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Hans Kundnani - Zionismus über alles

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Vom Universalismus zum Partikularismus Hans Kundnani - Zionismus über alles

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Politik

Das deutsche politische Establishment hat die Überzeugung aufgegeben, dass der Holocaust ihm eine Verantwortung gegenüber der Menschheit gibt, und hat sie durch eine Verantwortung gegenüber Israel allein ersetzt.

Zerstörung in der syrischen Stadt Quneitra auf den Golanhöhen nach dem israelischen Abzug 1974.
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Zerstörung in der syrischen Stadt Quneitra auf den Golanhöhen nach dem israelischen Abzug 1974. Foto: Saleh Najm and Anas Sharif (CC-BY 4.0 cropped)

Datum 20. März 2024
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Deutschland steht mit seiner "Staatsräson" zu Israel weltweit sehr isoliert da, was sich in den deutschen Medien kaum wiederspiegelt, daher ist ein Blick in englischsprachige Medien und Foren hilfreich...

In den fünf Monaten seit dem 7. Oktober haben Menschen auf der ganzen Welt mit Entsetzen beobachtet, wie Deutschland die Erinnerung an den Holocaust instrumentalisiert hat, um Kritik an Israels Krieg gegen Gaza zum Schweigen zu bringen. Die Reaktion der deutschen Regierung auf den Konflikt selbst unterschied sich nicht allzu sehr von der der Vereinigten Staaten: Beide haben ihre Waffenlieferungen an Israel erhöht und Israel vor dem Internationalen Gerichtshof gegen Südafrika unterstützt. Aber Deutschland ist bei der Verfolgung von Demonstranten, Künstlern und Intellektuellen, die ihre Sympathie und Solidarität mit dem palästinensischen Volk zum Ausdruck bringen, viel weiter gegangen als die Vereinigten Staaten.

Es nutzt seine Verantwortung für einen kaum entfernten Völkermord als eine Art moralische Autorität aus. Diese Berufung auf den Holocaust zur Kontrolle der Kritik an Israel ist weit entfernt von der Erinnerungskultur, die viele internationale Beobachter einst als vorbildliche Form der Vergangenheitsbewältigung gefeiert haben. Selbst die Philosophin Susan Neiman, die vor fünf Jahren ein Buch schrieb, in dem sie die deutsche Erinnerungskultur als Vorbild für die Vereinigten Staaten feierte, ist heute der Meinung, dass sie "aus dem Ruder gelaufen"[1] sei.

Neiman spricht von einem besonders deutschen "philosemitischen McCarthyismus" - obwohl es vielleicht zutreffender wäre, ihn als "zionistischen McCarthyismus" zu bezeichnen, da er sich oft auch gegen Juden richtet, die Israel kritisch gegenüberstehen, wie die New Yorker-Autorin Masha Gessen und die Künstlerin Candice Breitz. Obwohl diesen Einzelfällen von Verfolgung zu Recht viel Aufmerksamkeit gewidmet wurde, wird die Entstehung und Entwicklung der deutschen Erinnerungskultur weniger häufig diskutiert. Vor allem in den Vereinigten Staaten gehen viele, die Deutschland für ein vergleichsweise fortschrittliches Land hielten, heute davon aus, dass seine Holocaust-Gedächtniskultur schon immer eine bedingungslose Unterstützung Israels voraussetzte.

Doch die Realität ist komplexer - und viel seltsamer. Die Erinnerung an den Holocaust hat sich erst in den 1980er Jahren im politischen Establishment der Bundesrepublik verankert. In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich diese Erinnerungskultur zurückentwickelt, da Deutschland die Überzeugung aufgegeben hat, dass der Holocaust ihm eine Verantwortung gegenüber der Menschheit verleiht, und sie durch eine Verantwortung allein gegenüber Israel ersetzt hat. Ein Grossteil der Schuld an diesem Rückschritt liegt bei Angela Merkel, die die deutsche Politik in den letzten zwanzig Jahren dominiert hat.

In den letzten Jahrzehnten haben jedoch konvergierende politische Kräfte zu einer bizarren Annäherung zwischen der deutschen Mitte-Links-Partei und der amerikanischen und israelischen Rechten geführt. Deutschland wird heute von einer Koalitionsregierung aus Sozialdemokraten, Grünen und Freien Demokraten geführt, die in Bezug auf Israel "irgendwo rechts von AIPAC"[2] zu stehen scheint, wie Neiman schreibt. Um diese merkwürdige Ausrichtung zu verstehen, muss man die 1960er Jahre Revue passieren lassen, als die deutsche Erinnerungskultur aus einer Neuen Linken hervorging, die sich mit der Nazi-Vergangenheit auseinandersetzen wollte - eine Geschichte, die ich in meinem ersten Buch, Utopia or Auschwitz, erzählt habe.

Diese Aktivisten waren die ersten Deutschen, die ihre nationale Identität mit der Verantwortung des Landes für den Holocaust verknüpften. Im Gegensatz zu dem kurzsichtigen Hyperzionismus, der heute in Deutschland vorherrscht, basierte ihr Ansatz auf einem universalistischen Verständnis der Lehren aus dem Holocaust und nicht auf einer partikularistischen Fokussierung auf Israel - auch wenn sie damit beschäftigt waren, Deutschlands eigenes Gewissen zu beruhigen.

Die 68er-Generation und Israel

Während die amerikanischen Babyboomer die Kinder der Generation waren, die gegen die Nazis gekämpft hatte - die so genannte Greatest Generation -, waren ihre westdeutschen Kollegen die Kinder der so genannten "Auschwitz-Generation". Für die 68er-Generation oder die Achtundsechziger war die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und das Ziehen moralischer Lehren aus dem Holocaust sowohl existenziell wichtig als auch äusserst persönlich. Als sie erwachsen wurden, begannen sie, das Schweigen über die noch nicht allzu lange zurückliegende Nazi-Vergangenheit Deutschlands herauszufordern. Westdeutschlands erster Bundeskanzler, der Christdemokrat Konrad Adenauer, hatte jede wirkliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus wirksam unterdrückt.

Viele der am Naziregime Beteiligten wurden rehabilitiert und in ihren früheren Positionen wieder eingesetzt; Mitte der 1950er Jahre war die Elite im öffentlichen Dienst, in der Justiz und in der Wissenschaft weitgehend in die des Dritten Reiches zurückgekehrt. Viele junge Menschen, die in Westdeutschland aufwuchsen, fühlten sich "von Nazis umgeben", wie es eine von mir interviewte Person ausdrückte. Mitte der 1960er Jahre begannen sie, nicht nur persönliche, sondern auch strukturelle Kontinuitäten zu erkennen: Die Bundesrepublik war ein faschistischer oder zumindest ein "präfaschistischer" Staat. Die Studentenbewegung entstand aus dem Protest gegen diese realen und imaginären Kontinuitäten. Am 2. Juni 1967 tötete die Westberliner Polizei den Studenten Benno Ohnesorg bei einer Demonstration gegen den Besuch des Schahs von Iran in der Stadt.

Drei Tage später begann Israel den Sechstagekrieg. Bis dahin hatte die westdeutsche Neue Linke Israel, das sie als sozialistisches Projekt betrachtete, eher unterstützt. Doch als sich die Studentenbewegung in den Tagen nach Ohnesorgs Ermordung radikalisierte, wandte sie sich auch gegen Israel, das sie nun als Brückenkopf des amerikanischen Imperialismus im Nahen Osten verstand - eine Position, die zum Teil eine Reaktion auf die vehemente Unterstützung Israels durch den verhassten rechten Medienmogul Axel Springer war. (Während des Krieges witzelte Springer, er habe sechs Tage lang israelische Zeitungen in deutscher Sprache herausgegeben.) Im Laufe des nächsten Jahrzehnts, als sie sich zunehmend auf Israel konzentrierten und es kritisierten, überschritten einige in der westdeutschen Linken die Grenze vom Antizionismus zum Antisemitismus.

Dieser linke Antisemitismus erreichte 1976 seinen Höhepunkt, als zwei Palästinenser und zwei Westdeutsche, die aus der Frankfurter Studentenbewegung hervorgegangen waren, ein Air-France-Flugzeug entführten, es nach Entebbe, Uganda, flogen und die israelischen und jüdischen Passagiere von den anderen trennten, die dann freigelassen wurden. (Benjamin Netanjahus Bruder Yonatan wurde bei der anschliessenden israelischen Razzia zur Befreiung der Geiseln getötet - ein Ereignis, das er als den Beginn seines politischen Lebens bezeichnet.) Entebbe schockierte viele in der westdeutschen Neuen Linken, darunter auch Joschka Fischer, eine führende Figur in einer Frankfurter Gruppe namens Revolutionärer Kampf.

Fischer kannte einen der Entführer, Wilfried Böse, aus der linken Szene Frankfurts. Fischer erzählte später seinem Biographen, dass die Entführung und vor allem die Selektion von jüdischen und nichtjüdischen Passagieren ihm vor Augen geführt habe, "wie diejenigen, die sich mit Nachdruck vom Nationalsozialismus und seinen Verbrechen abgrenzten, fast zwanghaft die Verbrechen der Nazis wiederholt haben." In den folgenden Jahren erschütterte das Scheitern des politischen Projekts der Neuen Linken, insbesondere ihre Verstrickung mit dem Terrorismus, Fischers Weltbild entscheidend und zwang ihn, viele seiner politischen Positionen zu überdenken. Die nationalsozialistische Vergangenheit und die deutsche Verantwortung dafür blieben für ihn zentral, aber die Lehren, die er daraus zog, veränderten sich. Vor allem rückte Fischer allmählich von seinem früheren Antizionismus ab.

Als Israel 1982 in den Libanon einmarschierte, verteidigte er es gegen Kritiker in der Partei, der er gerade beigetreten war, den Grünen. Wie viele seiner früheren Genossen versöhnte er sich auch mit der Bundesrepublik, die den desillusionierten Aktivisten nun als fragiles demokratisches Bollwerk gegen den Faschismus erschien. Der deutsche Historiker Heinrich August Winkler nannte dies die "posthume Adenauersche Linke", also eine Linke, die sich viele Positionen Konrad Adenauers, der Verkörperung dessen, was die Studentenbewegung als faschistischen Staat gesehen hatte, zu eigen gemacht hatte.

Auschwitz und der deutsche Staatsräson

Fischer beschäftigte sich nun zunehmend mit der Frage nach den Auswirkungen der NS-Vergangenheit auf die deutsche Aussenpolitik. Im Jahr 1985, zum vierzigsten Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs in Europa, schrieb Fischer einen Artikel[3] für die Wochenzeitung Die Zeit, der zu dem Schluss kam: "Nur die deutsche Verantwortung für Auschwitz kann die Essenz der westdeutschen Staatsräson sein. Alles andere kommt danach." (Der etwas archaische Begriff Staatsräson wird manchmal fälschlicherweise mit raison d'être übersetzt, ist aber besser mit raison d'état oder so etwas wie nationales Interesse wiederzugeben.) Fischer versuchte, aus dem Prinzip der Verantwortung für den Holocaust eine Vision für die deutsche Aussenpolitik abzuleiten.

Damals glaubte er, dass dieses Prinzip die Ablehnung der Anwendung militärischer Gewalt bedeute. Doch nach dem Massaker von Srebrenica 1995 gab er diese Position auf. Nach dem Vorbild seines Freundes Daniel Cohn-Bendit, dem Star der evenements [Ereignisse] in Paris im Mai 1968, der dann nach Frankfurt gezogen war und den Revolutionären Kampf gegründet hatte, befürwortete Fischer die Idee einer militärischen Intervention zur Verhinderung von Völkermord. Bis dahin hatte nur die rechte Mitte diese Position vertreten; die Grünen sahen darin einen Vorwand für die Remilitarisierung Deutschlands. Aber wenn seine Generation nicht alle Mittel einsetzte, um einen Völkermord zu verhindern, fragte Fischer in einem offenen Brief an seine Partei, hätte sie dann nicht genauso versagt wie ihre Eltern in der Nazizeit?

Als Fischer drei Jahre später Aussenminister in der rot-grünen Regierung unter dem Sozialdemokraten Gerhard Schröder wurde - ein weiterer Achtundsechziger, der allerdings Fischers Beschäftigung mit dem Holocaust nicht teilte -, hatte er die Chance, seine Ideen in die Praxis umzusetzen. Die Frage nach der Bedeutung von Auschwitz für die deutsche Aussenpolitik spitzte sich fast sofort zu, als es um die militärische Intervention zur Verhinderung ethnischer Säuberungen im Kosovo ging. Besonders heftig war die Debatte bei den Grünen, die sich sowohl dem Friedensgedanken als auch der Verantwortung für den Holocaust verpflichtet fühlten.

Sie schienen vor der Wahl zwischen zwei Prinzipien zu stehen: "Nie wieder Krieg", was einige dazu veranlasste, die militärische Intervention der NATO in Serbien oder zumindest die deutsche Beteiligung daran abzulehnen, oder "Nie wieder Auschwitz", was andere (wie Fischer) dazu veranlasste, die Intervention und die deutsche Beteiligung zu unterstützen. Diese Besessenheit von Auschwitz führte zu einer narzisstischen aussenpolitischen Debatte, in der es oft weniger um die betreffende Region - in diesem Fall den Balkan - als um Deutschland selbst zu gehen schien. Doch auch wenn Fischer nun Israel gegenüber defensiver auftrat als vor Entebbe, blieb seine Idee des "Nie wieder Auschwitz" ein universalistischer Anspruch, der jeden Völkermord irgendwo auf der Welt verhindern sollte.

Vom Universalismus zum Partikularismus

Obwohl Fischer 1999 den Streit um den Kosovo gewann - vier deutsche Tornados beteiligten sich mit Unterstützung der Grünen an der NATO-Bombardierung Serbiens -, entstand im Nachhinein ein Konsens darüber, dass er Auschwitz für politische Zwecke "instrumentalisiert" hatte. Als ich später Wolfgang Ischinger, den damaligen Staatssekretär im Auswärtigen Amt und späteren Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, befragte, sagte er mir, sein ehemaliger Chef habe "das Argument überspielt, um innenpolitische Unterstützung zu gewinnen". Von da an wurde Auschwitz in den deutschen aussenpolitischen Debatten nicht mehr so oft erwähnt wie noch in den 1990er Jahren. Für Israel gab es jedoch eine Ausnahme.

Die deutsche Unterstützung für Israel geht auf Adenauer zurück, der 1952 Reparationszahlungen zugesagt hatte und begann, das Land mit Waffen zu beliefern. Und als die Erwähnung von Auschwitz in aussenpolitischen Debatten in Ungnade fiel, begannen einige auf der Rechten den Begriff Staatsräson zu verwenden, den Fischer in seinem Artikel von 1985 wiederbelebt hatte, um Deutschlands Verantwortung gegenüber Israel eine härtere Kante zu geben. Der Journalist Patrick Bahners schrieb 2002 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: "Es ist der deutsche Staatsräson, den man Hitler nicht posthum gewinnen lassen darf."

Das jüdische Volk war immer noch von Feinden umgeben - und es lag ebenso sehr im nationalen Interesse Deutschlands, dass diese Feinde nicht triumphierten, wie es darum ging, eine nationalsozialistische Machtübernahme in Deutschland selbst zu verhindern. Die rot-grüne Regierung ging 2005 zu Ende, als Merkel das Amt der Bundeskanzlerin übernahm - ein Amt, das sie die nächsten sechzehn Jahre innehaben sollte. In einer Rede[4] vor der Knesset drei Jahre nach ihrem Amtsantritt - der ersten einer deutschen Bundeskanzlerin - behauptete sie, dass sich alle ihre Vorgänger der besonderen historischen Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israels bewusst gewesen seien. "Diese historische Verantwortung ist Teil der Staatsräson meines Landes", erklärte sie. Merkels Rede scheint von Rudolf Dressler, dem deutschen Botschafter in Israel von 2000 bis 2005, beeinflusst worden zu sein, der 2005 in einem Essay[5] schrieb, dass "eine gesicherte Existenz Israels im deutschen nationalen Interesse liegt und damit Teil unserer Staatsräson ist". Obwohl der Begriff ursprünglich von Fischer stammte, fanden Merkels Mitarbeiter nach einem aktuellen Bericht des Spiegel, er klinge wie hartgesottene "christdemokratische Sprache"[6].

Es war auch in anderer Hinsicht typisch für Merkel: Bekannt für einen "alternativlosen" Ansatz in der Politik, versuchte sie, die deutsche Politik gegenüber Israel aus dem Raum der demokratischen Anfechtung herauszunehmen und ein Engagement für die israelische Sicherheit zu einem "unhinterfragbaren, alternativlosen Prinzip"[7] zu machen, wie es der Historiker Jürgen Zimmerer formuliert hat. Merkel hat es geschafft: Das Engagement für Israel als Prinzip der deutschen Staatsräson ist zum Konsens im gesamten politischen Spektrum geworden. Die neue Regierungskoalition aus Sozialdemokraten, Grünen und Freien Demokraten einigte sich 2021 auf eine sorgfältig ausgehandelte Vereinbarung, die eine bekannte Zeile enthält: "Für uns ist die Sicherheit Israels Staatsräson." Bei seinem Besuch in Israel zehn Tage nach den Anschlägen vom 7. Oktober - zu diesem Zeitpunkt hatte Israel bereits Tausende von Bomben auf Gaza abgeworfen - wiederholte Bundeskanzler Olaf Scholz diese Erklärung. (Sein nationaler Sicherheitsberater, Jens Plötner, arbeitete in der deutschen Botschaft in Israel, während Dressler Botschafter war.)

Seit Merkels Ausscheiden aus dem Amt wächst die Kritik an ihrem aussenpolitischen Erbe - vor allem in Bezug auf China und Russland, wo sie wirtschaftlichen Interessen Vorrang vor der Sicherheit einräumte. Seit dem 7. Oktober ist überdeutlich geworden, dass Merkel auch ein katastrophales Erbe für die deutsche Israel-Politik hinterlassen hat. Im Jahr 2009, ein Jahr nach ihrer Knesset-Rede, kam Netanjahu zum zweiten Mal an die Macht - und seither ist Israel immer weiter nach rechts gerückt. Deutschland sieht sich nun völlig unfähig oder unwillig, Israel zu kritisieren, selbst wenn es die Bevölkerung des Gazastreifens vertreibt und ausrottet.

"Zionismus über alles"

In den 2010er Jahren fragte ich mich, ob die abnehmende öffentliche Unterstützung im Inland zu einer Schwächung des deutschen Engagements für Israel führen könnte. Es fand ein Generationswechsel statt, da die Achtundsechziger, für die die Nazi-Vergangenheit existenziell und persönlich war, von Deutschen mit einer distanzierteren und gleichgültigeren Haltung zu ihr abgelöst wurden. (Ein einflussreiches Buch, Opa war kein Nazi[8], veranschaulichte, wie Mitglieder dieser Generation sich nicht vorstellen konnten, dass ihre Grosseltern an Gräueltaten beteiligt gewesen sein könnten.) Ausserdem wurde die deutsche Gesellschaft immer vielfältiger, und die Einwanderer haben ihre eigene Vorstellung von den Lehren aus der nationalsozialistischen Vergangenheit.

Zu meiner Überraschung hat sich in den letzten zehn Jahren weniger ein postzionistisches Deutschland als vielmehr ein hyperzionistisches Deutschland herausgebildet. Selbst wenn die kollektive Erinnerung an den Holocaust durch den Generationenwechsel und den demografischen Wandel erschwert wird, haben die deutschen Eliten ihr Engagement für Israel verdoppelt. Dies scheint zum Teil darauf zurückzuführen zu sein, dass sie befürchten, dass ihr Verständnis der Lehren aus der Nazi-Vergangenheit nicht mehr weithin geteilt wird, und sie wollen es unverhandelbar machen, bevor es zu spät ist.

Joschka Fischers Nachfolger in der Grünen Partei haben sich nicht nur dem Wandel von einem universalistischen zu einem partikularistischen Verständnis der Lehren aus der NS-Vergangenheit angeschlossen, sondern sind auch zu dessen aggressivsten Verfechtern geworden. Führende Politiker der Grünen, wie Aussenministerin Annalena Baerbock und Wirtschaftsminister Robert Habeck, gehören zu den entschiedensten Befürwortern Israels und zu den schärfsten Kritikern antizionistischer und pro-palästinensischer Stimmen. Im Gegensatz zu den amerikanischen Konservativen sehen sie ihre bedingungslose Unterstützung Israels jedoch als Ausdruck des Antinazismus - mit anderen Worten als fortschrittliche Position. Fischer ist bekannt für seine Auseinandersetzungen mit den amerikanischen Neokonservativen im Vorfeld der Invasion im Irak 2003, die er ablehnte.

Doch heute stehen einige Grüne den Neokonservativen näher als der Linken. Die Haltung des Springer-Medienkonzerns zu Israel ist praktisch zur Position des gesamten deutschen politischen Establishments geworden - einschliesslich der Nachfolger der Neuen Linken, die durch Springers Unterstützung für Israel im Jahr 1967 radikalisiert wurden. In jüngster Zeit hat Springer eine Reihe von Hexenjagden gegen Kritiker Israels angeführt, wie zum Beispiel Nemi El-Hassan, eine palästinensisch-deutsche Journalistin, die schliesslich vom ZDF fallengelassen[9] wurde. Die Mitarbeiter des Unternehmens müssen eine Unterstützungserklärung für Israel unterschreiben. In einem deutschen Bundesland haben die Christdemokraten ein ähnliches Bekenntnis zu Israel zu einer Voraussetzung[10] für die Staatsbürgerschaft gemacht, und andere Bundesländer schlagen vor, dasselbe zu tun - als ob alle deutschen Bürger jetzt Springer-Mitarbeiter wären.

Letztes Jahr veröffentlichte Die Zeit einen schockierenden investigativen Bericht[11], der auf durchgesickerten E-Mails von Springer-Chef Mathias Döpfner basierte. In einer der E-Mails gibt Döpfner eine Zusammenfassung seiner politischen Überzeugungen, die mit einem aussergewöhnlichen und abschreckenden Satz endet, der auch den politischen Konsens, der sich in den letzten Jahrzehnten in Deutschland herausgebildet hat, treffend beschreibt: "Zionismus über alles".

Hans Kundnani

Fussnoten:

[1] https://www.nybooks.com/articles/2023/10/19/historical-reckoning-gone-haywire-germany-susan-neiman/

[2] [AIPAC = American Israel Public Affairs Committee, (deutsch „Amerikanisch-israelischer Ausschuss für öffentliche Angelegenheiten“) ist die bedeutendste unter den proisraelische Lobbys in den USA, die auch von israelischer Seite, u.a. von dem damaligen israelischen Ministerpräsidenten Jitzchak Rabin, wegen einseitiger Unterstützung des konservativen Parteienbündnisses Likud kritisiert worden ist.]

[3] https://www.zeit.de/1985/19/wir-kinder-der-kapitulanten

[4] https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/newsletter-und-abos/bulletin/rede-von-bundeskanzlerin-dr-angela-merkel-796170

[5] https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/29118/gesicherte-existenz-israels-teil-der-deutschen-staatsraeson-essay/

[6] https://www.spiegel.de/international/germany/reason-of-state-the-true-story-behind-merkels-promise-to-israel-a-00563b9e-0c66-4717-9331-e0bbb4cc8f88

[7] https://www.reclam.de/detail/978-3-15-011454-4/Erinnerungskaempfe

[8] https://www.fischerverlage.de/buch/harald-welzer-sabine-moller-opa-war-kein-nazi-9783104033556

[9] https://www.berliner-zeitung.de/en/triumph-of-the-bild-nemi-el-hassans-firing-was-just-plain-wrong-li.186770

[10] https://www.washingtonpost.com/world/2023/12/06/germany-israel-citizenship-requirement/

[11] https://www.zeit.de/2023/16/mathias-doepfner-axel-springer-interne-dokumente/komplettansicht

Hans Kundnani ist ein britischer politischer Analyst und arbeitet als Gastwissenschaftler am Remarque Institute der New York University und Autor zweier Bücher über Deutschland, Utopia or Auschwitz und The Paradox of German Power.

Zionismus über alles ist am 17.03.2024 im Dissent Magazine erschienen:
https://www.dissentmagazine.org/online_articles/zionism-uber-alles/

[Übersetzt von Dancing Bull]