Saint-Just, Der Geist der Revolution und der Verfassung in Frankreich, 1791.
Die Repression gegen jegliche Opposition erklärt nicht alles. Allen voran erklärt sie nicht den „Erfolg“ des Islamischen Staates (IS), d.h. den Rückhalt, den er im Volk hat. Der Grund dafür ist, dass es sich eher um einen Prozess des Staatsaufbaus handelt, denn um die Besatzung eines Territoriums durch eine „terroristische Gruppe“.
Nach mehreren Jahren eines unerbittlichen Bürgerkrieges ist das Eintreffen der Truppen des IS nicht nur gleichbedeutend mit der Ersetzung eines Terrorregimes durch ein anderes, sondern auch [siehe den ersten Teil] mit der Rückkehr eines Rechtsstaates, einer relativen Ruhe, einer Verbesserung der Versorgung, der Reparatur von Infrastrukturen, der Wiedereinführung von öffentlichen Diensten, dem schnellen Aufbau einer Verwaltung – freilich im besten oder im schlimmsten der Fälle, doch die Einwohner können die Ordnung dem Chaos vorziehen [1]. Die Tatsache, dass der IS mit seinen Herrschafts-, Verwaltungs-, logistischen und finanziellen Fähigkeiten spielt, erklärt, dass er in verschiedenen Städten als Befreier empfangen werden konnte, er für einige „als absolut respektables Regime“ [2] erscheinen kann oder Stämme ihm die Treue schwören [3].
Doch das ist nicht alles. Es wird noch mehr in Betracht gezogen werden müssen, allen voran die „trostlose Hoffnung“. Ein Teil dieser Bevölkerung steht jenseits von Pragmatismus hinter dem Diskurs und dem Projekt des Kalifats. Denn der IS kann auf die aktive Beteiligung von Zehntausenden von Kämpfern, Soldaten und Funktionären zählen, aber auch auf die passive Unterstützung eines gewissen Teils der Einwohner des Iraks und Syriens (und auf die vorsichtige oder gleichgültige Passivität von vielen anderen).
Und dann gibt es Zehntausende Jugendliche, besonders viele Proletarier, die den Planeten überqueren, um im Kalifat zu leben oder zu sterben, während so viele andere davon träumen.
Sunnistan...
„Global denken, lokal handeln“Jacques Ellul
Ist die Zeit für den Aufbau eines islamischen Staates gekommen? Die Zeit eines neuen Staates? Weniger künstlich als die bestehenden? Man weiss, dass der IS faktisch und symbolisch die mit der Richtschnur gezogene Grenze zwischen Syrien und dem Irak aufgehoben hat. Ist es dieser berühmte grosse Staat, der die sunnitischen Araber zwischen den Ruinen von zwei anderen zusammenbringt?
Ein Teil der lokalen Bourgeoisie kann sich von einem Projekt vom Stile Sunnistan durchaus etwas erhoffen [4]. Der Irak hatte keine Chance mehr und gleiches scheint für Syrien zu gelten. Im Fall eines Auseinanderfallens des Iraks, so wie es vor dem Auftauchen des IS in Betracht gezogen worden war, hätte der sunnitische Teil einen Platz am Rande und als Enklave gehabt, was einiges weniger attraktiv ist als jener Platz, den er in einem zukünftigen grossen sunnitischen Staat hätte.
Seine Form mag überraschend erscheinen, doch der IS spielt seine Rolle als Staat, indem er die Interessen der lokalen kapitalistischen Klasse schützt und eine Vision für die Zukunft hat. Von einem wirtschaftlichen Standpunkt aus hat unser erster Teil den Willen gezeigt, den der IS hat, ein Territorium (jenseits künstlicher, nationaler, ethnischer Differenzen) zu vereinigen und zu befrieden und dort die Wirtschaft wieder anzukurbeln, zu rationalisieren und zu modernisieren, besonders die Ölextraktion [5]. Und er ruft zur Hijra auf, er lädt nicht nur die Muslime mit einer militärischen Erfahrung in seine Territorien ein, sondern auch die Lehrer, Juristen, Ärzte und Ingenieure [6], das dient der Vorbereitung der Zukunft und der Kompensierung für die Auswanderung vieler Angehörigen der Mittelklassen und der Eliten. Er ist zwar heute geächtet, könnte jedoch schon morgen die Bedürfnisse der grossen Mächte befriedigen (Wiederaufbau des Landes, Neuverteilung der Karten für die Ölproduktion, Waffenverkäufe usw.) oder zumindest das Terrain für solche Projekte bereiten.
Die Erschaffung eines faktischen Sunnistans ist Teil einer unvermeidlichen Umgestaltung einer Karte des Mittleren Ostens, die vor einem Jahrhundert gezeichnet worden war. Der IS kümmert sich um die Drecksarbeit: Massaker und Umsiedlungen von Bevölkerungen, welche das Abstecken der zukünftigen Grenzen erleichtern werden, was diese Gebiete von einem ethnischen und religiösen Standpunkt aus homogen macht und eine Konfessionalisierung vollendet, die schon lange begonnen hatte. Um dies zu tun, stützt er sich auf die traditionellste Form der Macht: die Stämme. Al-Baghdadi vergisst nie, zu erwähnen, dass er Mitglied des Stammes der Quraisch ist, jener der Nachfahren Mohammeds: Modernisierung und Archaismus sind durchaus kompatibel.
Sein Projekt beruht auf einer flexiblen, dezentralisierten staatlichen Struktur, die den lokalen Notabeln die von Bagdad und Damaskus beschlagnahmte Macht zurückgibt. Er garantiert die innere gesellschaftliche Stabilität, indem er seine Aufmerksamkeit auf das „Gesellschaftliche“ (Sitten, alltägliches Leben) richtet und indem er die Revolte der Ärmsten und eine endemische Gewalt nach aussen kanalisiert.
Im irakischen Gebiet des Kalifats akzeptiert eine Mehrheit der sunnitischen Araber das neue Regime, passiv oder aktiv. Nach Jahren der Erniedrigung ist es ihre Rache (gegen die Schiiten und die Amerikaner), die Wiedereroberung der Macht, der Ehre und einer politischen Sichtbarkeit. Die Stammesführer haben sich aus Opportunismus oder soweit es ihren Interessen entspricht dem transnationalen Projekt des IS angeschlossen [7]. Auf sie folgten ehemalige Kader der Baath-Partei, ehemalige Offiziere der irakischen Armee und zahlreiche Proletarier der benachteiligten Quartiere und Gebiete in der Region.
Doch der IS, womöglich durch die amerikanische Intervention im Sommer 2014 in eine Strategie der „Bewältigung“ gedrängt, hat sich nicht in einem ethnisch-religiösen Kommunitarismus des Typs Sunnistan eingeschlossen. Obwohl das Projekt des IS eine „Rache der Geschichte“ darstellt, beschränkt es sich nicht darauf, nur eine einzige Grenze niederzureissen.
… oder Kalifat?
Die aus dem Westen importierten Ideologien (Nationalismus, Sozialismus und, als jüngste davon, die Demokratie) haben kaum Befriedigung gebracht, sie überzeugen nicht mal mehr in den Ländern, wo sie herkommen, und die Unangepasstheit des nationalen Rahmens an die Situation im Mittleren Osten muss nicht mehr gezeigt werden. Die grossen politischen Ideologien existieren nicht mehr:Wenn das Kalifat den gesellschaftlich genannten Reformen (Alltag, Lebensweise) eine derartige Bedeutung gibt, so ist das nicht aus Pedanterie. Das Gesellschaftliche macht den Unterschied, langfristig den einzigen Unterschied; es ist die beste Rechtfertigung des IS, sein politisches Markenzeichen, seine Erlangung von Autonomie gegenüber dem Westen, ein Bruch mit einem Jahrhundert der Kolonialisierung, der Bücklinge, der ideologischen Anleihen und der wirkungslosen Verkleidung.
Der IS, der den Nationalismus als „Dreck aus dem Westen“ denunziert, hat die Grenze zwischen Syrien und dem Irak abgeschafft, was ihm erlaubt hat, die Verbindung zwischen den Stämmen neu zu beleben [8]. Der Nationalismus, der in Europa seit 1945 als tot betrachtet wird, kommt dort in einer regionalistischen Form wieder auf (Norditalien, Flandern, Katalonien, Schottland...), doch seine Wiedergeburt am Rande des Kontinents (Ex-Jugoslawien, Ukraine) ist von mörderischen Konflikten begleitet. Was eigentlich verbinden sollte, trennt. Im Mittleren Osten hat ein „syrischer“ oder „irakischer“ Nationalstaat nur so viel Kraft wie der Diktator, der fähig ist, ihn zusammenzuhalten. Es ist also nicht erstaunlich, dass die ideologische „Vereinnahmung“ des Internationalismus und des Universalismus durch den IS einer seiner verführendsten Aspekte ist.
Sein offizielles Programm ist die Restauration des 1258 verschwundenen abbasidischen Kalifats und, in einer ersten Phase, die Wiedereroberung des muslimischen Bodens, von Indien bis nach Spanien. Wir können darüber lachen, aber einige nehmen die Sache sehr ernst, besonders jene, welche bereit sind, dafür zu sterben und zu töten. Der „mittelalterliche“ Charakter täuscht, denn obwohl dieser in Frankreich ungerechtfertigterweise als archaisch, derb und primitiv betrachtet wird, evoziert er in der arabisch-muslimischen Welt ein Goldenes Zeitalter, einen Bezugswert. Die Übernahme dieser Thematik ist gleichbedeutend mit der Wiederbelebung „ein[es] arabische[n] Traum[s]“. Gewiss, „[e]in wahrgewordener Traum, der Tod verbreitet“, trotzdem ist es auch „die letzte glaubwürdige totalitäre Ideologie, idealistisch und realistisch zugleich“ [9], und sie ist fähig, die Massen zu mobilisieren. Dieser arabische Traum der huldvollen Rückeroberung der verlorenen Ehre nach Jahrhunderten der Erniedrigung mag mit dem universalistischen muslimischen Ideal im Widerspruch erscheinen, doch dieser Widerspruch ist nicht neu und artikuliert sich ziemlich deutlich – besonders wenn Araber das Projekt leiten. Egal ob Sieger oder besiegt wird das Kalifat versucht haben, mit Symbolen eine Mythologie zu erschaffen, die fähig ist, sein Verschwinden zu überleben und auch in Zukunft noch Leute träumen zu lassen.
Das versteckte Kind des Frühlings?
Ist der IS der Repräsentant dieses islamischen Winters, der auf den Arabischen Frühling gefolgt ist, oder ihn gar erstickt hat? Oder sein uneheliches Kind, das an die Türe klopfen kommt?Der Irak ist ein bisschen ein Sonderfall, denn das Land hat seit 2003 eine ausländische Besatzung und einen ersten Konfessionskrieg erlebt. Trotzdem bietet dem Regime von Nuri al-Maliki zwischen 2011 und 2012 eine breite soziale, mehrheitlich sunnitische Protestbewegung die Stirn, die er mit heftiger Repression beantwortet. Der Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten beginnt also erneut, doch er nimmt dieses Mal die Form eines offenen Krieges zwischen der Regierung von Bagdad und dem IS an.
Die syrische Situation 2011 ist eine eher klassische Ausgangssituation. Jene eines Landes, wo die korrupten Kader von alten Diktaturen ein Hindernis für liberale Reformen sind, sogar wenn sie selber die Initiative dafür ergriffen hatten. Ein Kompromiss, der die widersprüchlichen Interessen der betroffenen Klassen hätte befriedigen können, hatte nicht weniger als eine autonome und befriedete kapitalistische Entwicklung in der Region zur Voraussetzung – eine Möglichkeit, die total ausgeschlossen werden konnte.
In Syrien profitiert selbstverständlich die alawitische Herrschaft von der Politik der infitâh (wirtschaftliche Öffnung und Liberalisierung) der 2000er Jahre, doch auch ein bedeutender Teil der städtischen sunnitischen Bourgeoisie, mit der sie sich verbündet hat. Die Opfer dieser Reformen sind – man wird es erraten haben – die Arbeiter, die Arbeitslosen und die Bauern. Der Aufstand im März-April 2011 bricht in jenen Quartieren aus, wo sie leben, die Mobilisierung der Intellektuellen und aufstrebenden Mittelklassen, die mit den Grenzen der gesellschaftlichen Veränderung und des demokratischen Fortschrittes unzufrieden sind, schliesst sich ihm schnell an.
In Anbetracht der Entschlossenheit des Regimes und der Armee [10], der heftigen Repression, aber auch der Fortsetzung der Demonstrationen hat sich ein Teil der syrischen Bourgeoisie dafür entschieden, mit dem Regime zu brechen und alles auf seinen Sturz zu setzen. Dank der Unterstützung der in den westlichen Hauptstädten lebenden Oppositionellen und diverser Staaten (besonders der Golfstaaten) wird die Revolte eine militärische Wendung nehmen [11]. Man weiss, dass „der Krieg die Revolution frisst“, doch hier gab es sehr wenig zu essen und die Involution war schnell. Zwischen einem Regime, das die Karte der Glaubensspaltung spielt, äusseren Einflüssen und einem fruchtbaren Boden wird der Konflikt die Erscheinungsform einer Opposition zwischen Sunniten und Schiiten annehmen. Militarisierung und Rebellion gehen für Hunderte von bewaffneten Gruppen immer mehr mit Islamismus oder Salafismus und Jihadismus einher. Doch nach 2012 „ist die Mehrheit der jungen Syrer, welche sich aus demokratischem Geist gegen das Regime aufgelehnt hatten, tot, im Exil oder nun Teil des Jihadismus. Es gibt keine gemässigten Kräfte mehr“ [12].
Der bewaffnete und konfessionelle Aspekt des Konflikts radiert jedoch noch lange nicht jeglichen Klassenaspekt aus und überschneidet sich mit zuvor bestehenden Gegensätzen zwischen nützlichen und peripheren Regionen, Stadt und Land, Innenstädten und armen Quartieren. In letzteren ist die Revolte entstanden, besonders in diesen „informellen Quartieren“ [13], welche die grossen syrischen Städte umgeben, z.B. Aleppo, wo eine mehrheitlich sunnitische Bevölkerung lebte, die aus den ländlichen Gebieten nach der Dürre 2008 geflohen war. Die Kämpfe nehmen häufig die Form von Konfrontationen zwischen den Peripherien mit mehrheitlich rebellischen Quartieren und einem regimetreuen Stadtzentrum an. Scheinbar kommen auch viele jihadistische Rebellen aus den ärmsten ländlichen Gebieten, aus jenen, welche Damaskus als erstes aufgibt. Ihr Eindringen in die Herzen der Städte war für die Bewohner häufig kein Grund zur Freude, sie nehmen sie als „eine Art ländliches Lumpenproletariat“ wahr, „das sich an den Städten rächen will“. In Deir ez-Zor und Aleppo z.B., wo die Bevölkerung „auf das Eindringen dieser Rebellen vom Land in die Stadt mit Kälte reagiert hat“ [14].
Viele dieser Rebellen schwören dem IS den Treueeid, als dieser 2013 in Syrien eindringt. Sie sind somit die materielle Verbindung zwischen den Revolten 2011 und dem Kalifat, das sich als der „einzige wahre Erbe“ des Arabischen Frühlings betrachtet [15]. Es ist auf jeden Fall die Konsequenz, oder gar die Antwort auf sein Scheitern. Der Kampf gegen Korruption, der für den IS zentral scheint, ist gewiss ein Echo auf die Anprangerung der Korruption durch die Demonstranten 2011. Durch seinen Respekt der Traditionen und seiner Ablehnung des Westens und seiner Demokratie, aber auch der Diktaturen, bringt der IS einen ethischen Faktor mit, der den laizistischen Demokraten fehlt. Und gegen die islamistischen Demokraten verurteilt er die Demokratie als Schöpfung des Westens und somit den Westen an und für sich, womit er implizit den Theorien eines Kampfes der Kulturen zustimmt.
Der IS tut dies, der IS tut das, doch es ist die lokale Bourgeoisie, welche die Register zieht. Man kann tatsächlich sagen, dass die wahrhaftige Bedeutung von dawla nur Beiwerk ist und den IS als Staat wie jeden anderen sehen, nämlich als einen einfachen Ausdruck der lokalen Bourgeoisie, die ihre Interessen verteidigt und das Proletariat im Zaum hält. Wie man das auch vom Ungarn des Admirals Horthy, vom Ecuador von Rafael Correa oder vom Frankreich von François Hollande sagen kann. Man kann anfügen, dass die Proletarier von rivalisierenden Bourgeoisien stets als Kanonenfutter benutzt werden. Das ist wahr, doch damit ist die Debatte noch lange nicht beendet. Die starke Involvierung von Proletariern im IS verdient es, hinterfragt zu werden (genau wie ihre Präsenz in der NSDAP oder in der Rotkappen-Bewegung).
Klassengesellschaft in Syrien, in Irak, wie überall, freilich, doch wie steht es mit dem Klassenkampf? In Syrien stellt sich die Frage manchmal fast nicht mehr, da die Abwanderung der Bevölkerungen so massiv gewesen ist (4 Millionen Auswanderer, 8 bis 10 Millionen intern Vertriebene): Die ersten Auswanderer waren die Reichsten (viele Kader und liberale Berufe), jene, welche noch dort sind, sind v.a. die Ärmsten. Eine Stadt wie Deir ez-Zor, die vorher zwischen 600'000 und 800'000 Einwohner zählte, hat jetzt nur noch einige Zehntausende, was den Alltag des Klassenkampfes in der Fabrik oder im Büro ein bisschen durcheinanderbringt.
Im irakischen Teil hat sich, wie wir gesehen haben, die Gesellschaft seit mehr als zehn Jahren angepasst, um im Krieg und dann im Bürgerkrieg zu überleben, doch die Tätigkeit des Kalifats stellt trotzdem einen Teil der kapitalistischen Klasse (Geschäftsmänner, Händler, Stammesführer) zufrieden. Umso mehr, weil die Hinrichtungen von Funktionären und Notabeln jenen Plätze offeriert, die es zuvor nicht sein konnten, und weil die neue Bürokratie (bis jetzt) weniger parasitär scheint als die vorhergehende.
Der IS offeriert den Ärmsten einen Ausweg, denn er ist, abgesehen von seinem karitativen Aspekt, ein potenzieller Arbeitgeber für das überschüssige Proletariat, das nicht ausgewandert ist. Die religiöse Mobilisierung und der Eroberungskrieg (gegen aussen) verschaffen in erster Linie Zehntausenden von Proletariern und somit Familien ein Einkommen (der Sold wird pünktlich überwiesen). Der gesellschaftliche Aufstieg innerhalb der Bewegung kann schnell gehen (im Gegensatz zu Al Qaida, wo die Anführer in der Regel den gesellschaftlichen Eliten entstammen). Doch es kommen noch die Infrastrukturprojekte und die vom Regime eingeleiteten Wiederaufbauarbeiten dazu, eine Art „keynesianische“ Ankurbelung finanziert durch die Kriegskasse des IS. Da er Steppen und Wüsten kontrolliert, unterstützt er auch die armen Bauern und Beduinen dieser peripheren Regionen, die von den anderen Regierungen vernachlässigt worden sind, oder verspricht, dies zu tun.
In den Gebieten im Irak und Syrien, die der IS kontrolliert, scheint er eine Verbindung zwischen den Interessen eines Teils der kapitalistischen Klasse, doch auch eines Teils des Proletariats herzustellen, womit er die Errichtung einer Gemeinschaft erzwingt, die Träger des sozialen Friedens ist. Obwohl die gesellschaftliche Herkunft der Anführer nichts beweist, sollten wir nicht vergessen, dass die Schuras und beratenden Räte, welche dem Kalifen in seiner Aufgabe zur Seite stehen [siehe den ersten Teil], aus Imamen, Notabeln der Städte und Stammesführern bestehen. Wir sind also weit entfernt von Arbeiterräten.
Der Islam als Verstärkung?
„Inmittten dieser Zerfallserscheinungen hat der Islam die bemerkenswerte Eigenschaft, eine unmittelbare Gemeinschaft anzubieten (die sich in der tatsächlich von ihm organisierten Solidarität manifestiert) und sich gegen das Geld und die Grenzen zu behaupten. Dieser letzte Aspekt ist nicht zweitrangig. Für einen (muslimischen, katholischen oder nicht gläubigen) Franzosen zählt die Grenze wenig, denn er ist frei, zu reisen, obwohl er gleichzeitig die Garantie eines nationalen Rahmens hat, innerhalb welchem er, solange er den Gesetzen gehorcht, in den Genuss eines minimalen Schutzes und einer minimalen Unterstützung kommt: In einem Wort, er hat einen Staat. Die Hälfte der Afrikaner und etliche Orientale kennen das Glück dieses ‚grossen, bequemen Gefängnisses' (Max Weber) nicht. Das Territorium, wo sie leben, ist dem Risiko ausgesetzt, von unkontrollierten Banden durchstreift und verwüstet, ihre kärgliche Habseligkeiten jenem, zerstreut, und ihre Familie jenem, umgesiedelt oder dezimiert zu werden. Sie leiden gleichzeitig unter einem diktatorischen Staatsapparat und seiner Auslöschung. Sie privilegieren somit umso eher eine transnationale Gemeinschaft, weil der Nationalstaat für sie ein Betrug ist: Die Umma der Gläubigen erscheint als Ausweg und die Scharia als Stabilitätsfaktor.“Troploin, "Le Présent d'une illusion", 2006.
Scheinbar ist keine religiöse Autorität fähig, zu beurteilen, wie islamisch oder nicht der IS ist [16]. Einige behaupten zwar, er habe „nichts mit dem Islam zu tun“. Wir sind noch viel ungeeigneter, die Sache zu beurteilen, weil für uns der Glaube an Gott natürlich ein Synonym für Entfremdung ist. Wir begnügen uns also damit, zu bemerken, dass der IS selbst die Gesamtheit seiner Handlungen, Schriften und Aussagen durch eine sehr wörtliche Lektüre des Korans und eine sehr strenge der Hadithe erklärt und rechtfertigt.
Das Problem liegt nicht im Exzess der Gläubigkeit, genauso wenig wie die Lösung in seiner Mässigung liegt. Es ist nicht irrationaler ans Paradies (und somit an die geringe Bedeutung des irdischen Lebens), an das Bevorstehen der Apokalypse, an die Rückkehr des Kalifats zu glauben, als an die „schlichte“ Existenz eines Gottes. Und wenn man die Realität eines Paradieses anerkennt, reicht manchmal ein (grosser) Schritt, um es auf Erden für umsetzbar zu halten.
Gemäss gewissen muslimischen Theologen beweisen etliche Zeichen, allen voran der Krieg in Syrien, dass das Ende der Zeit, die Stunde des Endkampfes gegen Satan nahe ist. Der Wiederaufbau des 1258 durch die Eroberung Bagdads durch die Mongolen verschwundenen Kalifats ist Teil dieses Rahmens und stellt die „Erfüllung eines alten Traumes“ [17] dar.
In sehr stark säkularisierten Regionen wie Frankreich scheint das verrückt und man ist versucht, darauf mit Sarkasmus zu antworten. Da wir an tolerierte, da lauwarme, gemässigte und dialogbereite Religionen gewöhnt sind, ist es für uns schwierig, das Märtyrertum oder die Eschatologie und noch schwieriger, das Zusammenspiel einer politischen (der Anspruch auf die Hegemonie des Kalifats) und einer religiösen Dimension (die angebliche eschatologische Verwirklichung des Islams) zu verstehen. Wir denken sofort an eine Scheinhandlung oder eine Instrumentalisierung. Die Religion ist jedoch nie ausschliesslich, ja nicht einmal besonders spirituell: Sie ist auch politisch, kulturell, wirtschaftlich und militärisch, ein sozialer Rahmen, der in gewissen Ländern sehr konkrete Formen annehmen kann (Aufteilung der Quartiere einer Stadt nach Konfessionen, wie z.B. in Beirut oder Belfast).
Das gilt umso mehr für den Islam, weil er auf einer Orthopraxie basiert: Muslim sein bedeutet, Praktiken zu respektieren (besonders die fünf Säulen). Der Respekt dieser Praktiken ist also mit einer Identität, mit einer Zugehörigkeit zu einer Gruppe, einer Gemeinschaft verbunden, die im Mittleren Osten über den begrenzten Stammesrahmen hinausgeht und diesen umfasst. Künstlich? Nicht minder als die Nation oder die Baath-Partei, die ihre Ineffizienz als ideologischen Zement einer Gesellschaft bewiesen haben, die Proletarier und Bourgeois vereinen soll. Daher kommt die Bedeutung, welche die Aktivisten des Kalifats dem Respekt der Praktiken beimessen, der Teil der Erzeugung einer kulturellen und religiösen Homogenität ist (die nach Jahren des Bürgerkrieges schon fast „beruhigend“ ist); daher kommt die Tatsache, dass sie zuerst die schlechten Gläubigen (lasterhafte Sunniten, Korrupte usw.) angreifen. Die Aufgabe ist umso dringlicher, wenn sich die Apokalypse nähert, denn, „das Land des Islams muss von ungerechten Anführern, korrupten Ulemas, pervertierten Gläubigen und unzüchtigen Frauen gesäubert werden, um die Konfrontation des Glaubens und der Gottlosigkeit vorzubereiten. Das Schwert der Rache wird zuerst die Heuchler, dann die Ungläubigen treffen“ [18]. Doch es geht nicht nur um zu vergiessendes Blut, sondern darum, einen Staat aufzubauen, wo die Muslime, die Unterdrückten ein Refugium finden und ihre Religion vollständig leben können werden, während sie sich materiell und spirituell auf den Endkampf vorbereiten. Eine Praxis begründet die Existenz eines Territoriums.
Wenn die Religion die Massen mobilisiert, schliesst das Aufrichtigkeit aus? Ein Frage, die häufig bezüglich der Anführer des Kalifats und der ehemaligen baathistischen Offiziere gestellt wird, weniger häufig bezüglich der einfachen Aktivisten (immer diese Dichotomie zwischen den Manipulatoren und den Dummköpfen). Man äussert in der Regel Zweifel darüber, wie echt Sympathien für Werte oder Ideen sein können, die uns empören.
In der Politik (genau wie im Leben) ist der totale Zynismus oder die totale Naivität selten. Es ist egal, ob Al Baghdadi an Gott glaubt oder nur an Geld [19]. Für die ehemaligen irakischen Offiziere war die Mitgliedschaft in der Baath-Partei noch lange nicht gleichbedeutend mit dem Eintreten für die baathistische Ideologie. Man weiss hingegen, dass Saddam Hussein ab 1991 den Islam wieder aus den Schachteln der Geschichte ausgepackt hat und dass der Marxismus kein Impfstoff gegen die Religion ist (siehe seinen Einfluss bei den Gründern der Hezbollah oder dem Islamischen Jihad in Palästina).
Was wichtig ist, ist die irgendwann entstehende Anschlussmöglichkeit zwischen einem Glauben und einer Situation. Die islamische Geschichte ist reich an revolutionären Bewegungen, welche die millenaristische Dynamik mehr oder weniger geschickt instrumentalisiert haben und apokalyptische Texte erleben seit den 1970er Jahren einen zweiten Frühling, der sich ab 2001 noch verstärkt hat (im Internet oder als Broschüren). Jean-Pierre Filiu, der nicht vom französischen Politikbetrieb sprach, schrieb 2008, dass „eine subversive Gruppe, die verzweifelt den ‚Weg der Massen' wiederfinden oder sich von rivalisierenden Formationen unterscheiden will, in starke Versuchung kommen kann, sich der messianischen Thematik zu bedienen: Sie kann als Anschlussdiskurs, als Interpretationswerkzeug oder als Gründungsgeschichte dienen, mit einer beträchtlichen Wirkung“ [20].
Das trifft in Bezug auf den IS sehr wohl zu, diese Diskurse erhalten heute in der muslimischen Welt einen direkt politischen Sinn und konkretisieren sich im Krieg im Mittleren Osten. Es ist freilich absurd, zu glauben, dass es im 21. Jahrhundert in Syrien zu grossen Schlachten zwischen den Römern und den vom Mahdî (dem „rechtgeleiteten Imam“) angeführten muslimischen Truppen kommt und dass Jesus auf dem weissen Minarett der Moschee von Damaskus erscheinen wird, um an der Endschlacht gegen Satan teilzunehmen [21]. Aber wenn diese Idee Zehntausende von Kämpfern antreibt, die überzeugt sind, dass sie an einem historischen revolutionären Bruch teilnehmen, der eine neue Ära einleitet, dann wird die Idee zu einer „materiellen Kraft“. Sie zu verstehen bedeutet, ihre gesellschaftlichen Grundlagen zu erfassen, doch auch „die kulturelle, zeitlich-räumliche Distanz“ (Salazar) zu messen, welche uns vom Jihadismus des Kalifats trennt. Als Engels die Bauernkriege im 16. Jahrhundert untersuchte, nahm er die Ideen (die Reformation, die millenaristischen Glaubensformen) als historischen Faktor ernst, ohne zu glauben, dass sie die Welt antreiben. Wir haben Mühe, dem IS die Stirn zu bieten, weil wir die Religion fälschlicherweise für einen Sterbenden halten, der nur noch knapp überlebt.
Prolos, Utopisten und Reaktionäre?
„Die Wirklichkeit der Demokratie ist mir dann klar erschienen: Es geht darum, im Geist der Leute die Idee der Freiheit zu unterhalten und sie davon zu überzeugen, dass sie ein freies Volk sind, gleichzeitig stehen die people und eine falsche Realität im Vordergrund, um sie davon abzulenken, was wirklich geschieht, wodurch unter den Abendländern eine haarsträubende politische Ignoranz genährt wird.“Jake Bilardi, australischer Jihadist [22].
Die ausländischen Jihadisten sind auf den Titelseiten der Zeitungen im Westen und im Kalifat. Wie viele sind es? Man weiss es nicht, mehrere Tausende auf jeden Fall, vielleicht zwischen 15'000 und 30'000, die aus fast hundert Ländern gekommen sind, um sich dem IS anzuschliessen [23]. Die Hälfte kommt aus dem Mittleren Osten (Saudis, Türken, Jordanier usw.) und aus dem Maghreb (hauptsächlich Tunesier), mehrere Tausend aus der EU (davon 60% aus Frankreich, Grossbritannien und Deutschland). Davon sind 1'500 bis 2'000 Franzosen, wovon viele schon zurückgekommen sind.
Nicht alle, die sich dem Kalifat anschliessen, tun dies, um sich in seiner Armee zu engagieren (30'000 bis 100'000 Mann). Die Frauen in erster Linie (10% aller Freiwilligen, siehe weiter unten), sie sind von der Front ausgeschlossen. Doch der IS hat alle Muslime zur hijra (Einwanderung, Hedschra) aufgerufen, besonders die Kader, Ingenieure, Lehrer usw. Wenn sie ankommen, bekommen die Freiwilligen eine Aufgabe, die ihren Kompetenzen und den Notwendigkeiten des Moments entspricht. Einige begnügen sich jedoch damit, dem Aufruf zu folgen, im Land des Islams zu leben: Franzosen haben z.B. in Raqqa zwei Restaurants eröffnet.
Wir werden das Ausmass des Phänomens nicht mit Abenteuerlust oder Faszination für Gewalt erklären: Diese Motive existieren, betreffen allerdings nicht spezifisch den IS. Wir werden nicht mehr davon verstehen, indem wir es der Unwissenheit, der Pathologie, der Kindheit, den Familienproblemen oder der mentalen Manipulation via Internet zuschreiben, Erklärungen, die v.a. den Spezialisten für „Entradikalisierung“ von jihadistischen Teenagern als Broterwerb dienen [24]. Es gibt kein typisches Profil des Jihadisten, doch man kann sie in zwei Gruppen aufteilen:
Die erste besteht aus jungen Proletariern, die hauptsächlich der Einwanderung aus dem Maghreb entstammen und in den Vorstädten aufgewachsen sind. Es handelt sich v.a. um Männer, die älter als 20 Jahre sind. Es ist ein Profil des Jihadisten, das die „Spezialisten“ als klassisch betrachten, ähnlich jenem, das in den 1990er Jahren existierte. Die Figur des kleinen Gangsterbosses, der mit Shit dealte und sich im Gefängnis radikalisiert hat, existiert, ist jedoch nicht die Regel.
Die zweite (wachsende) Gruppe bringt Jugendliche aus den (gar höheren) Mittelklassen zusammen, davon viele Teenager und Jugendliche (30 bis 40%) und Mädchen (30%). Dieses Phänomen ist scheinbar sehr fühlbar in Europa seit 2013, jene Periode, wo sich die Situation in Syrien stark verschlechtert und u.a. der IS auftaucht.
Obwohl sie voller Hass für die Gesellschaft, orientierungslos oder auf der Sinnsuche sind, versteht man kaum, wieso diese Jugendlichen von einem Land angezogen sind, wo man seine Zeit damit verbringt, armen Leuten die Kehle durchzuschneiden und sie zu köpfen. Vielleicht weil die Hinrichtungen und die Grausamkeiten, die von den Mainstream-Medien reichlich verbreitet werden, nur 2% der vom Kommunikationssektor des Kalifats im Internet verbreiteten Bildern repräsentieren [25].
Suche nach Gerechtigkeit
Das, was die soziale Kontrolle und die Polizei „Radikalisierung“ nennen, entsteht in der Regel aus einem tiefen Gefühl der sozialen Ungerechtigkeit und einer Bewusstwerdung: z.B. der Machtverhältnisse „Herrscher/Beherrschte“ in dieser Gesellschaft (aber nicht ihres Klassencharakters), des „Systems“, der Gewalt, welche die syrischen und palästinensischen Bevölkerungen unter dem passiven Blick der Abendländer erdulden müssen usw.Zu diesem Zeitpunkt muss man sich fragen, warum die Antworten der Anarchistischen Föderation (einfaches Beispiel) sich nicht aufdrängen. Die schwache Verbreitung des Monde libertaire ist wahrscheinlich nicht der einzige Grund dafür.
Die Antworten des IS sind nicht nur radikal bezüglich ihrer Stigmatisierung des dekadenten Westens, der korrupten Golfstaaten und des Zionismus, sie stützen sich auch auf eine konkrete Praxis und die Möglichkeit unmittelbarer Lösungen: Das Kalifat präsentiert sich als militärische Festung gegen die Grausamkeiten des Assad-Regimes, als Beistand für die Bevölkerungen (soziale Verbesserungen, Spitäler, Waisenhäuser usw.) und als ein Werkzeug des göttlichen Willens, dem man sich nur anschliessen muss, um die Welt zu verändern. Und falls nötig wird das Flugticket bezahlt.
Religion des Bruches
Die Konversion zum Islam ist eine obligatorische Etappe, die alle Jihadisten aus dem Westen charakterisiert. Unter ihnen sind viele „Biofranzosen“ (25 bis 30%), die nicht in der muslimischen „Kultur“ aufgewachsen sind. Jene, welche darin aufgewachsen sind, betrachten sich in der Regel auch als Konvertiten: Es sind die born again, jene, welche zurück zum Islam finden [26].Der Islam füllt, wie man sagt, die „metaphysische Leere“, die typisch ist für unsere Gesellschaften, jene einer Jugend auf der Suche nach einer Identität und Rückhalt und es ist in allen Fällen ein Bruch. In erster Linie mit dem dekadenten Westen; einige Autoren sprechen sogar von einer Jugend, welche „die Ideale vom Anti-Mai-68 verkörpert“ [27], phasengleich mit den angesagten reaktionären Autoren und sie sind, wie die jungen Demonstranten der Demonstration für alle, gegen die Lockerung der Normen, die Auflösung der Autorität, die Patchworkfamilie usw. Es ist jedoch auch ein Bruch mit dem ursprünglichen Milieu und der Familie, denn der marokkanische, genau wie der algerische oder der französische Islam ist nicht „der richtige“, während jener des Kalifats als am nächsten bei den Schriften präsentiert wird.
Man versucht in der Regel, die Jihadisten lächerlich zu machen, indem man sich über die Schnelligkeit ihrer Konversion und ihre geringen religiösen Kenntnisse lustig macht (aber wie viele Katholiken könnten die heilige Dreieinigkeit erklären?) Der Islam ist allerdings eine Religion, in welcher die Konversion besonders leicht ist; um Muslim zu werden, genügt es, die chahada auszusprechen und dann die fünf Säulen zu respektieren. Danach steht es dem Gläubigen frei, sein ganzes Leben dem Studium der Schriften zu widmen.
Antirassismus
Der IS trägt einen antirassistischen Diskurs zur Schau (auch hier mit einer Verurteilung des Westens): Seine Kämpfer sind Teil einer „multiethnischen Armee“ und seine Medien legen Wert darauf, Bilder von Jihadisten mit verschiedenen Hautfarben zu zeigen. Das Kalifat fühlt sich berufen, die Gemeinschaft der Gläubigen zusammenzubringen, auch Ethnien, die bis anhin seine Gegner waren oder sich anderswo gegenseitig bekämpfen. So kämpfen etliche Kurden in seiner Armee: Sie sollen während der Schlacht von Kobanê 50% seiner Truppen ausgemacht haben [28]. Mindestens einer der sieben Anführer des IS ist ein irakischer Turkmene.Populismus
Die Freiwilligen sind auch empfänglich für den Aufruf des Kalifats zur Revolte. Jene der Guten (die Ausgeschlossenen, die Opfer, jene von unten, welche Widerstand leisten und sich engagieren) gegen die Bösen (die Reichen, die Korrupten, die „Verdorbenen“, die Eliten, die Intellektuellen, die Presse). Die Klassenspaltungen sind hier ziemlich egal, alles ist eine Frage der zu treffenden Entscheidung, sich dem Lager des Guten, jenem des IS anzuschliessen.„Der Jihadismus des Kalifats enthält alle Attribute eines starken Populismus, der Revolutionen herbeiführt. […] Die Tatsache, dass dieses ‚Volk' religiös normiert wird, ändert nichts am Prozess. Es wird Zeit, dass man dies erkennt, denn es zeichnet sich eine Bewegung der populistischen Wiederverzauberung der Welt ab. Eine Häufung von spontanen und Gruppenhandlungen verursacht langsam eine Bewegung des kollektiven Bewusstseins. Und diese wachsende Bewegung wird zur konstitutiven Logik des ‚wahren, guten Volkes', ein brutales Auftauchen des ‚Volkes', das eine unwiderstehliche politische Form annimmt und sich gegen die designierten Feinde durch eine radikale Feindschaft manifestiert.“ [29]
Die Figur des „negativen Helden“
Man hat das jihadistische Engagement mit anderen bewaffneten Mobilisierungen von Aktivisten verglichen [30]. Der Vergleich ist nicht nur falsch, weil eine Sache gut wäre (gegen den Faschismus und für die Revolution zu kämpfen) und eine andere schlecht (eine Religion durch Zwang in der Welt zu verbreiten). Die vom Jihad gebotene „romantische Exotik“ unterscheidet sich stark von ihren linken und auf die Dritte Welt bezogenen Präzedenzfällen. Das 21. Jahrhundert fällt zeitlich mit der Entstehung einer der ersten Generationen zusammen, die glaubt, dass die Zukunft nicht besser sein wird als die Gegenwart, wahrscheinlich eher schlimmer, und dass die Politik daran nichts ändern kann. Wenn sich jegliches kollektives politisches Projekt verflüchtigt, das Träger von Hoffnung ist, ist die Bühne frei für den schwarzen Helden (die Farbe der Piraten, der Anarchisten, der Faschisten und der Jihadisten), den Extremisten, der die Gesellschaft in Angst und Schrecken versetzt, eine absolut hassenswerte Figur. Und somit besonders faszinierend.Ein Kalifatsfeminismus?
„Wenn man sich im absoluten Gegensatz zur westlichen Kultur platzieren will, ist die Hausfrau eine alternative Figur.“ [31]Es gibt keine kompetente feministische Autorität, um zu beurteilen, ob der Islamische Staat feministisch ist oder nicht. Das mag überraschend erscheinen, doch die Frage quält zweifelsohne die Spezialisten und Journalisten, die sich für die Frage der jihadistischen Frauen interessieren und das Wort Feminismus ist stets präsent in ihren Texten, er wird verschieden charakterisiert: „Kalifats-“, „Pseudo-“, „fehlgeleitet“, „verdreht“, „Post-“, „Anti-“ usw. Die jüngsten sprechen gar von einem Jihad Version girl power.
Der „islamische Feminismus“ ist in den 1990er Jahren entstanden. Die Aktivistinnen, die sich auf ihn berufen, entnehmen ihre Inspiration und ihre Rechtfertigungen den Suren des Korans, die gemäss ihnen eine Botschaft der Gleichheit und der Gerechtigkeit offenbaren. Die vorislamische Periode, die Jahiliya, eine Ära der Unordnung und der Ignoranz, sei in Arabien durch Laxheit, Promiskuität und eine unkontrollierte Sexualität charakterisiert gewesen. Der Islam bereitet dem ein Ende, indem er im Koran die Fragen der Heirat, der Abstammung, des Erbes usw. genau kodifiziert oder indem er gebräuchliche Praktiken (wie die Polygamie) juristisch umrahmt und begrenzt. Die Kontrolle über die Frauen und ihre Sexualität, die sich daraus ergeben hat, wird also historisch als Synonym für Ordnung, Ausgeglichenheit und Frieden wahrgenommen [32]. Es handle sich hier um einen grossen Fortschritt für die Frauen, der erklärt, warum Mohammed als „eine der grössten universellen Figuren des Feminismus“ [33] betrachtet werden kann.
Der IS charakterisiert sich nicht auf diese Art und Weise und beruft sich nicht auf den „islamischen Feminismus“, doch auch er sucht die Antworten auf die „Frauenfrage“ im Koran und in den Hadithe. Das Kalifat kann gegen die Frauen agieren und gleichzeitig so tun, als ob er sie im Zentrum der Gesellschaft platzierte und sie beschützte.
Sie beschützen? Und die ermordeten, vergewaltigten und versklavten schiitischen, christlichen und jesidischen Frauen? [Siehe den ersten Teil.] Sie verdienen dieses Schicksal, weil sie in der Logik des IS juristisch nicht in die Kategorie „Frauen“ gehören, dazu gehören nur muslimische Frauen. Diese Sichtweise wird natürlich von den Aktivisten und Aktivistinnen des Kalifats geteilt, die motiviertesten letzterer sind die ausländischen Jihadistinnen [34].
„Aktivistinnen“ und „motiviert“, weil ihr Engagement eine ernste Sache ist. Auch hier tendiert der westliche Diskurs eher dazu, sie als Opfer einer niederträchtigen Einreihung, der Manipulation oder der Geisteskrankheit zu betrachten; viel mehr als die Männer, da viel weniger fähig, diese Art von Entscheidung zu treffen. Und zudem kann sich, gemäss einer immer noch sehr verbreiteten, essentialistischen Sichtweise, „die Frau“, die das Leben schenkt, nicht dem Lager des Bösen und des Todes anschliessen. Doch man kann sich beruhigen, der IS hat ähnliche Standpunkte.
Die Frauen repräsentieren 10% der ausländischen Freiwilligen. Unter ihnen sind mehrere Hundert Abendländerinnen, wovon viele Französinnen oder Britinnen sind, die meisten davon jung (häufig zwischen 15 und 25 Jahren), in der Regel gebildeter als ihre männlichen Kollegen und entstammen häufiger den Mittelklassen. Für einige ist diese Entscheidung eine Art Emanzipation (oder zumindest eine Flucht) gegenüber dem familiären und kulturellen Herkunftsmilieu, zumindest ein Akt der Autonomie und der Übernahme von Verantwortung, der „flagrant mit der ‚kulturellen Strategie' eines in Europa eingebürgerten Islams kontrastiert, der allen voran den Mann privilegiert“ [35].
Ihre Motivationen ähneln jenen der Männer: ein Gefühl der Ungerechtigkeit in Anbetracht des Leides des syrischen Volkes, eine Revolte gegen die von den Musliminnen im Westen erduldeten Diskriminierungen, der Wunsch, konkret zu helfen (eher humanitär als militärisch), aber auch die Lust, ihre Religion frei zu leben (Ganzkörperschleier, komplette Geschlechtertrennung usw.).
Obwohl eine sehr mediatisierte Handvoll von ihnen für die Polizei von Raqqa arbeitet, ist die Hauptfunktion der Frauen im Kalifat alles andere als sekundär: Ehefrauen und Mütter zu sein. Für diese Frauen, die nicht mit der AK47 an der Front stehen können, ist das eine Form des Jihad: „Es gibt für sie keine grössere Verantwortung als jene, die Frau ihres Mannes zu sein“ und „die Grösse ihrer Stellung, das Ziel ihrer Existenz ist die göttliche Aufgabe der Mutterschaft“ [36].
Die in unseren Gesellschaften eher abgewertete traditionelle Rolle der Mutter/Hausfrau wird vom Kalifat als jene „einer revolutionären Akteurin einer radikal alternativen Gesellschaft“ [37] präsentiert.
Hinzu kommt diese merkwürdige „Verlockung der Abhängigkeit“ [38], diese beruhigende Unterwerfung. Doch jene der Ehefrau unter den Mann sei nur relativ, formell, denn beide sind direkt Gott unterworfen (Colette Guillaumin würde vielleicht von „göttlicher Aneignung“ sprechen). Die Wahl des Ehemannes ist jedoch nicht bedeutungslos, man überquert Kontinente, um ihn zu finden. Wir sprechen nicht von einem besonderen Individuum, sondern vom idealen Mann. Er existiert, er riskiert sein Leben im Namen Gottes auf dem Schlachtfeld, es ist der Jihadist: ein frommer, ehrlicher, aufrichtiger, treuer, mutiger, starker, viriler und beschützender Mann, der an die Ehe und die Familie glaubt [39]. Ein Mann der, das wissen die Leser von Soral und Zemmour sehr gut, in Frankreich nicht mehr existiert. Hunderte von jungen Frauen gehen nach Syrien, um einen solchen Mann zu heiraten und mit ihm eine Familie zu gründen. Das ist ihre Hauptaufgabe [40]. In den Städten des Kalifats sind gar Ehevermittlungsagenturen eröffnet worden, um die Eheschliessungen zwischen Jihadisten, aber auch zwischen Einheimischen zu erleichtern.
Die Schreiberlinge des IS stimmen mit den reaktionären Autoren in Frankreich [41] überein in ihrer Proklamation des „Scheiterns des westlichen Frauenmodells“ [42], dem sie vorwerfen, dass es weder die Frauen (die dazu gezwungen werden, mit Männern in Kontakt zu kommen, denen erlaubt wird, nackt zu sein, aber nicht, einen Nikab zu tragen) noch die Familie (Ehe für Homosexuelle, Abtreibung) respektiert. Ausgehend von einer Feststellung, die von radikalen Feministinnen geteilt werden könnte, nämlich jene einer falschen Gleichheit, die umso perverser ist, weil sie den Frauen einreden will, dass sie frei sind, geht der IS zu einem Diskurs über, der eine Logik der Unterscheidung und eine wirkliche Komplementarität der Geschlechter unterstützt.
Es ist nicht einfach, die in sozialen Netzwerken zum Vorschein kommende „Subkultur der jihadistischen girl power“ oder „das empowerment auf jihadistisch“ [43] vom Tisch zu wischen. Der Feminismus hat im Westen einen Teil seines Programms verwirklicht, er wird häufig verzerrt dargestellt, ist jedoch konsensuell geworden, seine Errungenschaften sind selbstverständlich, die Gleichheit zwischen Männern und Frauen wird überall verkündet, die „Gender-Theorie“ wird in der Schule gelehrt – die Ungleichheiten bestehen allerdings fort. Diese Widersprüche sind ein gefundenes Fressen für den extremen Islam und geben ihm ein nonkonformistisches Flair.
Indem es der Ehe seiner Aktivisten und ihrer Familie (wir haben im ersten Teil gesehen, dass es verschiedene Prämien und Zuschüsse eingeführt hat) eine derartig grosse Bedeutung beimisst, verankert das Kalifat sein Projekt entschlossen in der Zukunft. Es geht darum, die Hervorbringung von künftigen Kämpfern und Proletariern zu garantieren (die Pille ist auf seinem Territorium natürlich verboten). Die jihadistischen Frauen, eine Art Avantgarde, spielen also eine gewürdigte Rolle und sind besonders respektiert und beschützt.
„Besonders kontrolliert, wollt ihr sagen! Das ist alles nur patriarchalischer Diskurs und Heuchelei!“ Zweifellos, doch die Ideologie des Kalifats ist so und, egal, was man davon hält, funktioniert.
Die zunehmende Beteiligung der jihadistischen Frauen ist dennoch eine Quelle der Besorgnis für die jihadistischen Männer, denn die weibliche Initiative frischt in ihren Gedächtnissen stets die Konflikte der Jahiliya [44] auf. Olivier Roy spricht diesbezüglich in Bezug auf den syrischen Jihad von einer „widersprüchlichen Modernisierung“.
Ein Kalifat gegen die Globalisierung?
„Im Gegensatz zur „alten“, pyramidalen, geheimen, autoritären, transnationalen Al Qaida sieht sich Daesch als modern, offen, verwurzelt und urban.“ [45]Was sofort auffällt, wenn man sich mit dem Kalifat befasst, sind die Zentralität der Religion, die übertriebene Gewalt und die offene Intoleranz. All das verbunden mit der totalitären Absicht einer gesellschaftlichen Harmonie und der Suche nach einem inneren Ausgleich [46].
Ausserhalb ihres Zusammenhangs erzeugen einige Projekte und Praktiken des Kalifats allerdings ein unerwartetes Echo. Sein Programm enthält nämlich den Kampf gegen die Korruption und die Finanzspekulation (Verbot des Wuchers), die Schaffung einer alternativen Währung (Geldstücke aus Gold, Silber und Kupfer, eine Anspielung auf die abbasidischen Dinaren und Dirhams, d.h. eine „echte“ Währung, um sich dem herrschenden Währungssystem zu entziehen), die Aufwertung des öffentlichen Dienstes, die Dezentralisierung der Macht durch die regionale Autonomie, die Ablehnung der parlamentarischen Demokratie (und der Demokratie „an und für sich“, der IS verteidigt eine Art „organischen Zentralismus“ unter göttlicher Herrschaft), die Abschaffung der Grenzen, der Kampf gegen den Rassismus, ohne die Ablehnung des ungezügelten Konsums und der Unterwerfung unter die Marken zu vergessen.
Ein Diskurs, der von den Globalisierungsgegnern kommen könnte, wenn er sich auf Le Monde diplomatique und den Subcommandante Marcos, statt auf den Koran und den Kalifen Ibrahim beziehen würde. Ja, der IS sieht sich als mittelalterlich, aber modern, „egalitär, universell und multiethnisch“ [47].
Haben die Worte hier noch einen Sinn? Nicht mehr oder weniger als anderswo. Der IS verfolgt offensichtlich weder praktisch noch theoretisch eine Kritik des Kapitalismus, er (und durch ihn ein Teil der lokalen Bourgeoisie) versucht, gewisse, ihm am wenigsten erlaubt, am störendsten scheinende Aspekte zu verändern, andere werden angepasst. Obwohl gewisse Praktiken extrem sind, tönen die Diskurse häufig sehr inhaltslos. Und obwohl man darin vertrautere Reime entdeckt, handelt es sich nicht dermassen um eine „Vereinnahmung“, sondern um eine Nivellierung nach unten, was nicht neu ist: Die extreme Rechte verurteilt auch schon lange die Auswüchse und Exzesse des Kapitalismus. Finanzkapitalismus, versteht sich [48]. Er ist die Quelle allen Übels, umso mehr als man leicht einige Dosen Verschwörungstheorien und Antisemitismus beifügen kann. Klassenverhältnisse, Ausbeutung, Mehrwert und andere alte Zöpfe verschwinden also in der Versenkung, was das Vokabular einfacher macht und alle sind einverstanden. Doch um zu existieren, muss der IS das „Gesellschaftliche“ in den Mittelpunkt seiner Rede stellen.
Dem westlich inspirierten, liberalen Mondialismus, der den Planeten beherrscht, setzt der IS eine weltweite Alternative entgegen, einen anderen Mondialismus, der offen die Zerstörung der lokalen Besonderheiten auf seine Fahnen schreibt, allen voran innerhalb des Islams, wo er die mystischen (Sufismus) oder magisch-medizinischen (Marabutismus) Praktiken bekämpft.
Auf diesem Terrain steht er in Konkurrenz mit der wahhabitischen Ideologie, die weltweit von der saudischen Monarchie verbreitet wird. Der salafistische Universalismus des Kalifats ist dennoch anders, subversiv, zwar nicht links, doch zumindest populistisch (er verträgt sich ziemlich gut mit der ehemaligen sozialistischen Färbung der Baath-Partei) und es ist für ihn ein leichtes Spiel, die Saudis als Apostaten, Korrupte und Verbündete der USA zu qualifizieren.
Um seinen anderen Konkurrenten, die nebulöse Al Qaida mit ihren Versprechen einer strahlenden Zukunft zu überholen, hat der IS den Vorteil der durch den Aufbau einer konkreten „Utopie“ auf dem Terrain repräsentierten Anziehungskraft. Denn, obwohl die Aktivisten an ein Jenseits glauben, möchten sie nicht bis morgen warten, um eine bessere Welt aufzubauen, und ziehen es vor, schon heute in Übereinstimmung mit ihrem Glauben zu leben. Indem sie das Kalifat aufbauen, beweisen sie, dass es möglich ist, hier und jetzt zu handeln, um die Welt zu verändern.
Welche Veränderung? Die Versprechen einer leuchtenden Zukunft haben keinen grossen Erfolg mehr, die Parole des Kalifats ist „Rückwärts immer, vorwärts nimmer!“ Im Islamischen Staat sind die neuen Reaktionäre genau wie in Frankreich nicht (nur) Intellektuelle, sondern auch entpolitisierte Aktivisten, die Werte, eine Ethik verteidigen: born again Salafisten, Demonstration für alle, Verteidigung der Familie, der Traditionen, eines Territoriums, des Bodens usw. Wenn der Einbruch des Kapitalismus die Wurzel aller Übel, aber zum Ende der Geschichte geworden ist, was tun, wenn nicht in die Zeit „davor“ zurückkehren und in diesem Fall, weshalb nicht ins Mittelalter? Wenn schon, dann ein Goldenes Zeitalter.
Für seine Aktivisten ist das Kalifat die Dawla. Der Begriff wird gemeinhin mit Staat übersetzt, doch er bedeutet auch „die Idee der Revolution, d.h. die Umwälzung der Welt hin zur Frömmigkeit und zum Gesetz Gottes“ [49]. Revolution oder Wiederaufbau einer alten Ordnung? Im ersten Teil übernahmen wir die berühmte Formel aus dem Gattopardo „Wenn wir wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, dann ist es nötig, dass sich alles verändert“ […]. Der IS bietet eine präkapitalistische Identität an, das Ideal des Arabiens des 7. Jahrhunderts, ein Händler- und Kriegerideal, eine magische Formel, um dem Leben einer verlorenen, unter die Werte der Modernität unterworfenen Jugend neuen Sinn zu geben: Individualismus, Materialismus, Konsum und Hedonismus [50].
Trotz seinem Separatismus und seiner Masslosigkeit ist der Diskurs des Kalifats allerdings, genau wie der vernünftigere Alternativismus, an den wir uns gewöhnt sind, ein Diskurs, der vom herrschenden System hervorgebracht wird, und sein Projekt eine Alternative innerhalb des Bestehenden. Das Kalifat kann nur überleben, wenn es wirtschaftlich mit dem Rest der kapitalistischen Welt verbunden ist. Die Vorliebe der Jihadisten für Sklaven bringt sie trotzdem nicht dazu, eine „auf der Sklaverei basierende Produktionsweise“ (wieder)aufzubauen, und die Lohnarbeit herrscht in Mosul genau wie in Mailand. Als Tagtraum und neue Phase eines Albtraums kann diese gigantische, reaktionäre ZAD rund um den Tigris und den Euphrat nur als monströse Variante einer kapitalistischen Weltordnung verstanden und bekämpft werden, dessen Feind sie vorgibt zu sein.
Angesichts der Ungewissheit
„Im Islam gibt es keinen Kommunismus.“Fatwa der Universität Al-Azhar, 1948.
Als Hoffnung für einige, Schrecken für viele andere ist der IS nicht Russland 1919 und das Spiel hat sowieso schlecht begonnen für einen Staat, der nicht den Vorteil der unendlichen Weite oder der Entfernung eines Territoriums hat, wo er seine „Utopie“ aufbauen kann. Der relative Eintritt der Türkei in die internationale Koalition gegen Daesch verändert die Ausgangslage, indem er die vitalen Warenflüsse stört oder blockiert. Die Zeit läuft in diesen letzten Jahren besonders schnell und das Kalifat steht wohl nicht vor seinen sieben fetten Jahren. Falls es nicht zu einer grossen historischen Überraschung wie dem Zusammenbruch der syrischen Armee, gefolgt vom Fall von Damaskus und der Destabilisierung Libanons, Jordaniens oder Saudi-Arabiens [51] kommt, ist das mittelfristige Überleben dieses Staats nicht sehr wahrscheinlich.
Tatsächlich hat der IS seine Macht, sein Prestige und seine Finanzen seinen kriegerischen Eroberungen zu verdanken. Die Stagnierung an den Fronten, die taktischen Rückzüge und die unaufhörlichen Bombenangriffe werden gleichbedeutend mit seiner Niederlage sein.
Nach einer langen Phase des containment haben die Abendländer scheinbar entschieden, zum rollback des IS überzugehen. Ihre Strategie war bis anhin vorsichtig, sie bestand darin, das Leben für die lokale Bevölkerung schwieriger zu machen: Ab dem Sommer 2014 befanden sich Kraftwerke, Mühlen und Getreidesilos unter den ersten Zielen der amerikanischen Luftwaffe. Die Vervielfachung dieser Luftangriffe ab dem Herbst 2015 und das Vorrücken der kurdischen und schiitischen Truppen haben zu einer Abwanderung der Bevölkerung innerhalb des Territoriums des Kalifats geführt, seine Verwaltung muss sich mit dem Verlust von Einnahmen und der Verwaltung der Flüchtlinge abfinden. Das medizinische Material wird immer seltener (der IS hat einen Operationstrakt als Lösegeld für eine Geisel verlangt [52]), der Nachschub immer schwieriger, die Steuern steigen und müssen im Voraus bezahlt werden usw. [53]. Die Schwierigkeiten an der Front zwingt die Behörden dazu, in gewissen Gebieten auf den Militärdienst zurückzugreifen, was Desertionen von Einberufenen zur Folge hat.
In Tat und Wahrheit ist es der Prozess der Normalisierung und der Staatsbildung, den wir im ersten Teil zu skizzieren versucht haben, der gefährdet ist. Das Kalifat wird somit eine Verminderung seiner „sozialen“ Fähigkeiten erdulden müssen, welche seine Stärke ausmachen; es wird sie nur mit Steuererhöhungen und vermehrter Repression kompensieren können, was zu einer Meinungsänderung eines Teils der Bevölkerung und gewisser Stammesführer führen wird. Es besteht dann das Risiko, dass die Meinungsverschiedenheiten wieder zutage treten (z.B. zwischen lokalen Notabeln und ausländischen Jihadisten).
Die westliche Strategie ist nicht sehr rücksichtsvoll, aber sie zahlt sich wahrscheinlich aus. Ausser sie hat, zusammen mit den zivilen Opfern der Bombenangriffe und dem Vorrücken der kurdischen und schiitischen Truppen, das Gegenteil zur Folge und schweisst die Einwohner hinter dem Kalifat zusammen. Die Chancen, dass sie von den Vorteilen der Demokratie und der Laizität überzeugt werden, sind hingegen ziemlich gering. Genau wie jene eines erneuten dauerhaften Friedens in der Region. Obwohl zum Tode verurteilt, wird das Kalifat wahrscheinlich langsam sterben (und vielleicht in wahrscheinlich anderer Gestalt auf anderen Kontinenten fortbestehen). Was die ausländischen Freiwilligen betrifft, scheinen sie durch das Spektakel nicht entradikalisiert zu werden...
Als utopisches Projekt zum Aufbau eines Staates auf komplett neuen Grundlagen bedeutet der IS weniger eine Radikalisierung als die Islamisierung einer Revolte, als Echo auf eine aktive Konfessionalisierung mehr oder weniger überall, von der konservativen amerikanischen Rechten bis in die französischen Vorstädte. Seine Gewalt hat nicht viel mit einem dem Islam eigenen Extremismus zu tun, sondern eher mit der Tatsache, dass sich der religiöse Fanatismus in einem Kontext des Bürgerkrieges und der ausländischen Interventionen entfesselt.
Es wäre sehr schade – und schädlich – wenn der soziale Protest in nächster Zeit jene Formen annähme, welche der IS heute skizziert. Hoffen wir, dass das nur ein schlechter Entwurf ist, der im Papierkorb landet. Jede Epoche sondert eine Art der Konterrevolution ab, die ihr eigen ist. In der Regel zerquetscht sie die Revolte der proletarischen Massen und leitet sie um, ausser sie drückt die Grenzen der Bewegung selbst aus. Am Anfang dieses 21. Jahrhunderts muss man anerkennen, das die konterrevolutionären Formen auf dramatische Art und Weise präventiv sind.
Was wird dabei herauskommen? Vergeltungsmassnahmen, neue Massaker, neue autoritäre Regime, Hass, Groll usw.
Unter dem Vorwand, dass wir uns dem Ende des Artikels nähern, werden wir nicht einem zweckmässigen Optimismus nachgeben, der uns auferlegen würde, zum Schluss zu kommen, dass die Revolution trotz allem unvermeidlich ist. Einige Gewissheiten, freilich. Der Zusammenbruch des Kalifats wird keine der Ursachen beseitigen, welche sein Auftauchen und seinen Erfolg begünstigt haben. Die Lösung wird nicht nur im Mittleren Osten skizziert werden. Eine Kriegsperiode ist abscheulich, umso mehr, wenn es ein konfessioneller Bürgerkrieg ist, und in der Regel kaum vorteilhaft für das Proletariat. Doch es ist auch eine Periode grosser Ungewissheit, die manchmal die tiefen, die Gesellschaft strukturierenden Verhältnisse nur sehr schlecht kaschiert…