UB-Logo Online MagazinUntergrund-Blättle

Israel und die Hamas innerhalb der imperialistischen Weltordnung (Teil 1)

8214

Ein Angriff, ein Staatsgründungsprojekt und eine einfache Frage Israel und die Hamas innerhalb der imperialistischen Weltordnung (Teil 1)

earth-europe-677583-70

Politik

"We've decided to say enough is enough.This is the day tof the gratest batttle to end the last occupation and the last apartheid regime on earth." (Mohammed Deif, 7.10.2023) [1]

Israelische Soldaten im Gaza Streifen am 13. Februar 2024.
Mehr Artikel
Mehr Artikel
Bild vergrössern

Israelische Soldaten im Gaza Streifen am 13. Februar 2024. Foto: IDF Spokesperson's Unit (CC-BY-SA 3.0 cropped)

Datum 15. Februar 2024
6
2
Lesezeit7 min.
DruckenDrucken
KorrekturKorrektur
Am 7. Oktober, dem 50. Jahrestag des Jom-Kippur-Krieges, startete die "islamische Widerstandsbewegung Hamas" unter dem Titel "Al-Aqsa-Flut" ihren vielleicht letzten Angriff auf Israel und Israels Selbstverständnis als Nation, die jederzeit in der Lage sei, Territorium und Bewohnerschaft vor fremder, insbesondere vor terroristischer Gewalt zu schützen. Es gelingt der Islamischen Widerstandsbewegung Hamas, mit ihren Raketen den berühmten israelischen Raketenabwehrschirm "Iron Dome" zu überfordern, den Grenzzaun zwischen dem Gazastreifen und Israel zu überwinden, auf israelisches Territorium vorzudringen, etwa 1.200 israelische Staatsbürger zu töten, 4000 Menschen zu verletzen; und darüber hinaus über 200 Menschen als Geiseln gleich welchen Alters, Geschlechts oder Nationalität gefangen zu nehmen und in den Gazastreifen zu verschleppen. Im Zuge dieses Angriffs veranstaltete die islamische Widerstandsbewegung Hamas ein Blutbad, ein Massaker unter unbewaffneten und wehrlosen Zivilisten.

Den unmittelbaren Grund für diese kriegerische Gewaltaktion hat die Islamische Widerstandsbewegung Hamas noch am selben Tag der Region vor Ort und der Weltöffentlichkeit mitgeteilt: Der letzten Besatzungsmacht und dem letzten Apartheitsregime auf dieser Welt soll ein Ende bereitet werden (Mohammed Deif). in Erinnerung rufen und geltend machen will die Hamas mit dieser "gratest battle" den gleichsam uralten palästinensischen Anspruch auf einen eigenen palästinensischen Staat:

"Palestine symbolises the resistance that shall continue until liberation is accomplished, until the return is ful?lled and until a fully sovereign state is established with Jerusalem as its capital." (Hamas-Charta, 2 May 2017) [2]

Diese kriegerische Gewaltaktion hat mit dem angestellten Massaker und der Geiselnahme für die politische Führung Israels und für die westliche Wertegemeinschaft einen ungeahnten, einen vorteilhaften Nutzen entfaltet, mit dem die Hamas so nicht gerechnet hat: Unter Fingerzeig auf das angerichtetes Massaker und die Geiselnahme entfacht und entfesselt die westliche Wertegemeinschaft die Proklamation und den Einsatz des Bildes eines beispiellosen, eines gleichsam biblisch-schicksalhaften Kampfes des absolut Guten gegen das absolut Böse:

"This will be a victory of good over evil, of light over darkness, of life over death...Israel is fighting not only its war, but a war for all of humanity – the war of humanity against barbarism." (Netanyahu, 28.10.2023) [3]

Diesem dramatischen Bild nach, ist die islamische Widerstandsbewegung Hamas nichts als eine reine "Terror"-Organisation und die am 7. Oktober angewendete Gewalttat als Emanation eines durch und durch bösen Geistes, eines luziferischen Willens zu betrachten, dem es in seiner Vernichtungswut und Vernichtungslust um nichts, als eben um die Vernichtung geht. Hier um die Vernichtung Israels. Die in die westliche Wertegemeinschaft eingemeindeten Bevölkerungen werden politisch und massenmedial seit dem 7. Oktober 2023 dementsprechend in einer Rund-um-die-Uhr-Betreuung bedient mit der Auskunft, die Hamas ist eine Terrororganisation und die Kämpfer sind eben Terroristen. Dieses "Wissen" genügt denn auch und dient als moralischer Kompass, um an dieser linientreuen Orientierung entlang das dem 7. Oktober folgende Geschehen wunschgemäss nach Gut und Böse zu sortieren. Gemäss der in der westlichen imperialistischen Wertegemeinschaft grundsätzlich anerkannten Vorgabe:

This is a struggle between the children of light and the children of darkness, between humanity and the law of the jungle. (Netanyahu, 16.10.2023) [4]

We are raining down hellfire on Hamas...against the bloodthirsty monsters who have risen up to destroy us. (Netanyahu, 25.10.2023) [5]

Moralisch-ethisch vollkommen inakzeptabel, so gut wie undenkbar, unvorstellbar, ist in der Sichtweise der westlichen Wertegemeinschaft der Versuch des israelischen Journalisten und Mitherausgebers der israelischen Tageszeitung "Haaretz" Gideon Levy, eine Kritik der Hamas-Gewalt zu leisten, die gar beinhaltet:

"...sollten wir für einen Moment innehalten und der Hamas zuhören. Es möge uns für einen Moment erlaubt sein, sich in sie hineinzuversetzen, ja vielleicht sogar den Wagemut und die Widerstandskraft zu würdigen von diesem, unserem bittersten Feind." (Gideon Levy, was will die Hamas wirklich?, 15.1.2019) [6]

Einmal die Sichtweise der westlichen Wertegemeinschaft nicht übernommen, ergibt die einfache Frage: Was will die Hamas wirklich?

Der ganz gewöhnliche Staatsidealismus der Hamas

Gemäss den imperialistischen Erfordernissen eines in konkurrierende Nationalstaaten aufgeteilten Planeten, beansprucht hinsichtlich der Elementarausstattung eines modernen Staates die islamische Staatsgründungs-Widerstandsbewegung (Hamas) nach Innen erstens ein souveränes, rein palästinensisches Gewaltmonopol. Auf dieser Grundlage zum Zweiten ein eigenes staatliches Hoheitsgebiet: Ein gegen fremde Ansprüche und Interessen gefestigtes und grenzbefestigtes staatliches Territorium, soll der kommende palästinensische Staat nicht nur über ein Volk ohne Raum gebieten. Denn ein eigenes staatliches Hoheitsgebiet, das ist angesichts des in konkurrierende Nationalstaaten aufgeteilten Globus im Interesse nationaler Selbstbehauptung auch mehr als nötig.

Für die Hamas, wie für alle bisherigen palästinensischen Widerstandsbewegungen und auch für andere Interessierte gilt: " Palästina ist der Nabel der Welt, Schnittpunkt der Kontinente und, von Beginn der Geschichte an, das Objekt zahlreicher Begierlichkeiten. (Hamas-Charta, 18. August 1988, Artikel 34) [7] Palästina als nationale Heimstätte und Heimat des geplanten palästinensischen Staates, da die heutigen Palästinenser Nachfahren der seit jeher dort lebenden indigenen, der autochtonen arabischen Bewohner sind und sich auch als solche verstehen.

Wo sonst sollte der geplante palästinensische Staat seine Heimstätte haben auf einer imperialistisch in lauter Nationalstaaten aufgeteilten und zugerichteten Erdoberfläche? Das Erfordernis eines eigenen staatlichen Hoheitsgebietes mit einer eigenen Hauptstadt - hier Jerusalem - schliesst zum Dritten notwendig ein: die durch das staatliche Gewaltmonopol zu einem spezifisch eigenem Volk zusammengeschweissten oder erschaffenen Menschen, die auf dem zukünftigen staatlichen Territorium vorgefunden oder in ihm eingemeindet werden. Insgesamt: Ein eigenes, palästinensisches Volk, auf diese Weise beseelt mit einer eigenen Identität als lebendige Säule des zukünftigen Staates:

The Palestinian people

4. The Palestinians are the Arabs who lived in Palestine until 1947, irrespective of whether they were expelled from it, or stayed in it; and every person that was born to an Arab Palestinian father after that date, whether inside or outside Palestine, is a Palestinian.

5. The Palestinian identity is authentic and timeless; it is passed from generation to generation. The catastrophes that have befallen the Palestinian people, as a consequence of the Zionist occupation and its policy of displacement, cannot erase the identity of the Palestinian people nor can they negate it. A Palestinian shall not lose his or her national identity or rights by acquiring a second nationality.

6. The Palestinian people are one people, made up of all Palestinians, inside and outside of Palestine, irrespective of their religion, culture or political affiliation. (Hamas-Charta 2017, Art. 4 und 5) Um als "one people", als lebendige Säule des Staates in Palästina als der nationalen Heimstatt aller Palästinenser im Frieden wie im Krieg zu funktionieren und ein neues, ein palästinensisches "Wir" und Wir-Gefühl zu konstituieren, bedarf es allerdings der unbedingten Loyalität zum und der Parteinahme für ein eigenes, palästinensisches, staatliches Gewaltmonopol: des Patriotismus, einschliesslich "Die Islamische Widerstandsbewegung als Soldaten":

Aus Sicht der Islamischen Widerstandsbewegung ist Patriotismus fester Bestandteil unseres Glaubens. Und was könnte für den Patriotismus stärker und tiefgreifender sein, als dass der Feind muslimisches Land besetzt und misshandelt? So ist es nun die individuelle Pflicht jedes einzelnen Muslims und jeder einzelnen Muslimin, sich dem Feind durch Dschihad entgegenzustellen. (Hamas-Charta. 1988, Art. 12)

Dem Ideal und Projekt nach eine ganz gewöhnliche Staatsidee mit einem ganz eigenen palästinensischen Gewaltmonopol, einem eigenen territorialen Hoheitsgebiet, einem palästinensischen Volk, beseelt von einem palästinensischen "Wir-Gefühl". Das heisst: mit einem in palästinensischen Farben getauchten Patriotismus und dem Staatsidealismus von unten, der wie jeder Volks-Patriotismus darauf besteht, die palästinensische Staatsgewalt habe ausschliesslich den zu einem Volk zusammengeschweissten Palästinensern zu dienen.

Allerdings sieht sich das Staatsgründungsprojekt der Hamas wie jede palästinensische Bewegung oder Widerstandsbewegung bislang mit der historischen Besatzungsrealität durch Israel und der israelischen Staatsgründung, die am 14. Mai 1948 ihren ersten Abschluss fand, konfrontiert. Wobei festzuhalten ist, dass sich die Staatsidee der Hamas von der Israels in nichts unterscheidet. Umgekehrt gilt spiegelbildlich das Gleiche.

Manfred Henle