"We in occupied Palestine – and all Palestinians – have no illusions in the poetic dreams of the triumph of the pen over the sword, because the sword has cut too deeply into our flesh at the hands of an enemy who has been granted by the monopoly on both the sword (that which acts to kill) and the pen (that which narrates the acts of killing)." ("We are all Palestinians" von der Union of Teachers & Employees of Birzeit, University of Ramallah – Palestine)1
Während das Schwert den Akt des Tötens beschreibt, symbolisiert der Stift die Narration ebenjenes Aktes. Beide sind beeinflusst durch existierende Machtstrukturen: die materiellen und die ideologischen. Am 19.10.2023 wurde eine Stellungnahme von Anarchist*innen zum sogenannten "Israel/Palästina-Konflikt" publiziert. Folgend kontextualisieren wir die Aussagen und antworten auf den Inhalt der Stellungnahme.
Es geht uns dabei nicht nur um diese eine Stellungnahme, sondern viel mehr darum, dass im deutschsprachigen Raum deutlich mehr Auseinandersetzung stattfinden, die der über Jahrzehnte anhaltenden genozidalen Unterdrückung Palästinas mit einer unablässigen Ignoranz begegnen. Wir stützen uns auf generelle Theorien zu Kolonialismus und antikolonialen Widerständen, wie auch auf aktuelle Publikationen und Stellungnahmen von Palästinenser*innen. Die Stimmen der Palästinenser*innen sind laut, doch sie werden kontinuierlich delegitimiert.
Dies in einer Zeit, in der wir auf sozialen Medien direkte Mitzeug*innen eines Genozides sind, ist nicht nachvollziehbar. Wir rufen auf zur Solidarität mit allen antikolonialen Befreiungskämpfen. Antirassismus ist nicht mehr als eine Farce, solange Antikolonialismus und das Recht auf Leben der Kolonisierten nicht bedingungslos unterstützt wird. Für ein befreites Palästina!
Narrative des Widerstandes
“It is easy to blur the truth with a simple linguistic trick: start your story from “Secondly.” […] Start your story with “Secondly,” and the world will be turned upside-down. Start your story with “Secondly,” and the arrows of the native Americans are the original criminals and the guns of the white men are entirely the victim. It is enough to start with “Secondly,” for the anger of the Black man against the white to be barbarous. You only need to start your story with “Secondly,” and the burned Vietnamese will have wounded the humanity of the napalm, and Victor Jara's songs will be the shameful thing and not Pinochet's bullets, which killed so many thousands in the Santiago stadium. It is enough to start the story with “Secondly,” for my grandmother, Umm 'Ata, to become the criminal and Ariel Sharon her victim.” (Mourid Barghouti)2“[…] for at first it is not their violence, it is ours, which turns back on itself and tends them […].” (Frantz Fanon)3
Die Stellungnahme beginnt mit einer Verurteilung der "brutalen Verbrechen der Hamas". Auf diese Art in das Thema einzuführen, kann als ein wichtiger Hinweis auf eine mögliche ahistorische Erzählung dessen, was tatsächlich geschieht, gelesen werden. Die Geschichte mit "Secondly"/"Zweitens" zu beginnen, bedeutet, wie es Mourid Barghouti beschreibt, Widerstand als eine Reaktion auf Gewalt als "unprovozierte" Anfangsgewalt zu bezeichnen. Es zeigt auf, was es bedeutet, die Kontrolle über ein Narrativ zu haben.
Das selektive Erzählen einer bestimmten Geschichte und das Unterteilen der aktuellen Ereignisse in seperate, dekontextualisierte "Eskalationen" stellen einen Versuch dar, den historischen Kontext zu verfälschen, in welchem diese Geschehen sowie das koloniale Siedlungsprojekt eingebettet sind. In Bezug auf das erste Zitat liest sich dies als Gewalt des Stiftes. Ein Narrativ, welches den Anfangspunkt einer Geschichte kontrolliert und somit jahrzehntelange Gewalt durch Siedlerkolonialimus, Besatzung und Apartheid auslöscht. Dies gibt Israel den enormen Vorteil, zu bestimmen, was über Palästina erzählt wird (siehe Decolonize Palestine). Es fragmentiert die Geschichte in einzelne «Attacken», welche von den Medien als solche aufgegriffen werden und delegitimiert die Existenz und Geschichte von Palästinenser*innen.
"We Palestinians have a right to our freedom. It is not a right enshrined in the precarious words of law codes, but our human dignity to fight for freedom. Palestinian resistance has been criminalized from the beginning of the settler colonial invasion of Palestine. Now that our resistance has used guerilla war tactics, we have now become the oppressors?!" ("We are all Palestinians")4
Das Recht auf Freiheit und der Kampf dafür ist nicht diskutierbar. Was jedoch im aktuellen Diskurs zentral scheint, ist wessen Freiheit denn als erkämpfenswert angesehen wird. Nach Jahrzehnten der Kriminalisierung des palästinensischen Widerstandes (von der Flagge, über Demonstrationen, hin zum blossen Existieren als Palästinenser*in) die Freiheit Palästinas immer noch nicht auszusprechen, ist zynisch. Schlimmer sogar. Die Widerstandsformen der letzten Wochen werden nun leichtfertig als "Terrorismus" abgestempelt. Sie werden als "Haupthindernis für ein friedliches Zusammenleben" dargestellt.
Die Machtverhältnisse werden durch Ahistorizität und der Ignoranz gegenüber Apartheid und Genoziden so verschleiert, dass gemeint werden könnte, Palästinenser*innen seien das Problem. Die Stellungnahme spricht Siedlungspolitik und Vertreibung an und spricht trotzdem von einem "Konflikt". Doch wie kann Siedlungspolitik und Vertreibung als Konflikt verstanden werden? Dürfen sich Enteignete und Vertriebene nicht wehren und müssen «friedlich» versuchen zu überleben?
"For Palestinians, resistance delivers a similar message: we will not sit passively in these concentration camps and get starved and bombed into oblivion. They are moved by the desperation of survival, for if their colonizer gets to decide then they will disappear from the earth. Their supposedly irrational violence is the very definition of self-defense." (A Practical Appraisal of Palestinian Violence- Steve Salaita)5
Wir fragen uns, was bleibt Palästinenser*innen in ihrem Widerstand? Demonstrationen? - werden verboten und auf die Teilnehmenden wird geschossen und militärische Gewalt angewendet (siehe 2019 Great March of Return6). Friedensgespräche? - haben schon etliche stattgefunden und Gespräche können mit einem Apartheidstaat nicht geführt werden. Informieren? - Kameras werden zerstört, Menschen für Aussagen eingesperrt und palästinensische Stimmen weltweit delegitimiert. Einfach weiterleben? - geht nicht unter einer militärischen Besatzung, die aushungern lässt, verstümmelt, tötet, Häuser räumt, stiehlt, bombardiert, Olivenbäume in Flammen setzt und ganz generell Palästinenser*innen als unmenschlich und allerhöchstens Bürger*innen dritter Klasse degradiert. Wenn wir allgemein Widerstandsformen verurteilen, was erwarten wir von Palästinenser*innen? Dass sie schweigend ihr Schicksal hinnehmen und sich widerstandslos auslöschen lassen?
"The important issues in the Palestinian struggle for freedom and self-determination are minimized and rendered invisible by those who try to equate Palestinian resistance to Israeli apartheid with terrorism." (Angela Y. Davis 2016, p. 34)7
Ein Kampf für Freiheit und Selbstbestimmung ist weder nationalistisch noch terroristisch. Viele, wenn nicht alle, antikolonialen Befreiungskämpfe wurden als Terrorismus abgetan. Nelson Mandela, der zu bewaffnetem Kampf gegen das südafrikanische Apartheidsregime aufrief, stand bis 2018 auf der US-Terrorliste. Die Dekolonisierung Algeriens nach einer 130 Jahre währenden Besatzung Frankreichs wurde ebenfalls als Terrorismus diffamiert. Dekolonisierung ist immer ein gewaltvolles Phänomen. Es ist ein historischer Prozess. Die erste Gewalt ist immer die der kolonialen Mächte in Form von Ausbeutung, ethnischer Säuberung und Genoziden. Erst durch diese Gewalt tritt das «Secondly» in Erscheinung.
Palestine is a feminist issue
Die Diffamierung von Widerständen und deren Existenz geht einher mit der Kritik, den Kämpfenden fehlten Werte, welche die Kolonisierenden wiederum vertreten würden. Nehmen wir das oft gehörte Argument, palästinensicher Widerstand sei "antifeministisch", während Israel in Narrativen des Femonationalismus westliche feministische Werte vertreten würde. Ein Feminismus mit der einhergehenden Auslöschung einer gesamten Bevölkerung ist sowohl widersprüchlich als auch fatal. In diesem Sinne gehen wir auf einen Satz aus der Stellungnahme noch spezifisch ein:«Die Terroranschläge von antisemitischen und antifeministischen Dschihadisten stellen ein Haupthindernis der Freiheit und eines menschlichen Zusammenlebens in der Region dar.» (Stellungnahme auf Barrikade)
Der Satz beschuldigt undefinierte "Dschihadisten" als "ein Haupthindernis" von "Freiheit" und "menschlichem Zusammenleben" in der "Region". Von "Dschihadisten" (selbstverständlich in der männlichen Form des Wortes) zu sprechen, ohne die Kategorie spezifisch zu definieren, erinnert an den antimuslimischen Diskurs in den westlichen Medien. Wo auch immer es einen perfekten Feind benötigt, über dessen Tod kein Mensch trauern kann (da "Dschihadist" gleich "böse"), werden rassifizierte Begriffe wie "Terrorist" oder "Dschihadist" benutzt. Von allen, aber gerade auch von linken Menschen sollte mehr erwartet werden können, als die eurozentristische Reproduktion antimuslimischer Stereotype. Diese "Dschihadisten" sind zudem auch noch "antisemitisch" und "antifeministisch". Da "antifeministisch" als Adjektiv vor dem Begriff "Dschihadisten" steht, scheint das Adjektiv auch keine Begründung zu benötigen. "Dschihadisten", Schwarze, braune und muslimische Männer also, und "antifeministisch" gehen im Narrativ des Kolonialismus und Rassismus sowie miteinander einher.
Nicht thematisiert wird dabei die israelische Militärstrategie. Eine mehrdimensionale Strategie, bei der wirtschaftlicher, institutioneller, demografischer, militärischer, psychologischer und rechtlicher Druck kombiniert werden. Der Werkzeugkasten der militärischen Besatzung ist erheblich: Territoriale Diskontinuität schaffen und so die Ausdehnung palästinensischer Gemeinschaften verhindern, besetzte Siedlungen und deren Siedler*innen mit militärischer Technologie bewaffnen (diese dienen so als Erweiterung der israelischen Militäreinheiten in den besetzten Gebieten).
Weiter werden die Siedlungen in Gebieten errichtet, die reich an natürlichen Ressourcen sind, um Wasser und Ackerland auszubeuten, was die wirtschaftlichen Aktivitäten der Siedler*innen erleichtert und die Palästinenser*innen der wirtschaftlichen Entwicklung beraubt. Die Siedlungen sind von zentraler Bedeutung für die Politik der Segregation: Während die Siedler*innen den israelischen Zivilgesetzen unterliegen, werden die Palästinenser*innen durch militärische Befehle regiert.
Neben anderen Strategien von "Whitewashing" versucht Israel mittels "Pinkwashing", die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit von der Aufrechterhaltung seines Unterdrückungsregimes der Besatzung, Kolonisierung und Apartheid gegen die Palästinenser abzulenken. Konkret bedeutet dies, Menschen von marginalisierten Gendern als "menschliche Schilder" zu bombardieren und queere Palästinenser*innen durch israelische Nachrichtenüberwachung zu erpressen, sie zu outen, wenn sie sich weigern, als Informant*innen zu arbeiten. Diese weitverbreitete Taktik führt dazu, dass queere Palästinenser*innen durch weitere Unterdrückungsmechanismen instrumentalisiert werden. Israel ist ein treffendes Beispiel für Pink- und Queerwashing und arbeitet hart am Bild eines feministischen und queerfreundlichen Staates in Abgrenzung zu den angeblich "rückständigen" muslimischen Palästinenser*innen. Doch jeder Siedlerkolonialismus und jede Besatzung benötigen gegenderte Gewalt um ihre Machtstrukturen aufrechtzuerhalten und zu verfestigen.
"We are still faced with the challenge of understanding the complex ways race, class, gender, sexuality, nation and ability are intertwined—but also how we move beyond these categories to understand the interrelationships of ideas and processes that seem to be separate and unrelated. Insisting on the connections between struggles and racism in the United States and struggles against the Israeli repression of Palestinians, in this sense, is a feminist process." (Angela Y. Davis)8
Feminismus als Ideologie der Befreiung von patriarchalen Machtstrukturen ist untrennbar verbunden mit der Befreiung von Palästina und allen kolonialen Machtstrukturen. Solange Menschen kolonisiert sind, wird der feministische Kampf nicht erfüllt sein. Kolonialisierte Subjekte werden somit gegeneinander ausgespielt. Ein gemeinsamer Widerstand gegen alle Formen von Unterdrückung, Enteignung und Dehumanisierung ist unabdinglich.
Das Zitat aus der Stellungnahme spricht weiter über "Freiheit" und beschreibt die "Dschihadisten" als "ein Haupthindernis" ebenjener. Doch wir sprechen über einen Kontext mit gewaltvollen, bewaffneten, rechtlich abgesegneten, rassistisch legitimierten Systemen, die dem Zweck dienen, die Freiheit der Palästinenser*innen in allen Formen zu verwehren. Lässt sich ein "menschliches Zusammenleben" innerhalb eines Apartheidregimes überhaupt denken? Es ist entweder zynisch oder unglaublich ignorant, werden Palästinenser*innen doch seit Jahrzehnten entmenschlicht.
Die an ihnen ausgeübten Genozide werden höchstens als Fussnoten in westlichen Medien erwähnt. Die Logik des Kolonialismus benötigt diese Art von Entmenschlichung der Palästinenser*innen. Ohne diesen Prozess kann der Apparat des Apartheid-Staates nicht existieren. Indem die Menschen innerhalb des Apparates Palästinenser*innen ganz offen als "human animals" beschreiben, wird dieser Genozid sowohl in der westlichen Gesellschaft wie auch in den sogenannten linken progressiven Kreisen verharmlost. Das tatsächliche Hindernis für ein "menschliches Zusammenleben" – was auch immer wir uns darunter vorstellen sollen – ist die Apartheid und die wiederholten Genozide vom israelischen Staat, hingenommen und normalisiert durch die Mehrheit der israelischen Bevölkerung, der Kompliz*innenschaft vieler weiterer Staaten und der internationalen Community.
Der Apartheidsstaat – eine koloniale Gegenwart
Es ist wichtig, Geschehenes zu kontextualisieren und nicht als einzelne Fragmente zu begreifen. Gerade wenn ein Narrativ vorherrscht, in der eine der stärksten Militärmächte der Welt sich immer wieder auf ein fabriziertes "Recht auf Selbstverteidigung" beruft.Der Kontext ist nicht kompliziert: Es handelt sich um den Siedlerkolonialismus eines militaristischen Staates sowohl mit Milliarden Dollar Unterstützung der usa als auch der politischen Legitimation der eu auf der einen Seite und kolonisierten Menschen ohne eigenes Militär auf der anderen, die unter einer Militärbesatzung leiden.
Der Aufbau einer mächtigen militärischen Institution ist ein weiteres wichtiges Merkmal des Israelischen Staates. Zionistische paramilitärische Gruppen, die 1948 die ethnischen Säuberungsaktionen durchführten, wurden in eine formelle Staatsarmee umgewandelt. Doch das israelische Militär ist nicht nur eine Institution, die sich mit Sicherheit, Verteidigung und Krieg befasst. Es wurde entwickelt, um mehrere soziale und wirtschaftliche Funktionen zu erfüllen und die Kultur des Militarismus zu fördern. Infolgedessen ist die israelische Gesellschaft eine militarisierte Gesellschaft, in der die Bürger*innen aktiv an militärischen Aktivitäten beteiligt sind und das Militär aktiv in nicht-militärische Aktivitäten eingebunden ist.
Der Mythos der «Selbstverteidigung» eines Apartheidstaates hat verschiedene Ziele. Wie das gängige Narrativ, Israel habe immer nach Frieden gestrebt. Dies steht in Verbindung mit den erzählten Narrativen der südafrikanischen Apartheid, nannte sich das Militär der Apartheid schliesslich «South African Defense Force» und trägt somit denselben Namen wie die «Israel Defense Force» (IDF), dem Militär Israels.
Dieser Fokus auf Verteidigung ist ein ideologisches Grundgerüst, für die kontinuierlich ausgeführte rassistische Gewalt. Sollte die Bombardierung des Baptist Spitals in Gaza am 18.10.2023 ein Akt der Verteidigung gewesen sein? Wovor hatte sich der israelische Staat verteidigt als die IDF im Juli 2014 das al-Wafa Spital und zwei weitere Spitäler bombardiert hatte? Oder als im Mai 2021 mindestens 19 palästinensische medizinische Einrichtungen zerstört wurden? Oder als ebenfalls diesen Oktober bei einem der als so präzis gelobten Luftangriffe auf eine Ambulanz in Gaza gezielt wurde? Und wenn es tatsächlich um die "Auslöschung" von der Hamas auf Kosten von Menschen und ihrer Umgebung geht, weshalb wird nun auch die West Bank bombardiert, das besetzte palästinensische Gebiet, in der die Präsenz von der Hamas lediglich vermutet wird?
Es ist also kein «Teufelskreis», wie die hier thematisierte Stellungnahme besagt, es geht nicht um ein hin und her der Gewalt «zweier Seiten». Es ist kolonialistische Gewalt und es ist Apartheid. In der Stellungnahme wurde weiter von einer "emanzipatorischen" Bewegung, welche gegen die rechte Regierung Israels demonstriert, gesprochen. Wie «emanzipatorisch» diese Bewegungen sind, lässt sich in Frage stellen. Denn die Demonstrationen geschahen hauptsächlich innerhalb des Narrativs des Siedlerkolonialismus und des normalisierten Apartheidregimes.
Die Demonstrierenden forderten keine Abschaffung der Apartheid, sie forderten eine Reform - welche die bereits bestehenden Unterdrückungsmechanismen nicht beinhaltet. Dieses Justizsystem spielt eine wesentliche Rolle in der Kriminalisierung, Illegalisierung und Ausrottung der Palästinenser*innen. Die drei Ebenen der Staatsgewalt - Legislative, Exekutive und Judikative - beruhen wiederum auf der Vertreibung und Unterdrückung von Palästinenser*innen. Die Demonstrationen forderten somit höchstens einen liberalen Apartheidsstaat. Sich damit zu solidarisieren, bedeutet sich auf ein sehr limitiertes – oder gar feiges – Verständnis von Widerstand zu beziehen, welcher weder als Befreiung von einem Apartheidsstaat noch als eine Solidarität mit den Kolonisierten verstanden werden kann.
Im Gegenteil, es normalisiert den israelischen Kolonialismus und fällt mit diesem Narrativ dem palästinensischem Widerstand direkt in den Rücken. Es normalisiert die Massenvertreibung von Palästinenser*innen, den Raub von Land, der Ermordung ganzer Dörfer, der Aneignung aller Ressourcen und der Zerstörung der Umwelt, welche die Gründung Israels definieren (siehe Steve Salaita).
Kein Apartheidssystem funktioniert ohne eine klare rassifizierte Trennung der Bevölkerung: Die Kategorie der würdigen Menschen auf der einen Seite, und zu Tieren degradierte Nicht-Menschen auf der anderen. Ein Regime, das Gesetze, Praktiken und organisierte Gewalt einsetzt, um die Vorherrschaft einer Gruppe über eine andere zu zementieren, ist ein Apartheidregime. Dieses Regime wurde nicht an einem Tag oder mit einer einzigen Rede geboren. Es handelt sich um einen Prozess, der allmählich immer stärker institutionalisiert und explizit gemacht wurde, mit Mechanismen, die im Laufe der Zeit in Gesetz und Praxis eingeführt wurden. Die Ideologie des Zionismus ist ein System der weissen und jüdischen Vorherrschaft (siehe B'tselem), welche sich in ihrer Entstehung am britischen Kolonialismus anlehnte und diesen ausweitete.
“In its racism and its dreams of racially superior masculinity, Zionism is in no way exceptional; it is simply appropriating the European settler-colonialist dogma, found in texts going back to John Locke. At the core of this dogma is the claim that the settlers would bring superior intellectual and technological capacity and thus improvement to lands they portrayed as barren and neglected—a spurious claim used to justify indigenous dispossession in Palestine, India, the Americas, and elsewhere. In the early- to mid-twentieth century, Zionist rabbis disseminated this racist-colonialist trope in local synagogues in towns and cities across America, building allegiance to the Zionist movement among their congregations. This ideological campaign was only in part a defense against European antisemitism; it was also a direct reaction to the robust but ultimately overpowered resistance movement by Palestinian Arabs against British mandatory rule and British-sponsored Zionist colonialism in Palestine.” (Rosalind Petchesky)9
Zionismus ist nicht mit Judentum gleichzusetzen. Zionismus ist ein politisches Projekt mit vorherrschaftlicher Gesinnung gegenüber Nicht-Jüd*innen.
Das eindeutige europäische Zusammenspiel von Nationalismus und Kolonialismus stellt ein bestimmendes Merkmal des politischen Zionismus dar. Die Bewegung hat spezifische Merkmale entwickelt, die sie besonders rassistisch machen: Sie ist transnational, sie ist mythologisch, sie ist monopolistisch, sie ist ausgrenzend, sie ist ahistorisch (im Bezug zu der biblischen Erzählung), sie ist abhängig vom westlichen Imperialismus und sie ist manipulativ. Diese Merkmale bilden die Grundlage der zionistischen Ideologie, die das Siedler-Kolonialprojekt in Palästina bis heute antreibt. (Tariq Dana und Ali Jarbawi)10
Antizionismus hat nichts mit Antisemitismus zu tun. Das heisst nicht, dass sie nicht oft vermischt werden. Teilweise bewusst, teilweise unbewusst. Dagegen müssen wir uns wehren. Nicht um Israels Willen, sondern in Solidarität mit allen weissen, Braunen und Schwarzen Jüd*innen dieser Welt. Dass Zionist*innen jegliche Kritik an ihrer Ideologie als antisemitisch bezeichnen, ist unakzeptabel. Hierbei stehen wir in Solidarität mit allen Jüd*innen, deren Jüdisch-Sein aufgrund einer antizionistischen Haltung infrage gestellt wird. Wir wehren uns klar gegen eine falsche Gleichsetzung von Antizionismus und Antisemitismus (siehe Rosalind Petchesky).
Die Verzerrung der Machtverhältnisse
Die Stellungnahme spricht sich aus gegen Nationalismus. Doch was bedeutet Nationalismus im Kontext von Kolonisierung? Ist der Befreiungskampf Kolonisierter nach Meinung der Stellungnahme nationalistisch? Darf zuvor enteignetes Land im Kontext von Siedlerkolonialismus somit nicht zurückverlangt werden? Die globale Indigene Forderung von «Land back» darf nicht leichtfertig unter die Definition von Nationalismus gepackt werden. Es geht nicht um nationalistische Bewegungen, sondern schlicht und einfach darum sich zu befreien. Es ist eine Forderung nach Freiheit, die gewaltvoll verwehrt wird. Werden nun Staatenlose und Enteignete nationalistisch genannt? Dies ist eine rassistische und klassistische Anwendung der Nationalismus-Kritik. Sich im Kontext eines antikolonialen Befreiungskampfes auf eine Welt ohne Nationalstaaten zu fokussieren, ist zynisch bis gewaltvoll.Viele Positionen zum momentanen Genozid berufen sich auf ein Narrativ des «ebenso», des «sowohl als auch», von «beiden Seiten». Wo Kolonialismus herrscht, gibt es keine Ebenheit, weder materiell noch sprachlich. Es stellt eine Illusion von Augenhöhe her, die es zwischen Israel und Palästina seit dem Beginn eines kolonialen Projektes niemals gegeben hat. Auch die Kritik an den "Herrschenden" geht nicht auf. Wie können Palästinenser*innen "herrschen", wenn Israel sie jederzeit einsperren kann, die Gesetzte bestimmt und jederzeit Strom, Wasser, Lebensmittel und Hilfsgüter abstellen kann? «Macht» und «Herrschende» als Begriffe für unterdrückte, enteignete, vertriebene, entmenschlichte und ermordete Menschen zu benutzen, setzt die kolonialiserten Subjekte in die Verantwortung für ihre eigene Unterdrückung.
Eine Verzerrung von Machtverhältnissen kann auch mit der Fokusierung auf Gefühle geschehen. Das Leid "aller" hervorzuheben, und sich somit auf das "all lives matter"-Narrativ zu beziehen, ignoriert und verharmlost den normalisierten Kontext des Apartheid-Regimes. In der Stellungnahme wird die Hamas als Grund genannt, weshalb sich Kolonisierende nun "Schutz" bei der israelischen Regierung suchen. Sie haben Angst und ersuchen "Schutz" vor denjenigen Menschen, welche sie aktiv unterdrücken. Genauso wie konservative Menschen bei rechten Parteien um "Schutz" bitten vor "kriminellen Ausländer*innen". Diese Sicherheitsnarrative und -bedürfnisse der Bevölkerung seien die logische Schlussfolgerungen.
“And finally, I reflect on the role of fear in the conservation of power, by considering how narratives of crisis work to secure social norms in the present, with specific reference to the figure of the international terrorist.” (Sara Ahmed)11
Angst wird oft instrumentalisiert für die Aufrechterhaltung von Machtstrukturen. Im Kontext der Angst ist es wichtig, die darunterliegenden Strukturen nicht zu vergessen. Nicht jedes Gefühl ist politisch legitim. Im Gegenteil, Angst kann gefährlich und tödlich enden, für diejenigen, die als Auslöser des Gefühls kategorisiert werden. Dafür braucht es die Kategorie der "Terrorist*innen", welche gefühlslos und grundlos immer und überall für Unsicherheit sorgen können. So werden jegliche brutalen Handlungen im Namen der "Sicherheit" legitimiert. Daraus entsteht eine ahistorische akute Krise, welche alle Reaktionen darauf erlaubt.
"Palestinians are inviting Israelis to abandon the romantic idea of their colony. It is not your exclusive utopia. It will never be a place of respite. You cannot be secure and prosperous at our expense." (A Practical Appraisal of Palestinian Violence- Steve Salaita)12
Diese Sicherheit, dieser Schutz, die Bewältigung kolonialer Angst, bedeutet eine weitere Kriminalisierung des palästinensichen Widerstandes. "Sicherheit" und "Schutz" dürfen nicht auf Kosten anderer basieren. Es ist ein klassischer (neo)kolonialistischer Mythos, das koloniale Mächte unter Kolonisierten oder gegen sie, für "Ordnung" und "Sicherheit" schaffen. Keine Militärmacht – und schon gar nicht eine von den usa und der eu unterstützten – wird jemals für Freiheit sorgen.
"We are not your passive victims, we have been murdered, maimed and displaced by a settler state driven by an ideology of insane hatred and bloody violence but we will not be silenced." ("We are all Palestinians")13
Palästinenser*innen sind keine passiven Opfer und diese Rolle darf nicht von ihnen verlangt werden. Sich ausschliesslich für "Zivilbevölkerungen" auszusprechen, bedeutet freies Feuer auf alle, welche von der israelischen Regierung oder den westlichen Medien vage als "Hamas-verbunden" oder als "terroristisch" beschrieben und deren Ermordung somit als "notwendig" anerkannt wird. Ein strategischer Missbrauch von Begriffen in den westlichen Medien verschleiert koloniale Realitäten und delegitimiert das alltägliche Leben der Kolonisierten. Wir müssen Unterdrückung erkennen und sie beim Namen nennen.
Über Solidarität
Die Sprache von "zwei Seiten" bzw. "beide Seiten" wirkt sich aus auf eine Solidarität, welche den Palästinenser*innen entzogen wird. Vor allem im deutschsprachigen Raum scheuen sich viele davor, gegen die koloniale Unterdrückung Palästinas einzustehen. Umso wichtiger sind Aktionen wie: "Free Palestine from German guilt". Klare Worte, die vor einigen Tagen von Aktivist*innen ans Brandenburger Tor in Berlin projiziert wurden. Im Kontext von Unterdrückung sprechen wir niemals von "beiden Seiten". Wir informieren uns und wir beziehen eine klare Position. Wer neutral bleibt, wird zur Kompliz*in.Neutralität in einer ungerechten Welt stützt die Strukturen der Unterdrückung. Wer schweigt und sich nicht laut und gross macht für ein freies Palästina, trägt dazu bei, dass die Kämpfe ignoriert werden, dass die Medien ihre genozidale Berichterstattung weiterführen und dass Genozid und Apartheid ungestört weiter ausgeübt werden können. Wie können wir uns antikolonial oder auch antifaschistisch nennen und dann die materielle Situation delegitimieren? Es ist nicht an uns, den Kolonisierten zu sagen, wie sie ihren Widerstand führen sollen. Die Grundgewalt ist immer die der Kolonisierenden (siehe Frantz Fanon).
Innerhalb von Apartheid gibt es per Definition keine «gleichen Rechte». Von gleichen Rechten zu sprechen in dem genannten Statement geht auch nur, weil Israel nie als das Apartheidsregime genannt wir, welches es repräsentiert. Die Stellungnahme unterstützt israelische «Antikriegsbewegungen», doch das reicht nicht aus. Von "Krieg" zu sprechen, wenn es Genozid ist, wenn lediglich ein Militär involviert ist, verzerrt ebenfalls die Realität.
Wir unterstützen Anti-Apartheidbewegungen und antikoloniale Bewegungen, dies bedingungslos. Denn jede historische Bewegung gegen Kolonialismus wurde von den Kolonisierenden mit moralischen Vorwänden denunziert. Hinter einer «Verständigungspolitik» können wir ebenfalls nicht stehen: Gilt Solidarität laut der Stellungnahme nur denjenigen Palästinenser*innen, die sich assimilieren? In der Stellungnahme steht auch etwas geschrieben über "bezahlbaren Wohnraum" in Israel und Palästina. Diese unglaublich fehlplazierte Öffnung für eine Diskussion über scheinbare Gentrifizierung in einem Kontext, in welchem "einer Seite" das Land seit Jahrzehnten gestohlen und die Häuser bombardiert werden, in einem System, das Millionen von Menschen zu Geflüchteten gemacht hat, ist absolut unverständlich. Wir fordern Wohnraum für alle, der weder gestohlen noch bombardiert wird, das Recht auf Rückkehr aller Vertriebenen und vor allem aber einen sofortigen Waffenstillstand.
Die "Moral" in der Geschichte
«With unbelievable patience [the African and Asian] writers and poets tried to explain to us that our values and the true facts of their lives did not hang together, and that they could neither reject them completely nor yet assimilate them. By and large, what they were saying was this: “You are making us into monstrosities; your humanism claims we are at one with the rest of humanity but your racist methods set us apart.”” (Jean-Paul Sartre im Vorwort zu Frantz Fanons, The Wretched of the Earth)14Es ist bedauerlich, dass es zu einer Politik von moralischen Haltungen gekommen ist, «beide» zu verübeln. Es verdeckt die existierenden Machtverhältnisse. Ähnlich wie in anderen politischen Kämpfen um Überlebensrechte (nicht im rechtlichen Sinne sondern schlicht und einfach in der Frage eines weiterexistierens) werden die Machtverhältnisse verschwiegen und unter den Teppich gekehrt mit einer romantischen Argumentation, dass alle Leben wichtig sind, das "all lives matter"-Narrativ also erneut.
Diese moralische Überlegenheit ist nur möglich, wenn die aktuellen Formen der Entmenschlichung von nicht-weissen Menschen als zweitrangig eingestuft werden. Doch in einer gewaltvollen Gegenwart, welche die Mehrheit der Menschheit durchlebt und die eine kleine mächtige Minderheit ignorieren kann, gibt es keine romantische moralische Position. Es gibt eine politische Position und die ist immer auf der Seite der Unterdrückten! Wenn die Werte der Menschlichkeit nicht für alle gelten, was für eine Menschlichkeit wird dann besprochen? Die Theorie einer Menschlichkeit oder eines "friedlichen" und "menschlichen Zusammenlebens", welche die rassistischen Methoden ignoriert, die gewisse Menschen zu Unmenschen, zu "human animals" macht, stützt den kolonialen Status quo und normalisiert die Hierarchisierung in "menschliche, denkende" und "tierische, terroristische" Menschen.
«To break up the colonial world does not mean that after the frontiers have been abolished lines of communication will be set up between the two zones. […] The natives' challenge to the colonial world is not a rational confrontation of view. It is not a treatise on the universal, but the untidy affirmation of an original idea propounded as an absolute.” (Frantz Fanon)15
Durch den Genozid in Gaza wurden in den letzten Wochen schon über 8'000 Menschen ermordet. Durch Luftangriffe, Bodenattacken, weissem Phosphor und vielen weiteren tödlichen Waffen wird Gaza unaufhörlich bombardiert. Dies während der Zugang zu Wasser, Lebensmitteln, Medizin, Treibstoff, Elektrizität und zeitweise sogar Internet nach Gaza durch Israel und internationalen Kompliz*innen verwehrt wird. Wir dürfen den Genozid, gestützt durch den klaren Apartheidscharakter Israels, nicht hinnehmen. Es braucht uns alle. Laut und kontinuierlich durch die Strassen ziehend, auch wenn es uns die Lohnarbeit kosten könnte. Der deutschsprachige Kontext, in welchem die Diskussion feige bis ignorant genannt werden kann, macht sich mitschuldig mit einem Schweigen und der Wiedergabe der verzerrten Machtverhältnisse, die von den Medien tagtäglich publiziert werden.
Doch das können wir ändern. Lasst uns gemeinsam organisieren und Banden bilden für ein freies Palästina. Gemeinsam der imperialen Kultur und dem kolonialen Projekt endgültig den Kampf ansagen. From the river to the sea – Palestine will be free.