Der Lichtblick in der politischen Führung Israels ist Präsident Rivlin, der ein ums andere Mal eindringliche Worte und Gesten gegen Rassismus, Diskriminierung und Gewalt findet, den Rechtsstaat verteidigt und das demokratisch-humanitäre Erbe Israels hoch hält. Gleichzeitig ist Rivlin - das macht ihn in Europa zu einer irritierenden Figur - kein Anhänger der Zwei-Staaten-Lösung. Insofern steht er quer zu den traditionellen politischen Lagern. Man mag ihn deshalb für einen König ohne politische Hausmacht halten. Vielleicht ist er aber Vorbote neuer Ideen und Allianzen in Israel, nachdem sich die alte Linke weitgehend erschöpft hat, während die zionistische Rechte (der Likud) ihr liberales Element eingebüsst hat und zu keiner grossen politischen Initiative mehr fähig ist.
Erstaunlich (und bewundernswert), wie robust / vital die israelische Ökonomie und Gesellschaft trotz alledem ist. Viele reden über die neue Diaspora in Berlin, aber unter dem Strich übertrifft die jüdische Einwanderung nach Israel die Auswanderung deutlich. Die Gründer- und High-Tech-Szene floriert, in Tel Aviv geht der Bauboom weiter, die Immobilienpreise steigen. Wenn die Normalverdiener Kinder kriegen und eine grössere Wohnung brauchen, ziehen viele aus der Altstadt in die Vororte, wo die Mieten/Kaufpreise noch halbwegs erschwinglich sind. Die Mittelklasse kommt zunehmend unter Druck, die Kluft zwischen arm und reich wächst. Es gibt genügend Stoff für neue soziale Proteste, aber die Zerklüftung der israelischen Gesellschaft in ganz unterschiedliche bis gegensätzliche Milieus macht einen Zusammenschluss über alle Lager hinweg eher unwahrscheinlich.
Der demographische Wandel (die Verschiebungen der Gewichte zwischen Ashkenazim, orientalischen Juden und russischen Einwanderern, zwischen säkularen und religiösen Milieus) schlägt auch auf die Politik durch und entzieht der alten Linken den Boden. Gegen ihre vermeintlich "objektiven Interessen" wählen die ärmeren, marginalisierten Schichten eher die Rechte, obwohl diese in wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen eine neoliberale Agenda vertritt. Nicht soziale Programme entscheiden die Wahlen, sondern Fragen der kulturellen (religiösen, nationalen) Identität - und natürlich die Sicherheitsfrage, bei der die Linke als naiv gilt. Wenn sie wieder in die Offensive kommen will, braucht sie eine grundlegende programmatische und personelle Erneuerung.
Sie muss ihre politische Reichweite jenseits ihrer Stammwählerschaft vergrössern und Vertrauen / Unterstützung in soziokulturellen Milieus aufbauen, die der Linken nicht über den Weg trauen. Davon ist sie noch weit entfernt. Die „Oslo-Generation“, die über die letzten 20 Jahre unser wichtigster Partner war, verliert an Einfluss (auf israelischer wie auf palästinensischer Seite). Wir sollten im Auge behalten, welche neuen Akteure (Think Tanks, NGOs, Internet-Projekte etc.) im links-liberal-alternativen Spektrum entstehen und das Gespräch (wenn es passt, auch die Zusammenarbeit) mit ihnen suchen.
Sicherheit zuerst – aber wie? / Israel und die regionalen Konflikte
Zwar befürwortet eine deutliche Mehrheit der Israelis immer noch eine 2-Staaten-Lösung, aber nur noch eine Minderheit hält sie auch auf absehbare Zeit für realisierbar. Die meisten glauben nicht mehr an die Losung "Land gegen Frieden": Insbesondere das Scheitern der Friedensverhandlungen von Camp David und die anschliessende Zweite Intifada sowie die Erfahrungen mit dem Gaza-Rückzug haben die Überzeugung reifen lassen, dass die palästinensische Führung zu einem Friedensschluss nicht willens oder fähig ist. Ehud Baraks fatale Formel "Es gibt keinen Partner" hat sich in den Köpfen festgesetzt. Die entfesselten Kriege und Schlächtereien in Israels Nachbarschaft tun ein Übriges. "Safety first" ist die Parole. Selbst unter Veteranen der Friedensbewegung findet sich kaum jemand, der in dieser Lage etwa die Rückgabe der Golanhöhen an Syrien fordern würde. Auch eine Zwei-Staaten-Lösung wäre nur mit weitreichenden Sicherheitsvorkehrungen denkbar.Die Gefahrenlage angesichts der Auflösung der bisherigen Staatenordnung im Nahen/Mittleren Osten und des Vorrückens ultraradikaler islamistischer Kampfgruppen prägt auch die israelische Debatte zum Atom-Deal mit dem Iran. Über das Regierungslager hinaus wird die Lückenhaftigkeit des Kontrollregimes über die iranischen Atomanlagen kritisiert. Zugleich hadern viele mit der politischen Rehabilitation eines Regimes, das dem jüdischen Staat offen mit Vernichtung droht. Dabei geht es weniger um die Sorge vor einem nuklearen Angriff auf Israel. Die iranische Machtelite weiss sehr wohl, was das für ihr eigenes Land bedeuten würde. Befürchtet wird vielmehr, dass der Iran nach der Bombe strebt, um damit freie Hand für Stellvertreterkriege zu gewinnen und seine Verbündeten in der Region weiter aufzurüsten, ohne selbst mit militärischen Vergeltungsaktionen rechnen zu müssen. Eine iranische Bombe würde insbesondere die Abschreckungswirkung der israelischen Luftwaffe einschränken.
Die Kontroverse, ob das ausgehandelte Abkommen die nuklearen Ambitionen des Iran bremst oder unter dem Strich sogar befördert, ob es seine Einbindung in multilaterale Politik oder seinen Aufstieg zur dominierenden Macht in der Region begünstigt, hat für Israel einen existentielleren Charakter als für uns.
Gleichzeitig ist die Sorge vor einem neuen, verlustreichen Gaza-Krieg und vor dem prall gefüllten Raketenarsenal der Hizbollah gross, ebenso vor dem Überspringen des IS in den Gazastreifen und die Westbank. Es gibt Spekulationen über einen langfristigen Waffenstillstand mit Hamas (zumindest gibt es inoffizielle Gesprächskontakte) und über einen Rückzug hinter den "Sicherheitszaun" als provisorische Grenzlinie. Allerdings ist mehr als zweifelhaft, dass ein solcher Schritt befriedende Wirkung hätte, wenn er nicht Teil von Endstatus-Verhandlungen entlang der bekannten Parameter ist. Ebenso zweifelhaft ist aber, dass die derzeitige israelische wie die palästinensische Führung bereit und in der Lage wären, die dafür notwendigen substantiellen Kompromisse einzugehen und gegenüber ihrer Bevölkerung zu vertreten. Das gilt für die Jerusalem-Frage wie für das immer wieder beschworene "Recht auf Rückkehr" für die palästinensischen Flüchtlinge von 1948. Die Autorität der palästinensischen Führung schwindet. In der PLO scheint ein Machtkampf in Gang zu sein, bei dem Abbas mehrere potentielle Nachfolger kaltgestellt hat. Umfragen unter den Palästinensern zeigen, dass ihr Vertrauen in ihre "politischen Elite" auf einem Tiefpunkt angekommen ist, und zwar durch die Bank.
Zwei-Staaten-Lösung – nur noch Fiktion?
Nüchtern betrachtet, gibt es in der jetzigen inneren und äusseren Konstellation keine Chance für eine rasche und umfassende Friedensregelung. Auch „Druck von aussen“ wird daran nichts ändern. Eine Zwei-Staaten-Lösung lässt sich nicht von aussen erzwingen – sie kann nur Ergebnis eines Verhandlungsprozesses mit schmerzlichen Kompromissen für beide Seiten sein. Ein solcher Kompromiss setzt ein Mindestmass an beiderseitigem Vertrauen in eine friedliche Koexistenz voraus. Auch daran fehlt es gegenwärtig nahezu komplett. Das bedeutet nicht, dass eine Zwei-Staaten-Lösung auf alle Zeiten irreal geworden ist. Aber es bedeutet, dass es dafür einen langen Atem braucht.Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht. Einstweilen kommt es vor allem darauf an, dass von israelischer Seite keine weiteren Fakten geschaffen werden, die einen lebensfähigen palästinensischen Staat faktisch unmöglich machen. Das heisst vor allem: keine Ausweitung der Siedlungen über die Blöcke hinaus, die nach menschlichem Ermessen auch bei einer künftigen Zwei-Staaten-Lösung Teil Israels bleiben werden. Diese Linie ist bereits mehrfach in bi- und multilateralen Verhandlungen erörtert worden, auch in der Genfer Friedensinitiative. In diesem Punkt müssen die USA und die EU sehr klar sein.
Am ehesten kann die gegenwärtige Blockade noch durch die Verknüpfung israelisch-palästinensischer Verhandlungen mit einem regionalen Sicherheitsarrangement durchbrochen werden. „Regionalisierung“ ist deshalb ein Schlüsselbegriff in der israelischen Diskussion. Er zielt darauf ab, die „moderaten“ arabischen Staaten – namentlich Ägypten, Jordanien, Saudi-Arabien – in Verhandlungen über ein regionales Paket für Frieden und Sicherheit einzubeziehen. Diese Überlegungen knüpfen an die „Arab Peace Initiative“ aus dem Jahr 2002 an: eine Verständigung mit den Palästinensern über eine Zwei-Staaten-Lösung soll den Weg bahnen für die diplomatische Anerkennung Israels durch die Golfstaaten und eine erweiterte sicherheitspolitische Kooperation in der Region.
Gleichzeitig sollten, wo immer es geht, vertrauensbildende Massnahmen im Kleinen und Grossen wieder in Gang gebracht werden: von konkreten Verbesserungen der Lebensbedingungen der Palästinenser in der Westbank und im Gaza-Streifen (Freizügigkeit, Handel, Bauland etc.) über die Zusammenarbeit bei der Energie- und Wasserversorgung bis zur Sicherheitskooperation. Wer eine Verständigung über eine Endstatus-Lösung als Vorbedingung für jede partielle Zusammenarbeit fordert, verhindert, dass eine positive Dynamik von Kooperation und Vertrauen entsteht.
Deshalb hält die grosse Mehrzahl der regierungskritischen NGO's und politischen Intellektuellen in Israel auch die „BDS“-Strategie (Boycott, Divestment, Sanctions) für kontraproduktiv. Sie verstärkt Feindseligkeit und Polarisierung, und sie rührt an traumatische historische Erfahrungen von Boykott und Ausgrenzung. Damit spielt sie der israelischen Rechten und ihrer Wagenburg-Mentalität in die Hände. In ihrer extremen Variante nimmt „BDS“ die gesamte israelische Gesellschaft in Sippenhaft, Anhänger wie Gegnerinnen der Siedlungspolitik, Regierung wie Opposition, Wissenschaftlerinnen wie Künstler. Eine solche Kollektivstrafen-Phantasie lädt dazu ein, antijüdische Ressentiments im Gewand des „Antizionismus“ wieder salonfähig zu machen.
Auch wenn es verfrüht ist, das Konzept einer Zwei-Staaten-Lösung zu beerdigen, ist es doch höchste Zeit, sich Gedanken über eine praktikable Ausgestaltung einer solchen Vereinbarung zu machen. Eine harte Trennung zwischen einem israelischen und einem palästinensischen Staat entlang der Grenzen von 1967 ist irreal. Man kann nicht ein halbes Jahrhundert einfach ungeschehen machen. Israel wird (und kann) nicht alle inzwischen gebauten Siedlungen mit einer halben Million Menschen räumen. Das wurde in allen Verhandlungen der letzten Jahre konzediert. Auch eine „harte“ Teilung Jerusalems entlang der alten Frontlinie ist weder realistisch noch im Interesse der Stadt und ihrer Bewohner wünschenswert. Sie ist auch nicht notwendig, um Jerusalem zur Doppelhauptstadt zweier Staaten zu machen. Schliesslich werden beide Staaten und Völker sehr viel besser auskommen, wenn sie eng miteinander kooperieren, statt die Verbindungen möglichst zu kappen. Palästinenser sollten in Israel arbeiten, Unternehmen hier und dort investieren und Handel treiben können, ein gemeinsames Energie- und Wasserregime wäre für beide Seiten vorteilhaft.
Solche Überlegungen laufen nicht auf eine „Ein-Staaten-Lösung“ hinaus, wohl aber auf ein modifiziertes / alternatives Konzept für eine Zwei-Staaten-Lösung. Eine explorative Formel in dieser Richtung lautet „Two States – One Shared Space“. An diesem Suchprozess nach Wegen aus der Sackgasse sollten wir uns beteiligen.