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Die zweite Nakba beginnt. Was tun wir? Thesen zum Gaza-Krieg.

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Thesen zum Gaza-Krieg Die zweite Nakba beginnt. Was tun wir?

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Politik

Ich schicke meine allgemeine These voraus: der Gaza-Krieg 2023 ist anders als die vorangegangenen Kriege dieser Art.

Palästinenser vor dem zerstörten Watan Tower in Gaza City, 8. Oktober 2023.
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Palästinenser vor dem zerstörten Watan Tower in Gaza City, 8. Oktober 2023. Foto: Palestinian News & Information Agency (Wafa) in contract with APAimages (CC-BY-SA 3.0 unported - cropped)

Datum 6. November 2023
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KorrekturKorrektur

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Er entwickelt sich vor den Augen der Welt zur Fortsetzung der Nakba von 1947 – 1949. Dafür gab es in Israel nachweislich Pläne, die schon vor dem 7. Oktober bestanden und Teil der Regierungspolitik der derzeitigen israelischen Regierungspolitik sind. Zudem beendete er eine heftige innenpolitische Krise in Israel. Hinzu kommt eine spezielle aussenpolitische Konstellation.

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Es ist nicht möglich, den Angriff der Hamas auf israelisches Staatsgebiet vom 7.10. ausserhalb des Kontexts von israelischer Besatzung und palästinensischem Widerstand in seiner Geschichte und Gegenwart zu verstehen. Ebenso wenig ist es möglich, die aktuelle israelische Reaktion und ihre Ziele im Gaza-Krieg unabhängig vom Charakter Israels als eines siedlerkolonialistischen Apartheidstaats zu verstehen.

Auch diese Charakterisierung ist umstritten – nicht ohne Grund. Würde zB. die Bundesregierung der Charakterisierung Israels als eines Apartheidstaats zustimmen, wie amnesty international 2022 detailliert dargelegt hat, erwüchsen der deutschen Aussenpolitik die daraus folgen unmittelbaren Rechtspflichten, gegen Israel vorzugehen. Der Internationale Gerichtshof ist derzeit mit der Frage einer solchen Bewertung bereits beschäftigt (Muriel Asseburg 2022).

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In der Folge wäre die Anerkennung dieser international wissenschaftlich wie politisch von zunehmend vielen geteilten Charakterisierung der Politik und der politischen Struktur des Staats Israel das voraussichtliche Ende der sogenannten deutschen Staatsräson. Diese lautete 2005 in ihrer ersten Formulierung durch den damaligen deutschen Botschafter in Israel, Rudolf Dressler: „Die gesicherte Existenz Israels liegt im nationalen Interesse Deutschlands, ist somit Teil unserer Staatsräson." (Markus Kaim 2015) Es geht bei der deutschen „Staatsräson“ in Wahrheit also zuerst um das nationale Interesse Deutschlands - und nicht um die Schuld der in Nazifaschismus wie heute herrschenden Klasse in Deutschland an der Sho'ah. Im Interesse der aktuellen Politik Deutschlands ist es daher vor allem, Israel, seine gesellschaftliche Struktur und sein politisches Verhalten anders darzustellen und anders zu sehen, als es in der Realität ist.

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Über das konkrete militärische und politische Ziel und Konzept der Hamas-Aktion vom 7. Oktober ist wenig bekannt. Die israelische Reaktion darauf zielt zunächst ausdrücklich, in dieser Form erstmalig, auf die restlose Vernichtung der Hamas ab. Angesichts allein der räumlichen Verhältnisse im Zielgebiet der israelischen Kriegshandlungen ist es ausgeschlossen, dass dieses Ziel ohne enorme Verluste an Menschen und Einrichtungen Gazas verläuft. Darüber hinaus weist das militärische und politische Vorgehen Israels daraufhin, dass noch sehr viel weitergehende Ziele mit der Aktion gegen Gaza beabsichtigt sind, die bei der jetzt sich bietenden Gelegenheit offenbar durchgesetzt werden sollen.

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Zunächst ist es nicht unwesentlich, sich über den Charakter des aktuellen Kriegs zu verständigen. In der internationalen Öffentlichkeit wie auch besonders in der Regierungserklärung von Bundeskanzler Scholz am 12.10.2023 wird regelmässig hervorgehoben, bei dem von Israel mit Erklärung des Kriegszustands begonnenen militärischen Massnahmen handele es sich um Akte der Selbstverteidigung gemäss Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen. Das wird trotz der grossen Einmütigkeit, mit der das auch international immer wieder betont wird, mit nachvollziehbaren Gründen jedoch auch bestritten: der besagte Artikel findet nämlich üblicherweise keine Anwendung auf eine Situation, in der eine Besatzungsmacht in besetzten Gebieten handelt. Das Recht auf militärische Selbstverteidigung gilt zwischen Staaten und ist Teil ihrer internationalen Beziehungen (Gregor Schirmer 2006, Clive Baldwin, How does International Law Apply in Israel and Gaza?, 2023).

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Gaza aber ist seit 1967 von Israel illegal besetzt. Das gilt auch nach dem völligen Rückzug Israels aus Gaza und der anschliessenden vollständigen Blockade des Gazastreifens von allen Seiten seit dem Jahr 2007, die ja auch militärisch derzeit eine bedeutsame Rolle spielt (Abschalten der Elektrizität, Schliessen der Nahrungsmittelversorgungswege, Blockade der Grenze für Fliehende nach Ägypten durch wiederholte Luftangriffe auf oder bei Rafah). Nach geltender völkerrechtlicher Sicht ist Gaza weder juristisch noch faktisch ein souveräner Staat, sondern juristisch Teil der von Israel als Staat explizit nicht anerkannten Palästinensischen Autonomiegebiete (PNA), faktisch von den Besetzten Gebieten der Westbank abgeschnitten und politisch von ihnen getrennt.

Selbst wenn Staaten, die Palästina vollständig anerkennen, das anders sehen, gilt es definitiv nicht für Israel, dessen Regierungen dies eben nicht tun. Insofern ist fraglich, ob Art. 51 der UN-Charta hier anwendbar ist. Beruft sich Israel auf das aus diesem Artikel folgende Recht, erkennt es de facto Palästina, dessen Teil Gaza unzweifelhaft ist, als Staat an. Dasselbe gilt für alle anderen Staaten, zB. die Bundesrepublik oder die USA.

Die Frage, welche Art Krieg sich hier abspielt, ist politisch nicht bedeutungslos. Die Alternative zu einem zwischenstaatlichen Krieg, wie er von Israel und seinen Verbündeten gesehen wird, ist, diese Kampfhandlungen als eine Art Kolonialkrieg Israels gegen eine um Selbstbestimmung kämpfende Bevölkerung und deren Organisationen zu verstehen – und genau das ist aus historischer und heutiger Perspektive für mein Verständnis der Fall.

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Das schliesst das Recht auf militärische Selbstverteidigung zum Schutz des israelischen Staatsgebiets und israelischer Bürger:innen gegen bewaffnete Angriffe aus dem Gazastreifen nicht aus. Dieses Israel zustehende Selbstverteidigungsrecht gilt allerdings gleichermassen auch für die Bewohner:innen Palästinas in allen seinen Gebieten, und die Frage, wer diesmal angefangen hat, ist auf dem Hintergrund der Gesamtsituation des offenen zionistisch-palästinensischen Konflikts seit den 1920er Jahren von untergeordneter politischer Bedeutung.

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Mehr noch: das Recht auf auch bewaffneten Kampf gegen eine fremde Besatzung ist zumindest Völkergewohnheitsrecht, wenn nicht sogar im Völkerrecht fest verankert (Gregor Schirmer 2006). Der Kampf der palästinensischen Nationalbewegung für Befreiung von Besatzung und Belagerung sowie einen eigenen Staat und weitere politische Ziele, zB. das Rückkehrrecht, ist international weithin anerkannt und steht ausser Frage.

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Jede palästinensische Führung hat damit das völkerrechtlich verbriefte Recht zum Widerstand bis hin zum militärischen Kampf gegen die Besatzung Palästinas durch Israel. Das ist die Konsequenz der seit 1967 andauernden Besatzung in all ihren unterschiedlichen Formen. Das Ziel dieses Kampfes ist das unveräusserliche Recht Palästinas auf Selbstbestimmung (zB. Mandela 1990).

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Von diesem Aspekt kann und muss der Aspekt einer politischen oder moralischen Bewertung des Angriffs der unter Hamas-Führung stehenden bewaffneten Milizen des Gazastreifens unterschieden werden. Aus meiner Sicht ist die Hamas ohne Zweifel die im Gaza-Streifen verantwortliche Widerstandsbewegung und als solche anzuerkennen. Dennoch ist sie in meinen Augen keine Befreiungsbewegung im linken Sinn. Ihre politischen Ziele jenseits der nationalen Befreiung sind in meinen Augen mehr als problematisch, ihre Ideologie ist reaktionär, ihre Formen des Kampfes – soweit ich das von hier aus beurteilen kann – politisch und moralisch fragwürdig.

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Dazu muss unabhängig von solchen zu diskutierenden Fragestellungen aber zunächst klargestellt werden, dass es die nicht zuletzt auf israelischen, europäischen und US-Druck stattgefundenen Wahlen des Jahres 2006 im Gazastreifen waren, aus denen der Wahlsieg der Hamas und die Niederlage der Fatah resultierte. Diese Wahlen standen unter internationaler Beobachtung und wurden seinerzeit im Ergebnis als im Ganzen fair und frei bezeichnet. Weil die bis dahin regierende Fatah diesen Wahlausgang nicht akzeptieren wollte, kam es zu Spannungen, die 2007 durch eine militärische Auseinandersetzung zwischen Hamas und Fatah zugunsten ersterer entschieden wurde.

Die Hamas-Regierung, die seither den Gazastreifen führt, ist also nicht durch einen Putsch an die Macht gekommen. Das festzustellen impliziert keine Bewertung der Regierungstätigkeit der Hamas im Gazastreifen, an der international immer wieder auch schwere Kritik geäussert wird. Allerdings hat das zahlreiche internationale Organisationen bisher nicht dazu veranlasst, ihre Beziehungen zu dieser Regierung abzubrechen.

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Die damalige israelische Regierung erreichte damit ein von ihr angestrebtes Ziel: die Schwächung der PLO und damit die faktische politische Spaltung der palästinensischen Nationalbewegung und ihres Territoriums. Wahrscheinlich richtig ist die immer wieder geäusserte Annahme, dass Gründung und Aufbau der Hamas als islamistischer Konkurrent zu nationalistischen (Fatah) oder linken palästinensischen Bewegungen (PFLP, DFLP, KP Palästinas), die unter dem Dach der PLO zusammenarbeiten, nicht ohne Einflussnahme Israels geschah. Das folgt einem altbekannten Muster kolonialistischer Aufrechterhaltung der Macht durch Aufspaltung der antikolonialistischen Bewegung seitens der Kolonialisten und sogar Bündnisse mit vorzugsweise deren reaktionärsten Gruppierungen (Marc Thörner, 2010). Aus der jüngeren Vergangenheit ist das zB. aus den Auseinandersetzungen zwischen ANC und PAC im Kampf gegen die südafrikanische Apartheid bekannt und belegt.

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Es ist also zu konstatieren: nicht nur die gewählte Hamas-Führung, sondern jede Führung des Gazastreifens hätte unter den gegebenen politischen Bedingungen das Recht auf militärische Aktionen gegen Israel als Besatzer. Das ist so - unabhängig von der Bewertung der weiteren politischen Ziele dieser Führung über das Recht auf Selbstbestimmung Palästinas hinaus oder den jeweiligen Methoden ihrer Kampfführung.

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Diese Methoden und Formen sind die einer antikolonialen und asymmetrischen Kriegsführung, wie sie seit Jahrzehnten bekannt ist und praktiziert wird – einschliesslich der Gräueltaten, die interessierte Propagandisten des status quo sofort über diesen Kampf verbreiten, und die später oft leise wieder dementiert werden müssen. Damit soll nicht in Abrede gestellt oder gar gerechtfertigt werden, dass es zu solchen Gräueltaten nicht auch kommt oder kam.

Aber die weitgehend entpolitisierten und dekontextualisierten Empörungs-Ausbrüche gegen die aktuellen militärischen Aktionen palästinensischer Milizen klingen sehr ähnlich denen, die vor wenigen Jahrzehnten gegen die UmkhontoWeSizwe-Kampfverbände des ANC in Südafrika, des Vietcong in Süd-Vietnam, der FNL in Algerien usw. vorgebracht wurden. Das Ziel solcher Vorhaltungen ist die Delegitimierung nicht der einzelnen, oft genug sicher zu verurteilenden Gewalttat – worin bestand der politische und militärische Sinn des Angriffs zB. auf ein Musikfestival oder einen unbewaffneten Kibbuz? – sondern des militanten Widerstands und des Kampfs um Selbstbestimmung insgesamt, der gefälligst „gewaltfrei“ zu verlaufen habe.

Deshalb ist zuerst einmal klar zu sagen: es ist nicht unsere Aufgabe, aus bequemem Abstand die Mittel und Methoden einer legitim um Befreiung kämpfenden Bevölkerung zu beurteilen.

Zudem, und ohne, dass man sie und ihren Kampf politisch in eine Reihe mit den gerade angeführten Beispielen stellen könnte: gerade auch der zeitweise asymmetrische Kampf zionistischer Milizen bis 1948 und unmittelbar danach war nicht immer „zivilisierter“ – wer es nicht glaubt, möge es bei dem israelischen Historiker Ilan Pappé detailliert nachlesen. Dasselbe gilt erst recht für die offensichtlichen Kriegsverbrechen, die im Namen eines sich selbst als zivilisierter Rechtsstaat, als einzige Demokratie der Region mit der angeblich moralischsten Armee der Welt vor deren Augen begangen werden. Sie stehen in der Tradition einer zionistischen Politik der ethnischen Säuberung, die für den Zeitraum vor und nach 1948 bisher nur deshalb nicht so bezeichnet wird, weil es den entsprechenden Rechtstatbestand damals noch nicht gab. Es gibt ihn erst seit dem Jugoslawienkrieg 1999. Er kann rechtlich nicht rückwirkend auf die Nakba angewandt werden, historisch und politisch aber ist eine solche Beschreibung völlig angemessen (Ilan Pappé, 2019).

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Im Rahmen dieses Referats kann und soll nicht dargestellt werden, dass die Praxis ethnischer Säuberung und grossflächiger Vertreibung der arabischen Bevölkerung Palästinas seit der Entscheidung der Zionistische Weltorganisation, einen jüdischen Nationalstaat in Palästina von Anfang an – und nicht erst etwa seit Bekanntwerden der Sho'ah - mitgedacht wurde. Das war nicht möglich ohne die Entwicklung kolonialistischer und rassistischer, sowie, in einem Teil der zionistischen Bewegung, bibelfundamentalistischer Ideologeme.

„Die Entscheidung der WZO für Palästina als Ort des zukünftigen »Judenstaates«, nachdem auch Argentinien und Uganda in der Diskussion gewesen waren, ging einher mit einer fundamentalistischen Bibelauslegung, die trotz des zunächst vorwiegend säkularen Charakter des Zionismus eine zentrale Rolle spielte bei der Legitimation des zionistischen Anspruches auf das Land Palästina, das damals zum Osmanischen Reich gehörte. Dort lebten zu diesem Zeitpunkt etwa eine Million Palästinenser, die dem Land seinen spezifischen Charakter gaben, darunter 4 % Juden. Der Bezug auf biblische Versprechen war indessen keine zionistische Erfindung, sondern ist charakteristisch für alle siedlerkolonialistischen Projekte.“ (Petra Wild, 2013, S. 13).

Theodor Herzl glorifizierte dieses Vorhaben mit den Worten: „Für Europa würden wir dort ein Stück des Walles gegen Asien bilden, wir würden den Vorpostendienst der Kultur gegen die Barbarei besorgen.“ (zit. nach Petra Wild, a.a.O). „Israel Zangwill brachte die Parole »Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land« in Umlauf, die nicht bedeutete, dass die Anwesenheit einer einheimischen Bevölkerung der zionistischen Bewegung nicht bekannt war, sondern vielmehr, dass diese nicht als vollwertige Menschen, nicht als an die europäischen Siedler heranreichende Menschen angesehen wurden. Der langjährige Vorsitzende der WZO, Chaim Weizmann, zum Beispiel fand: „Es gibt einen fundamentalen Qualitätsunterschied zwischen Jude und Eingeborenem.“

Als der Leiter der Kolonisationsabteilung der Jewish Agency ihn über die Araber in Palästina befragte, antwortete er: »Die Briten haben uns gesagt, dass es dort einige Hunderttausend Neger gibt, die keinen Wert haben.«“ (Ben White, Israeli Apartheid. A Beginner's Guide, London/New York 2009, S. 16f; vgl. insgesamt: Petra Wild, 2013, S. 16f).

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Aus diesem Vorhaben folgte von vornherein die Notwendigkeit, sich irgendwie zur Tatsache zu verhalten, dass am Ort des künftig aufzubauenden zionistischen Staats über eine Million Menschen lebten, die dazu nie befragt worden waren. Deshalb wurde schon früh, seit Beginn der 1930er Jahre, diskutiert, was man seither den „Transfer“ dieser lästigen arabischen Bevölkerung nannte:

„Das Ziel der zionistischen Bewegung war die Übernahme des gesamten Mandats-Palästinas und die Ersetzung der einheimischen Bevölkerung durch eine europäische Siedlerbevölkerung. Dem Vorsitzenden der Zionistischen Weltorganisation, Chaim Weizmann, zufolge sollte Palästina so jüdisch werden, wie England englisch ist. Das war nur zu erreichen, indem die einheimische Bevölkerung vertrieben wurde. Das hatte bereits Theodor Herzl nahegelegt: »Die arme Bevölkerung trachten wir unbemerkt über die Grenze zu schaffen, indem wir ihr in den Durchzugsländern Arbeit verschaffen, aber in unserem eigenen Land jederlei Arbeit verweigern.«

Alle zionistischen Fraktionen waren sich über die Notwendigkeit eines »Transfers« – wie die Vertreibung euphemistisch genannt wurde – der einheimischen Bevölkerung einig. Ab Mitte der 1930er Jahre wurden mehrere aufeinander folgende Komitees eingesetzt, die Möglichkeiten zum »Bevölkerungstransfer« untersuchen sollten.

David Ben-Gurion, ein weiterer Vorsitzender der Zionistischen Weltorganisation, sagte auf dem 20. Kongress der WZO mehr als eine Dekade vor der Gründung des Staates Israel: »Die wachsende jüdische Macht im Land wird unsere Möglichkeiten, einen grossen Transfer auszuführen, erhöhen.«

Der langjährige Vorsitzende des Jüdischen Nationalfonds (JNF), Joseph Weitz, erklärte auf einem Treffen des »Transferkomitees« 1937, warum die Vertreibung der einheimischen Bevölkerung notwendig war: »Der Transfer der arabischen Bevölkerung aus dem Gebiet des jüdischen Staates dient nicht nur einem Ziel – der Verringerung der arabischen Bevölkerung. Er dient auch einem zweiten, nicht weniger wichtigen Ziel, nämlich das Land zu evakuieren, das gegenwärtig von Arabern besessen und kultiviert wird und es so für die jüdischen Einwohner freizumachen.«

1940 notierte Joseph Weitz in seinem Tagebuch, dass eine Koexistenz mit den Palästinensern im Rahmen des zionistischen Projekts unmöglich sei: »Unter uns muss klar sein, dass es im Land keinen Platz gibt für beide Völker zusammen. (...) Mit den Arabern werden wir unser Ziel, ein unabhängiges Volk in diesem Land zu sein, nicht erreichen. Die einzige Lösung ist Eretz Israel, zumindest der westliche Teil Eretz Israels, ohne Araber (...) und es gibt keinen anderen Weg, als die Araber von hier in die benachbarten Länder zu transferieren, sie alle zu transferieren. Nicht ein Ort oder Stamm soll übrigbleiben und der Transfer muss auf den Irak, Syrien und sogar Transjordanien gerichtet sein. Zu diesem Zweck wird Geld aufzutreiben sein, viel Geld; und nur durch diesen Transfer kann das Land Millionen unserer Brüder aufnehmen. Es gibt keine Alternative dazu ...« (Petra Wild, 2013).

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Um diese „Transferlösung“ in Angriff zu nehmen begannen die zionistischen Milizen Hagana, Etzel, Stern-Gruppe und andere bereits vor dem Ende des britischen Mandats, ab Dezember 1947, gewaltsam palästinensische Menschen zu vertreiben. Die bekannten Massaker von Deir Yassin, Tantura und Huwayma folgten im Mai 1948 1948 – nicht etwa als spontane Gewaltausbrüche, sondern nach sorgfältiger und jahrelanger Planung unter anderem auf der Basis sogenannter Dorfregister – Ilan Pappé hat das detailliert beschrieben (Ilan Pappé, 2019).

Dies führte zur Nakba, über die der als liberal geltende israelische Historiker Benny Morris 2004 von sich gab: „Ich glaube nicht, dass die Vertreibungen von 1948 Kriegsverbrechen waren. Man kann kein Omelett machen, ohne Eier zu zerschlagen. Man muss seine Hände beschmutzen. (...) Ein jüdischer Staat wäre nicht entstanden, wenn man nicht 700.000 Palästinenser vertrieben hätte“, während Yeshayahu Ben-Porat 1972 in der Tageszeitung „Yediot Ahronot“ aus seiner Sicht feststellte: »Es ist die Pflicht der [israelischen] Führung der Öffentlichkeit klar und mutig eine Reihe von Wahrheiten zu erklären. Eine Wahrheit ist, dass es keinen Zionismus, keine Siedlung und keinen jüdischen Staat gibt, ohne die Araber zu evakuieren, ihr Land zu enteignen und sie abzuzäunen.“ (Petra Wild 2013).Genau diese siedlerkolonialistische Praxis findet heute ihre Fortsetzung, ja, sie spitzt sich heute zu.

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Wer vor diesem historischen Hintergrund den palästinensischen Widerstand ausschliesslich unter moralischem Aspekt verurteilt, stellt sich damit entweder offen auf die Seite der international von einer breiten Mehrheit der Völker wieder und wieder verurteilten Nakba und den Ergebnissen der Besatzung seit 1967 oder setzt unausgesprochen voraus, es gäbe auch andere, weniger zu verurteilende, mildere oder gar „gewaltfreie“ Mittel als die des bewaffneten Kampfs. Das müsste dann im Fall der Besatzung, unter der Palästina seit 1948 steht, gezeigt werden – eine Situation, in der westliche und Israel verbundene Kreise ja sogar völlig gewaltfreie Widerstandsformen wie die der BDS-Bewegung kriminalisieren und öffentlich ächten, von steinewerfenden Jugendlichen oder individuellen Verzweiflungsattacken ähnelnden Operationen wie Selbstmordattentaten ganz zu schweigen. Wie man aber die Realität und Genese auch solcher Taten versuchen kann, denkend und mitfühlend und eben nicht arrogant aus einer Position von Oben moralisierend nachzuzeichnen, zeigt der später von einem palästinensischen Fundamentalisten ermordete israelische Schauspieler Guiliano Mehr-Khamis in seinen Film „Arna's Children“ (2003).

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Derzeit geht es aber nicht um Messerattacken oder Selbstmordattentate, sondern um Raketenangriffe und Geiselnahmen und inzwischen um einen regelrechten asymmetrischen Krieg, der gleichwohl auch als „Terror“ verurteilt wird. Wie soll aber irgendeine palästinensische Führung das unveräusserliche Recht auf Selbstbestimmung Palästinas so durchsetzen, dass es auch dem Besatzerstaat und seinen jahrzehntelangen internationalen Unterstützer:innen als annehmbar erscheint?

Und wie soll der Kampf für die Selbstbestimmung Palästinas ausserhalb des Nahen Ostens solidarisch unterstützt werden, wenn selbst so absolut gewaltfreie Mittel wie die der BDS-Bewegung als antisemitische Terrorunterstützung etikettiert, Solidaritätsdemonstrationen in tausenden von Kilometern vom Kriegsgebiet gelegenen Städten wie Frankfurt oder Berlin polizeilich aufgelöst und Solidaritäts-Organisationen wie Samidoun ganz einfach verboten werden? Aber auch das ist nicht neu – noch vor wenigen Jahrzehnten galt allein schon der Aufruf zum Boykott südafrikanischer Waren als der „Terrorunterstützung“ des ANC und ihres perhorreszierten Vorsitzenden Nelson Mandelas verdächtig – heute gilt der Aufruf zum Boykott israelischer Waren manchen des Antifaschismus ansonsten völlig unverdächtigen „Antisemitismusbeauftragten“ als Fortsetzung des Nazi-Boykotts gegen jüdische Geschäfte am 1. April 1933.

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Eine ganz andere Frage bezieht sich auf die innere Verfasstheit Israels zum Zeitpunkt des Kriegsausbruchs. Mit dem Überraschungsangriff auf israelisches Territorium war jedenfalls eine ans Mark der israelischen Gesellschaft rührende innenpolitische Krise der rechten bis faschistoiden Regierung Israels vorläufig beendet. Historiker werden später einmal herausfinden, wie überraschend dieser Angriff wirklich kam und warum eigentlich – denkwürdig bleibt die wenige Stunden nach dem Angriff erfolgte Twitter-Charakterisierung des Vorgangs als „our Pearl Harbor“ durch ein rechtes Knesseth-Mitglied, sekundiert von Genozid-Aufrufen nach einer „Nakba 2.0“.

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Die in Deutschland lebende israelische Soziologin Yael Berda hat in einem Interview mit der taz bereits über einen Monat vor dem Beginn des Kriegs darauf hingewiesen: in der innenpolitische Krise der Netanyahu-Regierung geht es um „die Beziehung zwischen Besatzung, Siedlungsprojekt und autoritärem Justizputsch“ (Yael Berda 2023). Würden die Rechte des israelischen Obersten Gerichts derart beschnitten, wie es die Netanyahu-Regierung plane – was inzwischen geschehen ist - drohten aufgrund der internationalen Einstufung einer solchen Politik drastische Konsequenzen für einzelne Bürger:innen: „Sehen Sie sich die Bewegung von Reservisten der Luftwaffe an, die im Zuge des Justizcoups Dienstverweigerung angekündigt haben. Die haben grosse Angst. Wenn das Oberste Gericht in Israel abgeschafft werden sollte, könnten sie bald selbst in Den Haag landen. Viele Reserve-Piloten, die jetzt ihren Dienst verweigern, tun das, weil sie fürchten, Dinge, die sie unter dem Deckmantel liberaler Rechtsstaatlichkeit in den besetzten Gebieten jahrzehntelang tun konnten, nicht mehr tun zu können. Das ist ein koloniales Argument. … Wenn der IStGH tatsächlich ein Verfahren eröffnet und Dinge, die im Rahmen der Besatzung passiert sind, als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft werden, werden sich zahlreiche Menschen tatsächlich in Den Haag vor Gericht verantworten müssen. Das erklärt die Angst israelischer Reservisten. Israels Oberstes Gericht hat deren Aktionen immer entweder für rechtmässig erklärt oder es folgte – selbst wenn es die Aktionen als illegal einstufte – in der Regel ein geringfügiges Verfahren.“ (ebenda) Zusätzlich zu dieser Drohung ergäben sich heftige juristische Konsequenzen aus einem drohenden Einstufen des gesamten Systems der 1967 besetzten Gebiete als Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch den Internationalen Gerichtshof. Das Verfahren dazu ist im Gang. Dazu Yael Berda: „Ich denke, das Nationalstaatsgesetz, das 2018 verabschiedet wurde, hat viel verändert. Dies war die erste gesetzliche Erklärung der exklusiven Zugehörigkeit von Juden zu Israel. Es implizierte auch eine explizite Nichtanerkennung palästinensischer Selbstbestimmung. Dazu kommt, dass sich die De-facto-Annexion des Westjordanlands in eine De-jure-Situation verwandelt. Einige Beobachter beginnen zu verstehen, dass sich ein Zeitfenster schliesst.“ (ebenda)

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Das Zeitfenster schliesst sich. Ich nehme an, auch das beschleunigt eine Entwicklung, in deren Rahmen die israelische Regierung jetzt Fakten schaffen will. Nach einem am 24. Oktober geleaktem offiziellen und inzwischen auch offiziell in seiner Existenz bestätigten Dokument der israelischen Ministerin des Sicherheitsdienst-Ministeriums Gila Gamliel soll die Situation nach dem Gazakrieg folgendermassen aussehen: Zeltstädte auf der Sinai-Halbinsel soll die gesamte Bevölkerung von Gaza aufnehmen, die mit einem humanitären Korridor versorgt und schliesslich im Nord-Sinai auf dort mit internationaler Hilfe zu errichtenden Städte aufgenommen werden, die durch eine mehrere Kilometer breite „sanitäre Zone“ von Israel getrennt werden soll (Lina Attalah 25.10.2023, zit. nach Zachary Forster 2023; ebenso Itay Epshtain, 29.10.2023).

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Dieser Plan sieht vor:
  • Die Palästinenser sollen zunächst aufgefordert werden, vom Norden Gazas in den Süden zu evakuieren.
  • Eine Propagandakampagne soll die Verantwortung für Palästinenser auf Ägypten übertragen.
  • Eine weitere Propagandakampagne soll ununterbrochen darauf hinweisen, dass jedweder zivile Leid in Gaza auf die Hamas zurückzuführen sei.
  • Vor allem die USA sollen von Israel überzeugt werden, Zeltstädte in Ägypten, in der Wüste Sinai zu errichten. Druck solle insbesondere auf Griechenland, Spanien und Kanada aufgebaut werden, Flüchtlinge aufzunehmen.
  • Palästinenser sollen durch Propaganda wie „Allah wollte es so für euch, dass ihr eure Heimat verliert, sucht Sicherheit bei euren muslimischen Brüdern“ (Zitat) zu einer Aufgabe ihrer Heimat gedrängt werden.
  • Zur Realisierung des Plans sollen die USA „Druck auf Ägypten, Katar, die Türkei und Saudi-Arabien“ aufbauen. Die EU oder Deutschland werden in dem Papier offenbar nicht als Hindernis dieser ethnischen Säuberung betrachtet.
  • Als Best Case Szenario wird die „Auswanderung“ der Palästinenser beschrieben, die eine „Abschreckung“ gegenüber allen Menschen in der Region sei. Das Worst Case Szenario sei „die Entstehung eines palästinensischen Staates.“ (Sicha Meqomit 2023). Das Info-Portal postet dazu: „Weniger als eine Woche nach dem Massaker der Hamas im Süden veröffentlicht das Geheimdienstministerium ein Dokument, das den Krieg nutzen will, um eine vollständige Umsiedlung der Bewohner von Gaza in den Sinai durchzuführen. Das gefährlichste mögliche Ergebnis ist dem Dokument zufolge die Gründung eines unabhängigen palästinensischen Staats.“ Die Überschrift des dazu verlinkten Artikels vom 13.10.2023 lautet „Vorschlag des Sicherheitsdienstministeriums: Besetzung von Gaza und Transfer aller seiner Bewohner“ (Sicha Meqomit, 30.10.2023). Wohlgemerkt: dies ist bisher nur der Vorschlag der dem Likud angehörigen Ministerin des Geheimdienstministeriums – noch nicht offizielle Regierungspolitik. Aber das derzeitige Kriegsgeschehen weist genau in diese Richtung. Wie sich Ägypten und die internationale Gemeinschaft zu solchen Plänen verhalten wird, wird man sehen.

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Dasselbe gilt nach Plänen, die der hochrangige israelische Sicherheitsexperte Eliyahu Yossian, Mitarbeiter des renommierten Mashgev-Instituts für Nationale Sicherheit und Träger des Israelischen Verteidigungspreises vor einigen Tagen veröffentlichte: demzufolge sind nicht nur unterschiedslos alle Bewohner:innen von Gaza Feinde Israels, sondern auch die Bewohner:innen der Westbank, wie er in einem Interview mit der Tageszeitung Ma'ariv erklärte (Tarek Baé, 30.10.2029).

Der gerade völlig offen wieder in die Diskussion gebrachte Begriff des Transfers – da ist er wieder in seiner ganzen historischen Tradition, wie sie oben skizziert wurde. Schon damals beinhaltete er die siederkolonialistische Wahnidee, man könne einfach alle Bewohner:innen Palästinas in die Nachbarstaaten eines aufzubauenden ethnisch homogen jüdischen Israels „transferieren“ – analog etwa zu den berüchtigten Zwangsumsiedlungen in Apartheid-Südafrika. Zahllose Belege zu diesem historischen und aktuellen zionistischen Sprachgebrauch und seinem Inhalt liegen vor (Ilan Pappé 2019, Petra Wild 2013, Zachary Forster, 2023). Nicht erst jetzt - schon seit längerem wird das von Vertretern der zionistischen Rechten auch für das ursprüngliche Staatsgebiet Israels in den Grenzen von 1967 gefordert.

So äusserte Zipi Livni, Ex-Aussenministerin Israels 2008 vor israelischen Studenten: „… unter anderem werde ich in der Lage sein, mich an die palästinensischen Bewohner Israels, die wir israelische Araber nennen, zu wenden und ihnen zu sagen: ‚Eure nationale Lösung liegt anderswo.'“ (Petra Wild 2007, S. 40) Das liefe dann auf eine Vertreibung nicht nur der Bewohner:innen der Besetzten Gebiete in Westbank und Gaza, sondern auch von 20 – 30% israelischen Bevölkerung hinaus: ein klarer Fall ethnischer Säuberung, der zB. mit den Vorgängen im Jugoslawienkrieg grausig übereinstimmt.

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Man muss auf dem Hintergrund all dessen also leider davon ausgehen: die Regierung Israels definiert als strategisches Ziel heute und in der nahen bis mittleren Zukunft die Vollendung der Nakba mindestens in Gaza und Westbank, die Vertreibung der Bevölkerung Palästinas in die benachbarten arabischen Staaten. In einer Ansprache zu von ihm angekündigten zweiten Phase des Kriegs gegen Gaza erklärte Netanyahu am 29.10.2023, die Situation gleiche dem Kampf des biblischen Israel gegen das das Volk Amalek. Dazu heisst es in 1. Samuel 15:3, Israel solle „alle Männer, Frauen, Kinder, Säuglinge, Ochsen, Schafe, Kamele und Esel“ Amaleks restlos vernichten. Das ist ein Völkermord mit Ansage und fundamentalistisch-biblischer Begründung. Was Netanyahu in seiner typisch pathetischen Manier als gleichsam Richter Samuel redivius hier von sich gibt, hört sich in der militärischen Praxis massgeblicher Exponenten der israelischen Armee folgendermassen an:

»Der Fokus liegt auf Zerstörung, nicht Präzision« und folgt der öffentlich bekanntgegebenen Dahiya Doktrin, benannt nach einem Vorort von Beirut, wo sie 2006 zuerst angewandt wurde. Sie besteht in der planvollen Zerstörung aller erreichbaren Infrastruktur, egal ob militärisch oder zivil. Ihr „Erfinder“ Gadi Eizenkot, israelischer Generalstabschef 2015 – 2019, sagte darüber später: „Was 2006 im Dahiya-Viertel von Beirut geschah, wird in jedem Dorf geschehen, von dem aus Israel beschossen wird. (…) Wir werden dort unverhältnismässige Gewalt anwenden und grossen Schaden und Zerstörung anrichten. Aus unserer Sicht handelt es sich nicht um zivile Dörfer, sondern um Militärbasen. (…) Dies ist keine Empfehlung. Dies ist ein Plan. Und er ist genehmigt worden“.

Ob es am 7.10.2023 auf israelischem Territorium auch zur Anwendung der berüchtigten „Hannibal-Direktive“ gekommen ist, die eigentlich für das israelische Militär offiziell ausser Kraft gesetzt wurde, soll Gegenstand späterer Untersuchungen werden, wie zu hören ist. (Lena Obermaier 2023). Die derzeitige israelische Kriegführung im Gaza-Streifen scheint dem „Dahyia-Plan“ genau zu folgen mit der Absicht, die Transfer-Lösung für die gesamte Bevölkerung des Gazastreifens vorzubereiten. Wie heute morgen vom DLF vermeldet wurde, hat Israel in Übereinstimmung mit dem von Gila Gamliel veröffentlichten Vorgehen Ägypten offiziell aufgefordert, Flüchtlinge aus dem Süden des Gazastreifens auf die Sinai-Halbinsel zu übernehmen. Bislang lehnt Ägypten das ab – die Frage ist, wie lange.

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Es sieht im Moment nicht so aus, als würde ein solcher Plan Israels seitens der Rückendeckung gewährenden imperialistischen Staaten des Westens in Frage gestellt, jedenfalls geschieht das nicht öffentlich. Die Grenze der Durchsetzbarkeit dieses angekündigten Verbrechens gegen die Menschlichkeit besteht weniger in der militärischen und innenpolitischen Durchführbarkeit für die Regierung Israels, als eher in der Abwägung seiner Verbündeten, wie sehr ein solches Vorgehen ihre eigenen wirtschaftlichen und politischen, also imperialistischen Ziele vor allem im globalen Süden beeinträchtigen würde. Das ist ein Ansatzpunkt für unser Eingreifen hier vor Ort.

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Die Krise der israelischen Gesellschaft und ihres Staats nicht erst nach den letzten Knesseth-Wahlen ist gut erklärbar als Ausdruck einer selbstgeschaffenen Aporie, die der israelische Historiker und Philosoph Moshe Zuckermann (Zuckermann, 2007 und 2014) so charakterisiert hat: unter den inzwischen irreversiblen Rahmenbedingungen israelischer Politik kann es letztlich nur noch zwei Endergebnisse der künftigen Entwicklung geben - entweder eine erneute ethnische Säuberung Palästinas, diesmal vollständig „from the river to the sea“.

Oder – heute die unwahrscheinlichere von beiden Möglichkeiten – eine einheitliche säkulare Republik Palästina- Israel mit gleichen Rechten und Pflichten für alle, unabhängig von ethnischer, politischer oder religiöser Herkunft. Zuckermann spitzt zu: beide möglichen Ergebnisse des jahrzehntelangen Konflikts beenden im Grunde das zionistische Projekt eines ethnisch definierten und beherrschten jüdischen Staats: entweder moralisch (erste Variante) oder praktisch-politisch (zweite Variante). Während der zweite Fall zweifellos ein linkes Projekt ist, ist der erste nur möglich dank völlig offener militaristischer und faschistischer Gewalt und mit Unterstützung oder Duldung der grossen imperialistischen Staaten des Westens, darunter auch Deutschlands. Der Weg dorthin ist wahrscheinlich bereits zu einem nicht geringen Teil beschritten. Wenn er weiter beschritten werden sollte, hat das nicht nur weitreichende Folgen in Israel – Palästina, sondern auch bei uns.

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Die schon viele Jahre andauernde Agonie, was den sogenannten Friedensprozess im Nahen Osten angeht, erklärt sich aus der Tatsache, dass jede israelische Regierung vor der Alternative steht, in entweder der einen oder anderen von Zuckermann beschriebenen Weise weiterzugehen und sich bisher nie konsequent für einen der beiden Wege entscheiden konnte, weil es dafür keinen hinreichenden Konsens in der israelischen Gesellschaft gab. Daraus resultiert ein ständiges „Vor-sich-her-Schieben“ der objektiv notwendigen und unausweichlichen Entscheidung, was ein enormes Gewaltpotential, letztlich das Potential zu einer faschistischen Entwicklung in sich trägt. (Übrigens gleicht dieses dilatorische Vorgehen vielleicht am schlimmsten der internationalen wie auch der deutschen Behandlung der kapitalistischen Klimakrise und ihrer politischen Folgen [Stoodt, 2023]).

Das betrifft auch das Scheitern der „Zweistaatenlösung“: alle israelischen Regierungen der vergangenen Jahrzehnte haben die Siedlerbewegung in den Besetzten Gebieten unterstützt. Sie ist heute so stark und so offen rechtsextrem, dass es keine Regierung wagen könnte, etwa 800.000 schwerbewaffnete und zum Teil fanatisierte Siedler im Interesse einer Zweistaatenlösung fallen zu lassen. Das führt zu der berechtigten Einschätzung linker israelischer Wissenschaftler, der Zionismus habe sich in seinem heutigen Kern zur Ideologie der rechten Siedler entwickelt (Susann Witt-Stahl und Dror Dayan, Zeit der Verleumder, 2017). Es würde zu einem Bürgerkrieg in Israel führen, wenn deren Positionen im Interesse eines umfassenden Friedensprozesses angetastet würden. Umgekehrt kann es sich auch keine palästinensische Führung leisten, sich auf ein derartig zerstückeltes und feinmaschig kontrolliertes Territorium wie die Westbank als „Staatsgebiet“ einzulassen. Die Zweistaatenlösung ist tot. Es bleibt bei den beiden von Moshe Zuckermann beschriebenen Alternativen.

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Es ist also davon auszugehen, dass mit dem aktuellen Krieg die radikal rechte Regierung Netanyahu die Gelegenheit nutzt, um das Problem „Palästina“ aus ihrer Sicht ein Stück weiter auf dem Weg zu einer endgültigen ethnischen Säuberung im Sinn des Nationalstaatsgesetzes von 2018 zu bringen. Um noch einmal Yael Berda zu zitieren:

„Israels Finanzminister Bezalel Smotrich hat alle Behörden der zivilen Administration über das Westjordanland übernommen, sodass es sich schon jetzt nicht mehr um eine militärische, sondern bereits um zivile Besatzung handelt – sprich: eine Annexion de jure, nicht nur de facto. Darauf braucht niemand zu warten. In den jüngsten israelischen Koalitionsvereinbarungen steht jedoch explizit, dass die Regierung palästinensisches Land legal annektieren will. Es geht darum, die Trennung zwischen israelischem Staatsgebiet und den besetzten Territorien sukzessive weiter aufzuheben. … Ziel ist, eine exklusiv-jüdische, nationale Heimstätte zwischen Jordan und dem Meer zu schaffen. Wir sprechen über potenziellen Völkermord. Smotrich hat selbst erwähnt, dass es eine zweite Version der Nakba geben könnte. Itamar Ben-Gvir (Minister für nationale Sicherheit, d. Red.) ist Kahanist. Diese Leute glauben an sprichwörtliche Auslöschung von Palästinensern. Hier sollten in der internationalen Gemeinschaft wirklich alle Alarmglocken angehen.(Yael Berda, a.a.O.)

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Wohlgemerkt: das sagte Yael Berda Anfang September. Und Netanjahus Auftritt vor der jüngsten Generalversammlung der UN am 22.9.2023, also Tage vor dem 7. Oktober und demonstrativ mit einer Karte des Nahen Ostens ohne Palästina in seiner Hand (OneIndiaNews, 24.9.2023) war aus dieser Sicht kein Zufall. Aus dem Rückblick von heute hat sie jedenfalls einen schrecklichen Sinn.

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Was sind unsere Aufgaben in dieser Situation? So schwer es für uns auch umzusetzen sein mag: wir müssen das uns mögliche tun, die drohende Vollendung der Nakba zu behindern und den langen Weg zur politisch einzig denkbaren Alternative hier vor Ort zu unterstützen: eine demokratische Ein-Staat-Lösung Israel-Palästina für alle seine Bewohner:innen anzustreben, unabhängig von ethnischer, religiöser und kultureller Herkunft, Tradition, Lebensweise (Petra Wild, 2015). Das ist internationalistische, antiimperialistische und antifaschistische Pflicht.


Konkrete Schritte sind zum Beispiel:

Benennung dessen was ist: es hat eine zweite Nakba begonnen;
praktische Unterstützung der palästinensischen Gruppierungen hier vor Ort, die für die Befreiung Palästinas eintreten;
aktives Zugehen auf linke jüdische / israelische Gruppierungen und Menschen vor Ort, Organisation gemeinsamer Gespräche und Aktivitäten;
Verteidigung der hiesigen demokratischen Grundrechte und Zurückweisung der herrschenden Einschränkungen (Demoverbote, Verbot des Tragens von Kleidung in den Farben Palästinas an Schulen, des Verbots der Kuffiya oder des Tragens der Fahne Palästinas in der Öffentlichkeit), und der nicht zuletzt auch extrem rechten Demagogie, diesen Kampf als antisemitisch zu diskreditieren, Hinweis auf die frappierenden Doppelstandards in diesem Zusammenhang (Aiwangers Auschwitz-Flugblatt vs. Umgang mit Palästina-Demonstrationen);
ideologische und politische Auseinandersetzung mit der so genannten „Staatsräson“ Deutschlands und ihres in Wahrheit imperialistischen politischen Inhalts – aktuell insbesondere auch als Mittel der Abwehr missliebiger Migrantinnen und Migranten (Offener Brief jüdischer Intellektueller 2023);
in diesem Zusammenhang: Klärung der imperialismustheoretischen Bedeutung des aktuellen Konflikts in seiner auch zwischenimperialistischen Widersprüchlichkeit zB. im Verhältnis zwischen Deutschland und den USA;
deutlich machen, das die einzig möglich erscheinende Alternative zur drohenden Vollendung der Nakba die Forderung nach einer demokratischen Ein-Staat-Lösung ist und dafür offen eintreten;
Formen der politischen, kulturellen usw. aber auch der Repressions- und militärischen Zusammenarbeit Deutschlands mit Israel öffentlich benennen, an geeigneten Punkten diskutieren (zB. mit Eingeladenen aus Partnerstädten) oder auch skandalisieren und öffentlich angreifen (Formen der militärischen Zusammenarbeit);
Unterstützung der internationalen BDS-Kampagne.

Hans Christoph Stoodt