Die 55-jährige Politikerin Kisanak ist im kurdischen Südosten der Türkei eine populäre Politikerin. Ihr Name ist mit der wechselvollen Geschichte ihrer Stadt eng verbunden. Dass sie während des Militärputsches 1980 die Haft im Gefängnis von Diyarbakir überlebt hatte, liess jüngere Kurden auf sie mit Ehrfurcht schauen. Vom Gefängnis von Diyarbakir sagte man damals wegen der entsetzlichen Folter, es sei die Hölle auf Erden. Kisanak wurde Parlamentarierin der HDP, bevor sie bei den Kommunalwahlen im Jahr 2014, als erste Frau überhaupt, zur Oberbürgermeisterin dieser kurdischen Metropole gewählt worden war. In Interviews vor allem mit ausländischen Medien sprach sie immer wieder von ihrer Vision, das ehemalige Gefängnis ihrer Stadt zu einem «Museum für den Respekt von Menschenrechten» umzugestalten.
Was zu ihrer unerwarteten Verhaftung letzten Dienstag geführt hat, bleibt vorerst unklar. Am Vormittag des 25. Oktober reiste Gültan Kisanak auf Einladung einer parlamentarischen Untersuchungskommission nach Ankara, um vor dem Parlament Fragen zu den Vorfällen beim gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli zu beantworten. Als sie am späten Abend in Diyarbakir eintraf, wurde sie noch am Flughafen festgenommen. Polizisten hatten bei Razzien kurz zuvor ihre Wohnung und die Wohnung ihres Ko-Bürgermeisters Firat Anli durchsucht. Auch Firat Anli nahmen sie fest. Ihnen wird nun vorgeworfen, städtische Fahrzeuge für Begräbnisse von getöteten PKK-Mitgliedern zur Verfügung gestellt und Forderungen nach mehr Autonomie für die Kurden in der Türkei unterstützt zu haben. Laut dem Staatsanwalt sollen sie zudem zu gewaltsamen Protesten aufgerufen haben. Gemäss der gängigen Methode in der Türkei seit dem 15. Juli darf für fünf Tage lang niemand mit ihnen Kontakt aufnehmen, weder ihre Anwälte noch ihre Familienangehörigen.
Repression ohne Ende
Die Festnahmen von Gültan Kisanak und Firat Anli stellen den vorläufigen Höhepunkt einer seit Sommer 2015 stetig wachsenden Repression im kurdischen Südosten des Landes dar. Die Repression sei für jeden Einzelnen so «unerträglich, dass sie kaum in Worte gefasst werden könne», kommentierte der HDP-Abgeordnete Idris Baluken. Seitdem Präsident Recep Tayyip Erdogan im Sommer 2015 die Einstellung der Friedensgespräche mit der PKK erklärt hat, versprechen er und seine Regierung unablässig und in allen Tonarten, die «PKK mitsamt all ihren Filialen auszurotten».In Wirklichkeit wird vor allem die Repression gegen Zivilisten stetig erhöht: Weil im Juli 2015 die Jugendorganisation der PKK im Südosten des Landes Strassenbarrikaden und Strassensperren aufbaute, liess Ankara ihre Armee ganze Viertel in Städtchen wie Cizre, Silopi und Nüsaybin dem Erdboden gleichmachen, die Altstadt von Diyarbakir Sur mitsamt seinen historischen Moscheen und Kirchen ebenso. Die Organisation International Crisis Group konnte damals nachweislich über 1'700 Menschen zählen, die die Kämpfe mit ihrem Leben bezahlt hatten. Über 400'000 weitere wurden vertrieben.
Verhaftungen ohne jede Rechtsgrundlage
Erhöht wird auch der Druck auf die HDP, welche die einzige legale, pro-kurdische Partei für die schätzungsweise 15 Millionen Kurden der Türkei ist. Letzten Mai wurde auf Geheiss der Regierungspartei die Immunität von 50 HDP-Abgeordneten aufgehoben. Damit können sie theoretisch genauso wie die Bürgermeister Diyarbakirs Gültan Kisanak und Firat Anli wegen angeblicher PKK-Mitgliedschaft zu langen Haftstrafen verurteilt werden. Das Netz der bewaffneten kurdischen Milizen, der sogenannten Dorfschützer, die im Auftrag des Staates gegen die Kurden der PKK kämpfen, wird neuerdings wieder ausgebaut. Im Rahmen der Demokratisierungsreformen Anfang der 2000er Jahre versprach die erste Regierung Erdogan, die Milizen der Dorfschützer abzuschaffen. Allzu oft hatten Dorfschützer die Gewalt ihrer Waffen dazu eingesetzt, um persönliche Abrechnungen mit ihren Kontrahenten im Dorf, in der Provinz oder im Städtchen auszutragen und/oder Schmuggel auch zu betreiben.Nach dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli wurden auf einen Schlag 25 gewählte Bürgermeister im kurdischen Südosten abgesetzt und ihre Kommunen unter Zwangsverwaltung gestellt. Der HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtas sprach nach den Festnahmen in Diyarbakir von einem «schmutzigen Krieg» Ankaras: Die Regierung respektiere «weder Justiz, noch Verfassung, noch Normen der politischen Ethik», sagte er. Er rief seine Anhänger auf, «Widerstand zu leisten» und solange auf den Strassen zu protestieren, bis Diyarbakirs Bürgermeister wieder auf freiem Fuss seien.
Anders als bis vor wenigen Monaten folgten diesmal vergleichsweise Wenige seinem Ruf: zum einen, weil dieser Ruf manche HDP-Anhänger nicht rechtzeitig erreicht hat; Radio- und Fernsehsendungen, welche den Kurden eine Stimme gaben, sind seit dem 15. Juli alle stillgelegt. Zudem wurden, wie der «Zufall» es so will, Mitte dieser Woche aus den Provinzen Diyarbakir und Mardin, aus Batman, Siirt, Van, Tunceli, Gaziantep sowie Urfa, faktisch also aus dem gesamten kurdischen Südosten der Türkei, flächendeckende Ausfälle des Internets gemeldet.