organisation in einem anderen Land. Sie haben den Anspruch, eine dem Paradigma des Vorsitzenden Öcalan entsprechende Revolution zu machen. Sie sollen einerseits eine dieser Linie entsprechende Revolution machen und andererseits sollen das dortige Gesellschafts-, Kultur- und Wirtschaftsleben, die Herangehensweise gegenüber den Frauen, der Jugend und den anderen Völkern nicht diesem Paradigma entsprechen? Das ist nicht akzeptabel. Wenn wir hören, dass solche Fehler passieren, kritisieren wir sie auch.
Denn die Revolution in Rojava wird eine sozialistische und emanzipatorische sein. Sie wird ein System aufbauen, das nicht auf dem Kapitalismus, sondern auf Gemeinschaftswirtschaft und Kommunen basiert. Wenn es in diesem Rahmen Kritik geben sollte, wäre es richtig. Man sollte dabei schauen, ob die Revolution demokratisch und emanzipatorisch ist, ob sie sich auf die Gesellschaft stützt.
Im Nahen Osten findet der Dritte Weltkrieg statt. Und die Revolution in Rojava geschieht mitten im Dritten Weltkrieg. Wenn die USA in diesem Krieg mit den militärischen Kräften in Rojava gegen den IS zusammenarbeitet, sollte das nicht problematisiert werden. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, dass diese Beziehungen unseren Prinzipien entsprechend gestaltet werden und zugunsten der Interessen der Völker und der Revolution in Rojava sind und nicht zuungunsten anderer Völker.
Keine der Beziehungen, die die Revolutionäre in Rojava unterhalten, sind den Interessen anderer Völker entgegengesetzt. Sie wollen nur in ihrem eigenen Land frei und demokratisch leben. Der Vorsitzende Apo sagte bereits 1995: „Wir können uns jedem erklären.“ Er sagte, dass wir uns den USA, den Christen sowie Juden, den Gläubigen sowie Ungläubigen erklären können. Wir treten für einen legitimen Kampf ein. Wir sind ein stark unterdrücktes Volk. Wir kämpfen nicht gegen irgendjemanden oder irgendjemandes Interessen, sondern um unsere eigene Existenz weiterführen zu können. Wir wollen nicht einem Genozid zum Opfer fallen, aus diesem Grund sind wir ein Volk, das dem Genozid Widerstand leistet.
Wenn eine solche Kraft wie der IS im Genozidkrieg die Revolution ersticken will und im Krieg gegen den IS die USA und die Revolutionäre in Rojava gemeinsame Interessen haben, warum sollten wir das verurteilen? Wenn wir das verurteilen, dann müssten wir auch die Koalition im Zweiten Weltkrieg verurteilen. Wie in Kobane waren auch in Stalingrad waren alle emotional vereint. Selbst die kapitalistische Welt wartete die ganze Zeit gespannt auf das Ergebnis des Widerstands in Stalingrad. Beim Kobane-Widerstand waren von Paris bis London, von Washington bis Moskau und Peking Alle gespannt und wünschten sich einen Sieg der Revolutionäre.
Die Zusammenarbeit gegen den IS sollte man so begreifen. Man muss begreifen, was der IS in diesem Zusammenhang für die Menschheit bedeutet. Und man muss das Wesen der Revolution in Rojava, dass sie ein Widerstand gegen den Genozid war, begreifen.
Die europäischen Staaten haben mittlerweile die Repression und Verfahren gegen kurdische und türkische Oppositionelle intensiviert. Die deutschen Behörden verhafteten letztes Jahr einige kurdische Aktivisten mit der Begründung, dass sie den Terrorismus unterstützen würden. Wie wird die kurdische Bewegung auf diese Angriffe reagieren?
Die Politik der europäischen Staaten gegenüber den Kurden und der linken türkischen Opposition ist inkonsequent und übereifrig. Sie verhalten sich den Kurden gegenüber wegen ihrer Beziehungen mit der Türkei negativ.
Abgesehen von ihrem Kampf gegen den türkischen Staat kann man nicht eine Aktion der Kurden und der kurdischen Befreiungsbewegung zeigen, die irgendeinem Land, irgendeinem Staat oder Volk geschadet hat. Es gibt nur die Realität des kurdischen Volkes, das der Genozidpolitik des türkischen Staates Widerstand leistet. Die Kurden sind ein dem Genozid ausgesetztes Volk. Aber Europa und Deutschland verstehen diese Realität nicht, sie wollen es nicht verstehen. Sie finden diese Genozidpolitik gegenüber den Kurden normal.
Die Politik Deutschlands ist wirklich gewissenlos, ungerecht und unmoralisch. Sie widerspricht den eigenen Werten Europas. Ja, die kurdische Befreiungsbewegung führt einen bewaffneten Kampf, aber gegen wen führt sie den? Gegen ein genozidales System.
In der Türkei gibt es weder Demokratie noch die Möglichkeit, unter demokratischen Bedingungen zu kämpfen. Was sollten die Kurden nun tun? Sollten sie nicht mehr kämpfen? Wir fragen den deutschen Staat, England und Frankreich: Habt ihr bisher keine Bewegung unterstützt, die einen bewaffneten Kampf führt? Standet ihr noch nie auf der Seite einer Bewegung, die bewaffneten Kampf führt? Wir stellen diese Frage. Und anschliessend sagen wir, dass die Kurden dasjenige Volk sind, das den weltweit berechtigtsten bewaffneten Kampf führt.
Es gibt kein anderes Volk in der Welt, das einen so berechtigten Kampf führt wie die Kurden. Der türkische Staat will mit seiner Polizei, mit seiner Armee die Kurden unterdrücken. Er will seine Genozidpolitik gegenüber den Kurden fortsetzen. Wenn der türkische Staat keine militärische und polizeiliche Gewalt anwenden würde, würden die Kurden ihre demokratischen Rechte sofort erlangen. Auch ohne Waffen. Aus diesem Grund ist die Kurdenpolitik der deutschen Behörden völlig ungerecht und ungerechtfertigt und besteht aus Massnahmen, die nur ergriffen werden, um den türkischen Staat zufrieden zu stellen.
Die Kurden haben weder in Deutschland noch anderswo Aktionen gemacht, die den Völkern schadeten. Es gab einige Aktionen wie die halbstündige Autobahnbesetzung 1994. Und diese fanden in einer Zeit statt, in der Tausende Dörfer niedergebrannt, Tausende extralegale Morde begangen wurden. Bis auf einen Todesfall in einem Gedränge gab es keine Toten. Sie sollten die Aktionen betrachten, bevor der deutsche Staat die PKK 1993 zu einer terroristischen Organisation erklärte. Was hatten die Kurden gemacht? Sie hatten Autobahnen besetzt oder machten Aktionen gegen offizielle Institutionen wie Turkish Airlines. Sie protestierten dagegen, dass Tausende Dörfer niedergebrannt, siebzehn Tausend extralegale Morde begangen, Zehntausende Menschen in die Kerker geworfen wurden. In dieser hochemotionalen Atmosphäre muss man diese Reaktionen verstehen. Wem haben sie sonst geschadet? Zudem fanden in den letzten Jahren keine solchen Aktionen mehr statt. Warum werden dann diese Aktivisten verhaftet? Zweifellos, um den türkischen Staat zufrieden zu stellen.
Diese Verhaftungen und die Repression gegenüber den kurdischen Organisationen finden im Namen des deutschen Volkes statt, aber das deutsche Volk hat kein solches Interesse. Diese Gerichtsverfahren dürfen nicht im Namen des deutschen Volkes, im Namen der deutschen Gesellschaft durchgeführt werden. Fragt die deutsche Gesellschaft, warum diese Menschen verhaftet werden? Welche „terroristische“ Aktionen sollen sie gemacht haben? Der Staat kann keinen einzigen berechtigten Grund nennen. Haben die Kurden denn in Deutschland kein Recht auf Organisierung? Sie haben das Recht, Vereine zu gründen, Propaganda zu machen und die schweren Angriffe des türkischen Staates auf ihr Land und Volk anzuprangern. Niemand kann den Kurden vorwerfen, von ihren demokratischen Rechten Gebrauch gemacht zu haben. Sie organisieren sich im Rahmen der deutschen und europäischen Gesetze. Und sie fügen niemandem einen Schaden zu.
Der türkische Staat macht Deutschland und anderen Ländern Vorwürfe, indem er behauptet, dass die PKK von den USA und Europa unterstützt würde. Und diese Staaten verhaften Kurden, tun kurdischen Politikern und Demokraten Unrecht an, um zu beweisen, dass es dem nicht so ist.
Wir können das unmöglich akzeptieren. Das kurdische Volk zeigt dagegen Reaktionen. Das sind sogar zu kleine Reaktionen. Kann es ein so ungerechtes Vorgehen geben? Was der türkische Staat den Kurden antut, ist allen bekannt, und insbesondere die deutsche Regierung unterstützt diese Politik. Trotzdem wird die türkische Regierung von Vertretern der deutschen Regierung gelobt. Die Flüchtlingskrise, die die europäischen Länder in eine schwierige Lage brachte, wurde von Erdoğan verursacht. Die AKP-Regierung lockte absichtlich so viele syrische Flüchtlinge in die Türkei. Sie wollte sie in die Lager stecken und über diese Lager Al Nusra und den IS kontrollieren. Auf dieser Grundlage wollte sie auf die syrische Politik Einfluss nehmen und die Revolution in Rojava ersticken. Aber nachdem diese Politik nicht aufging, nachdem Al Nusra und der IS gegenüber den Kurden scheiterten und die Revolution in Rojava durch diese Banden nicht erstickt werden konnte, wurde der AKP klar, dass sie über diese Banden keinen Einfluss auf die syrische und Nahostpolitik nehmen können. Also liess sie diesmal die Flüchtlinge auf Europa los, um den Europäern ihre eigene Politik aufzuzwingen.
Es ist wirklich unbegreiflich, dass die Europäer Erdoğan loben und sich so verhalten, als würde der türkische Staat etwas Gutes tun, statt die AKP-Regierung und Erdoğan zur Rechenschaft zu ziehen. Sie erleiden entweder einen Vernunftausfall oder sie schliessen ihre Augen vor den Tatsachen. Und diejenigen, die die ganzen Flüchtlinge in kleinen Booten nach Griechenland schickten, waren Mitarbeiter des türkischen Geheimdienstes MIT. Das ist allen bekannt.
Es ist klar, dass Merkel einen historischen Fehler begeht, indem sie eine Regierung ermutigt, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit begeht. Für den Zustand, in dem sich Syrien zur Zeit befindet, und dafür, dass der Bürgerkrieg so unmenschlich geworden ist, sind Erdoğan und der türkische Staat verantwortlich. Die Völker reagierten ohne Zweifel mit Empörung gegen das Assad-Regime, aber die AKP-Regierung leitete diese Reaktionen irre und stürzte Syrien in ein noch viel tieferes Chaos. Erdoğan leitete den Kampf in Syrien irre. Er bewaffnete den IS und Al Nusra, um über sie auf die syrische Politik und den Nahen Osten Einfluss auszuüben.
Mit diesen Massnahmen führte die AKP eine Politik durch, die in Syrien und in der gesamten Region jegliche demokratische Tendenz im Keim erstickte. Diese Politik schadete allen Völkern Syriens. Die Kurden machten dort eine demokratische Revolution, aber die AKP-Regierung unterstützte die Banden statt der demokratischen Kräfte. Dass eine solche Regierung von der Merkel-Regierung unterstützt wird, ist eine historische Schande. Wie wird Merkel vor der Geschichte dafür, dass sie um kurzfristiger Interessen willen eine dermassen falsche Politik verfolgt hat, Rechenschaft ablegen können?
Wir betrachten Merkels Haltung nicht als die des deutschen Volkes, sondern als die falsche Politik der jetzigen Regierung. Das deutsche Volk ist jetzt mit Sicherheit gegen die Politik der Türkei und der AKP-Regierung. Und die anderen Völker Europas ebenfalls. Sie sollen Referenden durchführen.
Wir wollen, dass unser Volk in Europa auf demokratischer Grundlage kämpft. Die Kurden haben sowohl die Kraft zur demokratischen Organisierung als auch ein demokratisches Bewusstsein. Der deutsche Staat, sein Nachrichtendienst, alle politischen Institutionen sowie die deutsche Polizei wissen sehr wohl, dass es keine andere so verständnisvolle und im Hinblick auf demokratische Werte so sensibilisierte Gesellschaft gibt. Die Kurden haben bei ihrer politischen Arbeit, bei ihren Veranstaltungen und Demonstrationen eine disziplinierte und anderen Völkern nicht schadende Art.
Wir verurteilen die deutsche Regierung und erwarten, dass sie diese Politik einstellt. Sie können mit der Türkei offen sprechen. Sie können sagen, dass die Kurden demokratische Rechte haben, von denen sie Gebrauch machen können, dass man sich nicht in die demokratische Organisierung und interne Solidarität der Kurden einmischen darf. Andere politische Aktivitäten beiseite, ist die Türkei sogar dagegen, dass die Kurden Transparente öffnen. Was sollten die Kurden tun, sollten sie sich der Politik des türkischen Staates unterwerfen? Sollen sie über die Politik des türkischen Staates schweigen? Niemand kann das den Kurden aufzwängen. Die Kurden werden in Europa bis zum Ende von ihren demokratischen Rechten Gebrauch machen.
Heute sehen viele linksradikale, anarchistische, kommunistische und demokratische Gruppen im Westen den demokratischen Konföderalismus als ein alternatives Projekt. Denken Sie, dass das möglich ist?
Die Errichtung eines freien und demokratischen Lebens mit den Mitteln der Ausbeuter, Unterdrücker und Autoritären ist nicht möglich. Wie der Staat die Weltbühne betrat, ist bekannt: Als Unterdrückungs- und Ausbeutungsmittel der Herrschenden. Aus diesem Grund kann man durch den Staat nirgendwo Freiheit und Demokratie erkämpfen. Es kann keinen sozialistischen Staat geben. Es kann keinen Staat der Völker geben. Das sind zweifellos falsche Begriffe.
Der Sozialismus scheiterte, da er den Etatismus und die Macht nicht überwinden konnte. Wenn die Sozialisten sich von dem Staat und der Macht ferngehalten und ihr System ausserhalb des Staates und der Macht gegründet hätten, wären sie bestimmt nicht gescheitert. Sie hätten einen Sieg über den Kapitalismus errungen.
Der Sozialismus bedarf keines Staates und keiner Macht, um sich selbst zu verteidigen. Der Staat und die Macht sind zentralistische Organisationen. Zentralistische Organisationen gehören nicht dem Volk. Die Kraft des Volkes ist die Basis. Das Volk kann in einem nicht-zentralistischen System stark sein. Aus diesem Grund muss man sich ein System ausserhalb des Staates und der Macht überlegen.
Der Vorsitzende Apo schuf gegen die Macht das System der Völker, Arbeiter und emanzipatorischen demokratischen Kräfte, den demokratischen Konföderalismus. Der demokratische Konföderalismus ist die konföderale Organisation der organisierten demokratischen Gesellschaft. Dieses System ist die einzige Alternative zur kapitalistischen Gesellschaft. Natürlich wird es ein System sein, das auf der organisierten demokratischen Gesellschaft basiert. Echte Demokratie ist eigentlich nichts anderes als Sozialismus und Sozialismus ist gleich Demokratie. Das Kommunale muss demokratisch sein und das Demokratische kommunal. Demokratie und Kommunalität sind sich gegeneinander bedingende Faktoren. In diesem Sinne bedeutet die organisierte demokratische Gesellschaft nichts anderes als die Errichtung eines Systems, das auf demokratischem Sozialismus basiert. Die organisierte demokratische Gesellschaft bedeutet den Ausschluss des Kapitalismus. Wenn die organisierte demokratische Gesellschaft sich in Form eines Staates organisiert, zerfällt sie am Ende und integriert sich wieder ins kapitalistische, ausbeuterische System.
Die organisierte demokratische Gesellschaft muss versuchen ihr emanzipatorisch demokratisches Wesen durch ein dezentralistisches demokratisches konföderales System zu bewahren, statt sich ihre Staatwerdung durch ein zentralistisches System zum Ziel zu setzen. Daher ist der demokratische Konföderalismus das einzige Modell, das das Wesen der organisierten demokratischen Gesellschaft, also des emanzipatorisch demokratischen Systems, des nicht-ausbeuterischen, nicht-unterdrückerischen Systems bewahren kann.
Im Rahmen der in Europa bestehenden Möglichkeiten könnte gegen den Staat eine eigene demokratisch konföderale Organisierung der Gesellschaft, was wir als Demokratie bezeichnen, aufgebaut werden. Vor allem in Europa könnte das viel eher gemacht werden. Die europäische Linke und die europäischen Demokraten könnten das schaffen. Der Staat könnte immer weiter eingeengt und verkleinert werden, so dass eine vom demokratischen Konföderalismus dominiertes Lebensordnung geschaffen würde. In diesem Sinne ist der demokratische Konföderalismus ein Projekt, ein Modell. Allerdings müssen der Staat und die Macht abgelehnt werden, um den demokratischen Konföderalismus als ein Projekt und Modell schaffen zu können.
Die Anarchisten lehnen den Staat sowieso ab. In dieser Hinsicht sind sie einem solchen Projekt nicht abgeneigt. Natürlich bedeutet das nicht, dass wir alle Ansätze der Anarchisten richtig finden. Aber ihre Ablehnung von Staat und Macht ist eine positive Haltung. In der Vergangenheit wurde diese Haltung von der Linken und den Kommunisten als negativ bewertet. Andere Kritiken an Anarchisten können berechtigt sein, sind teilweise auch richtig. Aber ihre Kritik an Staat und Macht ist sehr bedeutungsvoll. Aus diesem Grund sollten diejenigen, die den demokratischen Konföderalismus als ein Modell, als eine Alternative zum Kapitalismus betrachten, zuallererst die Macht und den Staat in Frage stellen. Das ist wichtig.
Wenn die Macht und der Staat nicht in Frage gestellt und die vergangenen Fehler des Sozialismus im Hinblick auf die Macht und den Staat wiederholt werden, muss die Umsetzung des Projektes des demokratischen Konföderalismus mangelhaft bleiben.
Der demokratische Konföderalismus ist ein anderer Ausdruck für die Überwindung des Staates. Der Staat kann durch ein etatistisches System nicht überwunden werden. Der Staat kann durch ein demokratisch-konföderales System bzw. Modell – wie Marx sagte – ausgelöscht, zum Absterben gebracht, überwunden werden. Aber ich betone es nochmals: dieses Zum-Absterben-Bringen kann nicht durch den Staat selbst erfolgen. In dem man vor den Staat Begriffe wie “sozialistisch” oder “Volk” setzt, kann man dieses Ziel nicht erreichen. Die Alternative zum Staat und der Weg, um den Staat zu überwinden, ist zweifellos das demokratisch-konföderale Modell.
Aus diesem Grund kann man um die Hegemonie des demokratisch-konföderalen Systems in der Gesellschaft kämpfen, ohne sich darum zu bemühen und zu erwarten, dass der Staat von heute auf morgen abgeschafft würde. Wir sehen natürlich vor, dass die Umsetzung dieser Lösung auf der organisierten demokratischen Gesellschaft basierend erfolgen soll. Es ist eine radikale und revolutionäre Lösung und keine reformistische. Niemand sollte es als eine Reformismus betrachten. Der Aufbau des auf der organisierten Gesellschaft und der Basis beruhenden demokratischen Konföderalismus bedeutet einen revolutionären Angriff gegen den Staat. Und wir sehen, dass das möglich ist. Es wird ohnehin in Südamerika und Europa diskutiert. Wir glauben, dass diese Diskussionen sich immer weiter vertiefen werden und der von Abdullah Öcalan als Alternative zum Staat entwickelte demokratische Konföderalismus mit der Zeit in konkreten Praxen ins Leben gerufen werden wird.
Zum Abschluss noch die Frage: Was erhoffen Sie sich von 2017? Was befürchten Sie?
2017 ist zweifellos ein Jahr, dass Anlass zur Hoffnung wie auch zu Sorgen gibt. Im Nahen Osten geht der Dritte Weltkrieg weiter. Zugleich wird in dieser Region das fünftausendjährige etatistische System in Frage gestellt. Die Probleme, die von diesem System Schicht für Schicht angehäuft wurden, werden mehr und mehr sichtbar. Sie zeigen sich sowohl in politischer als auch in sozialer wie ökonomischer Hinsicht. Aus diesem Grund lassen sich die Probleme des Nahen Ostens nicht mehr wie in der Vergangenheit verdecken, ohne deren Lösung wird sich nicht mehr weiter leben lassen. Dass dies jetzt sichtbar geworden ist, schafft auch Hoffnung.
Unser Ansatz der »demokratischen Nation« ist sehr wichtig. Wir schlagen für die Lösung der Probleme im Nahen Osten dieses Konzept vor. Wir sagen, dass das etatistische Nationenverständnis und der Nationalstaat die Brutstätte von allerhand Übel sind. Der nationalstaatliche Ansatz schürt den religiösen Fundamentalismus, den Nationalismus sowie den Monismus und lehnt jeden anderen Ansatz ab.
Das nationalstaatliche Prinzip steht im Nahem Osten vor noch schwerwiegenderen Problemen. Doch die Völker der Region sind erwacht. Nun werden sie nicht mehr die Staaten akzeptieren, die den Status Quo repräsentieren. Sie werden aber auch nicht die Herrschaft anderer Ausbeutungs- und Unterdrückungssysteme akzeptieren.
Da in dieser Phase des Erwachens der Bevölkerung die richtigen Lösungen und Alternativen nicht rechtzeitig aufgezeigt werden konnten, versuchten reaktionäre Kräfte die Werte und Sehnsüchte des Volkes irrezuleiten. Doch die kurdische Befreiungsbewegung zeigt alternative Lösungen auf. Wir sind der Auffassung, dass der Islamische Staat 2017 unter dieser Voraussetzung völlig zerschlagen werden wird. Im Grunde begann sein Niedergang mit dem Widerstand in Kobane. Doch er wird nicht nur militärisch geschlagen werden müssen, sondern auch ideologisch und politisch.
Dabei beruht der Erfolg der Kurden ohnehin nicht einzig auf militärischen Siegen. Der politische und ideologische Standpunkt war ein massgeblicher Faktor bei der Zurückdrängung des IS. Es wird ihm nirgendwo mehr gelingen, sich als Alternative zu präsentieren. Dieser Rückschlag sowohl in Syrien wie im Irak wird sich auch auf Stellung in Nordafrika auswirken.
Auch wenn die AKP-Regierung diese demokratischen Entwicklungen rückgängig zu machen bestrebt ist und den Ansatz der »demokratischen Nation« sowie die politische und soziale Ordnung, die auf freiem und demokratischem Zusammenleben verschiedener Identitäten basiert, unterdrücken will, wird ihre Kraft dazu nicht reichen. Mit der Niederlage des IS wird auch die AKP mit ihrem monistischen Ansatz besiegt werden. Auch wenn die AKP-Regierung mit ihrer militärischen Gewalt diese Entwicklungen behindern sollte, wird es in diesem Nahen Osten, dessen Probleme so schwerwiegend geworden sind, nicht möglich sein, das demokratische Nationenverständnis und alternative Meinungen zu unterdrücken. In diesem Sinne blicken wir hoffnungsvoll auf die Entwicklungen im Nahen Osten.
Aber auch in globaler Hinsicht gibt es Grund zur Hoffnung. Der Kapitalismus befindet sich am Abgrund. Man sollte seinen Niedergang nicht nur auf der ökonomischen Ebene zur Kenntnis nehmen, er ereignet sich ebenso sozial wie kulturell. Die Menschheit kann nicht nur Konsumgegenständen hinterher laufen.
Das sind nicht die Werte, die die Menschheit schufen. Der Kapitalismus machte aus den Menschen Pawlowsche Hunde, die dem Konsum hinterherrennen. Das ist eine Menschheitskrise. Daher wird diese tiefe Krise, die die Menschheit erlebt, auch die Lösungswege aufbringen. Wir glauben, dass 2017 ein Jahr sein wird, das neben schwerwiegenden Problemen auch die Suche nach Lösungen mit sich bringen wird.
Man spricht vom Aufstieg der Rechten in Europa. Auch das weist auf eine Krise hin und ist eine Folge der Ausweglosigkeit des Kapitalismus gegenüber dieser Krise. In diesem Sinne ist der Aufstieg der Rechten als die Zuspitzung der Ausweglosigkeit zu betrachten. Aus diesem Grund sollten sich die linken und sozialistischen Kräfte, die demokratischen Kräfte mehr mit Lösungsalternativen beschäftigen. Sie müssen sozialistische Lösungen finden. Wenn man keine wirklich demokratischen Lösungen findet, werden durch reaktionäre, emotionale Reaktionen neue Machtgruppen entstehen. Das ist wie wir den kommenden Prozess einschätzen.
Es ist nicht, als gebe es keine Themen die uns Sorgen bereiten. Vor allem die Politik des türkischen Staates ist Besorgnis erregend. Der türkische Staat zwingt seine Politik der gesamten Welt auf. Sie betreibt kurdenfeindliche Politik und fordert, dass alle kurdenfeindlich sein sollen. Sie fodert, dass jeder gegenüber dem kurdischen Genozid schweigt. Die Politik der Türkei erschwert auch die Probleme in der Region und in Europa. Wenn der Politik des türkischen Staates und der AKP kein Einhalt geboten wird, werden sich die Probleme in der Region und in Europa noch mehr vertiefen. Politik die sich nich an Gerechtigkeit, Gleichheit, Freiheit und Gewissen orientiert, sondern ausschliesslich interessensorientiert agiert, birgt für die für die Menschheit grosse Gefahren.
Vor diesem Hintergrund gibt es die Wahrscheinlichkeit, dass im Jahre 2017 grosse Ungerechtigkeiten durchlebt werden. Denn interessenfixierte Politik ist immer verbunden mit Ungerechtigkeiten. Wenn wir zwar in dieser Hinsicht Sorgen haben, so sehen wir doch auch die Chance, dass sich vertiefende Probleme auch zur Entstehung der Lösung beitragen. So sehen wir mit Hoffnung auf das neue Jahr.