Israelis streiten über die Siedlungen seit dem Sechs-Tage-Krieg im Juni 1967 als die israelische Armee die Westbank besetzte. Im April 1975 (Gründung der Siedlung Ofra) nach dem traumatischen Yom Kippur Krieg, begannen kleinere radikale Gruppen damit, dort neue Siedlungen zu gründen. Die Annexion der gesamten Westbank ist seit jeher das Ziel der Siedlerbewegung. Ideologisch wurde damit auch die „Grundsteinlegung“ zu einem religiösen Zionismus gemacht, der den säkularen Gründervätern und -müttern die Stirn bieten sollte. Dennoch war sie bisher immer mehr eine Sehnsucht einer radikalen Minderheit als eine wirkliche Option für den israelischen Staat - verhindert durch die säkulare Mehrheitsgesellschaft und die Friedensbewegung im Lande, sowie die internationale Gemeinschaft.
Wenn es allerdings ein Zeichen für die gewachsene Kühnheit dieser israelischen Siedlerlobby gibt, dann ist es das aktuell verabschiedete sogenannte „Landraubgesetz“.
Das kontroverse Gesetz, das am 06. Februar 2017 von der Knesset verabschiedet wurde, erlaubt Israel die Enteignung von privatem palästinensischem Land, auf dem jüdische Siedlungen gebaut wurden. Es erlaubt den Siedlern und Siedlerinnen auf dem „geraubten“ Land wohnen zu bleiben ohne sie zu Eigentümer/innen zu erklären. Aber die palästinensischen Eigentümer/innen haben nicht mehr das Recht zu klagen oder das Land zurück zu bekommen „solange es keine diplomatische Lösung für die Westbank gibt“. Laut Peace Now werden durch das Gesetz auf einen Schlag rückwirkend 3.921 Häuser in 72 sogenannten Siedlungen und Outposts legalisiert. Auch 16 sogenannte „demolition orders“ (Zerstörungsbefehle), die bereits gegen Outposts ergangen sind, werden damit für mindestens ein Jahr eingefroren. Damit nicht genug: weiterhin ist es rechtlich extrem problematisch, dass weitere Outposts und Siedlungen künftig auf dem einfachen Verordnungsweg durch die Justizministerin legalisiert werden können – also nur durch den Rechtsausschuss der Knesset bestätigt, ohne dass es dafür künftig eines eigenen Gesetzes der Knesset bedarf.
Ausserdem beinhaltet das Gesetz eine Klausel, die zeigt, wie die Siedler/innen versuchen, ihre Interessen dem israelischen Staat aufzuzwingen: Laut dem Gesetz wird der Staat dazu gezwungen, die Siedlungen rückwirkend zu legalisieren, wenn nachgewiesen werden kann, dass der israelische Staat den Siedlungsbau direkt oder indirekt unterstützt hat.
Das Gesetz sieht vor, dass die Zivilverwaltung besiedeltes Land beschlagnahmen darf, das auf privaten palästinensischen Grundstücken „in gutem Glaube“ erbaut wurde. Oder die Siedler/innen haben eine de-facto-Zustimmung des Staates erhalten, indem dieser die Besiedlung geduldet und sie etwa durch Infrastrukturmassnahmen unterstützt hat.
Das bedeutet, wenn eine staatliche Behörde Strassen asphaltiert, Elektrizität bereitgestellt oder Sicherheitsbehörden zum Schutz der Siedlungen geschickt hat, dann können sich die Siedler/innen auf die „Zustimmung des Staates“ berufen. Genau das aber ist bei fast allen Siedlungen der Fall – ausser vielleicht bei ein paar sogenannten Outposts.
Hintergrund ist die jüngste Evakuierung der Siedlung Amona, die aus Sicht der Siedler und Siedlerinnen eine grosse Niederlage war.
Nicht nur der Generalstaatsanwalt Avichai Mandelblit hat angekündigt, dieses Gesetz rechtlich vor dem Supreme Court nicht zu verteidigen, was eigentlich seine Aufgabe wäre, da er das Gesetz für verfassungswidrig hält. Auch der Likud Abgeordnete Benny Begin vom rechten Flügel und der ehemalige stellvertretende Premier Dan Meridor, ebenfalls Likud, haben das Gesetz als „teuflisch und gefährlich bezeichnet“. Dan Meridor legt in einem „Brandbrief“ vor der Abstimmung an die Abgeordneten dar, dass das Gesetz einen Dammbruch darstellt, da damit erstmals die israelische Knesset mit einem Gesetz palästinensisches Eigentum reguliert, und damit über Menschen entscheidet, nämlich die Palästinenser und Palästinenserinnen in der Westbank, die die Knessetabgeordneten nicht gewählt haben, da sie für das israelische Parlament kein Wahlrecht haben. Damit verstosse das Gesetz gegen die Grundprinzipien von „Demokratie und Rechtsstaatlichkeit“ und könne nur als verfassungswidrig bezeichnet werden. Sogar der israelische Präsident Reuven Rivlin stellte fest, dieses Gesetz lasse Israel wie einen Apartheidstaat aussehen.
Selbst wenn der Supreme Court mit hoher Wahrscheinlichkeit das Gesetz für verfassungswidrig erklären wird, stellt die Entscheidung eine politische Zäsur dar: Noch nie zuvor hat die israelische Knesset ein Gesetz beschlossen, das über die Palästinenser/innen in der Westbank entscheidet. Das dürfte den Vertreter/innen vom „Jüdischen Heim“, die das Gesetz durchgepeitscht haben, auch bekannt gewesen sein. Dennoch haben sie ihre Chance genutzt. Warum? Es war im Grunde eine Machtdemonstration sondergleichen. Der Vorgang macht deutlich, wie selbstbewusst die Siedlerbewegung und ihr parlamentarischer Arm, das "Jüdische Heim“ zur Zeit agieren und welchen „Schub“ sie durch die Wahl Donald Trumps bekommen zu haben glauben.
Ihr Ziel ist es, solange Trump regiert, so viele Fakten wie möglich zu schaffen, die die Realisierung der Zwei-Staaten-Lösung „on the ground“ unmöglich machen werden. Sie spekulieren darauf, dass die Zeit für sie spielt. Das heisst, selbst wenn der Gerichtshof das Gesetz in einem ersten Schritt für nichtig erklärt, werden sie das als Vorwand nehmen, um das nächste Vorhaben auf den Weg zu bringen, nämlich ein Gesetz, mit dem die Knesset Entscheidungen des Gerichtshofs künftig überstimmen – „overrulen“ kann. Auch dies ist ein lang gehegtes Vorhaben des „Jüdischen Heim“, das bisher selbst von Premierminister Benjamin Netanjahu blockiert wurde. Die Frage ist, wie lange noch, denn dieser ist zurzeit angeschlagen und schwach, da ihm eine Amtsenthebung droht und er sich daher keinen Streit mit dem rechten Flügel leisten kann und will. Ausserdem hat Ajelet Shaked, die Justizministerin vom „Jüdischen Heim“ bereits neue Richter für den Supreme Court ernannt, die alle überwiegend konservativ bis sogar siedlerfreundlich sind. Langfristig sieht sich die Siedlerpartei also auf der „Gewinnerstrasse“.
Annexion jetzt – oder Zwei-Staaten-Regelung?
Sind aber die Siedler/innen in der Tat so stark, wie man es aus deren jüngsten Erfolgen herauslesen dürfte?Seit der Unterzeichnung des Oslo-Abkommens im Jahre 1993, ist die israelische Friedensbewegung die einzige innerisraelische Gruppierung, die den Status-Quo in den besetzten Gebieten radikal verändern will. Sie wollen die israelische Besatzung beenden und treiben die Gründung eines palästinensischen Staates aktiv voran.
Das israelische Friedenslager ist aber gleichzeitig erfolgreich und gescheitert: Erfolgreich, da sie es geschafft haben, den öffentlichen Diskurs in Israel so zu beeinflussen, dass die Zwei-Staaten-Lösung konstant die Zustimmung der Mehrheit im Lande erhält. Das wäre vor Oslo nicht denkbar gewesen.
Gescheitert ist sie allerdings, weil sie es nicht geschafft hat, attraktive Alternativen zum Status-Quo aufzuzeigen. Ihr Hauptargument, dass die Palästinenser/innen ein Recht auf Selbstbestimmung und damit auf einen eigenen Staat haben, ist zwar aus moralischer Perspektive richtig, überzeugt die Mehrheit der Israelis aber nicht.
Denn aus der Sicht der Mehrheitsgesellschaft stellt die Zwei-Staaten-Lösung vor allem ein grosses Sicherheitsrisiko dar: man sieht die Gefahr, dass die gefürchtete Hamas die Westbank übernehmen könnte – wie zuvor in Gaza – und die „Raketen künftig aus Ramallah“ sprich aus nächster Nähe auf die israelischen Städte geschossen würden. Und man scheut den Konflikt mit Tausenden von Siedlern und Siedlerinnen aufgrund von Massenevakuierungen.
Das Scheitern der Durchsetzung der Zwei-Staaten-Lösung liegt insofern weder daran, dass die israelische Mehrheitsgesellschaft die Westbank annektieren möchte, noch an einer besonderen Wertschätzung der Siedler/innen und der Siedlungen. Vielmehr liegt es daran, dass der Status Quo den meisten Israelis erträglicher erscheint als ein weitreichendes geostrategisches Manöver, erst recht in einem zerfallenden Nahen Osten. Konfrontiert also mit dem Status-Quo auf der einen Seite, und einem radikalen Bruch in der Form von der Zwei-Staaten-Lösung auf der anderen Seite, erscheint den meisten das Letztere als ein unnötiges Risiko – bisher jedenfalls.
Ausgerechnet Trump bringt eine neue Dynamik?
Und genau das könnte sich mit der neuen politischen Lage und der Wahl Trumps geändert haben.Denn Trump hat mit seiner Erklärung, “I'm looking at two states, I'm looking at one state, and I like the one that both parties like”, eine fundamentale Änderung der amerikanischen Politik im Nahen Osten eingeleitet.
Der wichtigste Bündnispartner Israels, die USA, scheinen plötzlich kein grosses Interesse mehr an einer Regelung des Konfliktes zu haben. Das hat in Israel nicht nur viele der politischen Akteure einschliesslich des Premierministers verunsichert. Es hat auch die Debattenlage in Israel auf einen Schlag verändert.
Plötzlich ist die Zwei-Staaten-Lösung nicht mehr die einzige „schlechte“ Alternative zum Status quo. Sondern als Alternative liegt auf einmal die Annexion und damit die Ein-Staaten-Regelung auf dem Tisch. Denn die messianische Siedler-Lobby hat Blut geleckt, und befürwortet vehement die Annexion des Westjordanlandes, was die Einbürgerung von 2,7 Millionen Palästinenser/innen bedeuten würde. Und das dürfte für die meisten Israelis einen mindestens so signifikanten Bruch mit dem Status Quo darstellen, wie die unsichere Aussicht auf die Zwei-Staaten-Regelung.
Ironischerweise scheint damit Trumps Amtseinführung als US-Präsident, begleitet von den aggressiven Forderungen der Siedler/innen nach einer Annexion, eine Art Impulsgeber zu sein, für den Ausweg aus dem Stillstand des derzeitigen Status-Quo. Also genau das, wonach sich das Friedenslager seit über acht Jahren sehnt.
Solange die Siedler und Siedlerinnen noch im Hintergrund agierten, haben sie es „heimlich“ geschafft, Israel in ihre gewünschte Richtung zu manövrieren – ohne grosse öffentliche Diskussion. Aber durch ihre Euphorie und die ekstatischen Annexions-Rufe wurden nun die Karten offen auf den Tisch gelegt, so dass für jeden sichtbar ist, was die Siedler/innen wollen und wohin sie Israel führen.
Die Debatte konzentriert sich damit nun auf die zwei einzigen wirklichen Alternativen, die auf dem Tisch liegen, nämlich die Annexion des Westjordanlandes und eine de-facto Ein-Staaten-Realität oder die Zwei-Staaten-Lösung. Diese Debatte findet zurzeit in Israel intensiv statt.
Während zum Beispiel die Werbetafeln in Jerusalem die Annexion von Maale Adumim fordern, erschienen in Tel Aviv andere riesige Plakate: "Wir annektieren sie nicht - Wir trennen uns von ihnen“. Ein zweites Plakat warnt vor dem, was geschehen wird, wenn Israel sich nicht von den Palästinensern trennt: "Die Ein-Staaten-Lösung. Palästina."
Damit ist gemeint, dass Israel weniger sicher, nicht mehr demokratisch und vor allem nicht mehr „mehrheitlich jüdisch“ sein wird, wenn es sich nicht von den Palästinenser/innen trennt. Die Kampagne wurde im vergangenen Monat von einer Initiative ehemaliger israelischer Generäle und leitenden Offizieren angestossen, um die Israelis aus der Apathie zu reissen. Sie wurde zwar von den israelischen Linken heftig kritisiert, da sie in Stil und Wortwahl gegenüber den Palästinenser/innen „rassistisch sei“, allerdings plädierte sie ebenso wie das linke Lager für ein Ende der Besatzung und die Entstehung eines palästinensischen Staates.
Die „Trennung“-Kampagne vermittelt aber einen guten Einblick in die Einstellungen der israelischen politischen Mitte und deren Ängste. Diese unterstützt zwar nach wie vor die Gründung eines palästinensischen Staates, glaubt aber nicht mehr daran, dass sie realisiert werden kann. Sie fürchtet aber mindestens genauso, dass eine Ein-Staaten-Realität das Ende des jüdischen Staates bedeuten würde, da mit zusätzlich 2,7 Millionen Palästinenser/innen, die jüdische Mehrheit verloren gehen würde.
Datenquelle: Tami Steinmetz Center for Peace Research of the Tel Aviv University. Urheber/in: Oz Aruch/Heinrich-Böll-Stiftung. All rights reserved. Die Zahlen aus den Umfragen sind daher eindeutig: Mit nur zwei Optionen konfrontiert, nämlich zwei Staaten für die beide Völker oder ein gemeinsamer Staat für Palästinenser/innen und Israelis, waren kürzlich 55 Prozent für die Zwei-Staaten-Lösung, während nur 29 Prozent angaben, für die Ein-Staaten-Regelung zu sein. Auf die Frage allerdings, ob sie meinen, ob die Mehrheit der Bevölkerung in Israel die Zwei-Staaten-Lösung befürwortete, antworteten 63 Prozent mit “nein”, während 26 Prozent ”ja” sagten. Dies bedeutet vor allem, dass die Befürworter/innen einer Zwei-Staaten-Lösung im Lande selbst ihren Rückhalt in der Bevölkerung unterschätzen.
Der Schwanz wedelt mit dem Hund - Quo vadis Israel?
Die Veränderung der amerikanischen Politik hat also in Israel eine ganz neue Dynamik ausgelöst. Wenn die Debatte über Trennung versus Annektierung der Palästinensergebiete andauert, wird das nicht nur den israelischen Diskurs verändern, sondern möglicherweise auch die politischen Kräfteverhältnisse. In welche Richtung – das ist dabei noch nicht ausgemacht. Es zeigt sich bereits, dass Netanjahu extrem geschwächt ist – und zwar nicht nur wegen seiner rechtlichen Verfahren. Er hat das Heft des Handelns nicht mehr in der Hand, weshalb die Bennett Partei das „Land-Grab Law“ durchpeitschen konnte und trotz vieler Vorbehalte die Zustimmung der Koalition hatte. Damit allerdings wird nun de facto die Mehrheit des Landes von einer Minderheit - den Siedler/innen - regiert. Der Schwanz wedelt also zurzeit mit dem Hund.Die grosse Frage, die sich allerdings stellt, ist, ob und wie lange die israelische Mehrheit es sich „gefallen lässt“ von einer Minderheit regiert zu werden, die entschlossen auf die Annexion der Gebiete und die Ein-Staaten-Realität zusteuert. Damit nimmt sie aber nicht nur Israels internationale Isolation in Kauf, sondern setzt womöglich auch langfristig die Existenz des jüdischen Staates an sich aufs Spiel.
Fest steht: Mit dem Kurswechsel in Washington hat die Debatte um die Attraktivität der Zwei-Staaten-Lösung wieder ungewollt an Fahrt gewonnen. Diese Dynamik müssten die israelischen Befürworter/innen und Aktivist/innen dringend nutzen. Das heisst, die marginalisierte Friedensbewegung müsste unbedingt aus ihrer „Apathie“ heraus und neue Strategien überlegen, wie sie die israelische Mehrheit von den Vorteilen der Zwei-Staaten-Regelung im Gegensatz zur Ein-Staaten-Realität überzeugen kann. Dabei spielt sicher nicht nur das Sicherheitsargument eine grosse Rolle, sondern auch viele ökonomische Gründe sprechen gegen eine „Übernahme“ der Westbank, etwa weil dann Israel für das Wohlbefinden der Palästinenser/innen Sorge zu tragen hätte. Hauptargument für die israelische Mitte ist aber sicherlich, dass bei der Ein-Staaten-Regelung, die jüdische Mehrheit verloren gehen würde – ein Argument, das dem internationalen Diskurs eher fremd ist, das aber für die Mehrheit der Menschen hier bis weit in die Linke hinein ganz entscheidend ist.
Nach 50 Jahren Besatzung ist es also an der Zeit die Verlängerung des politischen Schwebezustands und damit vor allem die Besatzung zu beenden und sich die harten Fragen zu stellen: Welchen Weg will Israel einschlagen? Die Formel von zwei Staaten für zwei Völker verfolgen, mit der langfristigen Perspektive der friedlichen Koexistenz, oder die Hinnahme der Ein-Staaten-Realität, bei der eine israelische Minderheit zu einem hohen Preis dauerhaft die palästinensische Mehrheit unterdrücken müsste. Damit aber würde Israel endgültig zum Apartheitsstaat werden, denn nur so könnte Israel ein jüdischer Staat bleiben. Israel steht also im Grunde erneut vor der Kernfrage seiner Existenz: Quo vadis Israel?