Ich erinnere mich aus Gesprächen mit Freund*innen aus Gaza, dass damals dort (wie in der Westbank) nicht Wenige dieses Mal entgegen ihren politischen Überzeugungen für die Hamas votierten. Sie hofften, so den Einfluss der durch und durch korrupten „Autonomie“-Behörde (PA) einzudämmen. Diese Protestwähler*innen nahmen es in Kauf, dass die von ihnen eigentlich präferierten linken, links-liberalen oder einer politischen Mitte zuzurechnenden, ebenfalls gegen die (mit westlichen Geldern geförderte) Fatah-dominierte PA antretenden Kandidat*innen und Parteien Einbussen erleiden würden. Wir alle kennen solche Überlegungen vor Wahlen (gerade derzeit wieder). Wir entscheiden uns zähneknirschend für ein „geringeres Übel“. Als solches erschien damals vielen Palästinenser*innen, auch in Gaza, die Hamas.
Es gab also bei den letzten Wahlen in Gaza eine satte Mehrheit für die Hamas. Monate zuvor hatte Israel seine Besatzungsstrategie auf Gaza bezogen geändert, indem es die direkte Besatzung des Küstenstreifens durch Siedler*innen- und Militärpräsenz vor Ort ersetzte durch ein effizienteres System der Kontrolle und Unterwerfung mittels Drohnen, noch gründlicherer Isolierung und Abschottung, sowie gelegentlicher Bombardierungen – ein an Bildschirmen sauber zu managendes Modell der Bevölkerungskontrolle und -bekriegung von den wenige Kilometer entfernten israelischen Kommandozentralen aus.
Diese Methode hatte mehr als einen Vorteil für Israel, zum einen dass die israelische Bevölkerung noch weniger als zuvor tangiert war von dem, was ihre Bürger*innen als Soldat*innen in Gaza verrichteten, erlebten, sahen. Es war, als gäbe es Gaza nicht mehr und als gäbe es seine weggesperrten Bewohner*innen nicht mehr. Fast schon ein Idealzustand, nur gelegentlich gestört durch Kassam-Raketen, die von dort abgefeuert wurden.[1] Zum anderen exportiert Israel dieses Modell des „sauberen“ Krieges gegen unliebsame Bevölkerungen und ihrer Kontrolle erfolgreich in alle Welt.[2] Wie es mit der Unterstützung der Hamas seit jenen Jahren bzw. den letzten Wahlen aussieht – darüber wird man vielleicht irgendwann Gelegenheit haben, Menschen aus Gaza genauer zu befragen, wie auch dazu, ob sie begeistert waren, als sie an jenem 7. Oktober 2023 erfuhren, dass der Hightech-Zaun um ihr Freiluftgefängnis erstmals durchbrochen worden war.
Wahrscheinlich waren es viele oder die meisten im ersten Moment. Wahrscheinlich erschraken dann viele oder die meisten, weil sie wussten oder ahnten, die Rache würde erbarmungslos über ihnen zusammenschlagen. Erst recht, falls sie Bilder und Berichte, falsche oder authentische[3], davon sahen, wie israelische Zivilist*innen im Anschluss an den Durchbruch ermordet oder misshandelt wurden.
Die Rache dafür, das werden viele Gazauis schnell begriffen haben, würde keine Grenzen kennen.
Interessierte sie dann noch das Leid der Israelis, während sie selber von jener Rache zermalmt wurden, tagelang, wochenlang, monatelang?
Werden Menschen aus Gaza der Welt, uns, eines Tages davon berichten, was sie umtrieb, als der israelische Rachefeldzug sie und ihre Lieben, alle, alles zermalmte? Ob sie überhaupt noch irgendeinen Gedanken hatten ausser … Wohin jetzt? ...Wie die alte Mutter mitschleppen… Kommt das da oben … etwa näher…?!
Vielleicht, falls sie überlebt haben und jemals wieder die Musse haben sollten sich zu erinnern, werden sie berichten. Vielleicht malen. Romane oder Gedichte schreiben. Essays… Nicht wenige von ihnen bringen das sogar jetzt, unter den unsäglichen Überlebensbedingungen noch fertig und sind dabei, eine Gaza-Biennale auf den Weg zu bringen.[4] Andere, sehr viele von den Überlebenden, fürchte ich, werden schweigen. Man ist nicht unbedingt redselig nach all dem, was sich da draussen sowieso kaum jemand vorstellen kann oder will. Was man selber nicht fassen kann. Was einen sprachlos gemacht hat.
Bei der Nachricht des offenbar unmittelbar bevorstehenden Waffenstillstands und angesichts der Bilder jubelnder Gazauis erschrak ich. Warum ausgerechnet in diesem Moment des Aufatmens?
Ich wusste doch nur zu gut, was eine Waffenruhe, egal ob kürzer oder länger, für die in Gaza Eingesperrten bedeutet: endlich Tage ohne Angst, endlich die Aussicht auf Rückkehr…wenn auch in ganz oder teilweise zerstörte Häuser und Nachbarschaften. Endlich ein vorläufiges Ende des Hungers, der Kälte, des Schmutzes, der unbehandelten Wunden, der unauffindbaren Toten. Endlich eine Atempause. Oder vielleicht mehr als das. Endlich! Endlich die (vorläufige) Rettung von manchen der in israelische Gefängnisse Verschleppten, wo sie, wie inzwischen allgemein bekannt, regelmässig gefoltert werden.[5] Endlich.
Aber – konnte ich nicht umhin innerlich aufzuschreien – fünfzehn lange Monate und Zehntausende Tote, Verschüttete, Verletzte zu spät! Dennoch ist die Atempause Anlass zur Erleichterung.
Auch für Angehörige in der Diaspora, die fünfzehn Monate lang zusehen mussten, ohne etwas gegen den Genozid ausrichten zu können. Ohne ihre Familienangehörigen und Freund*innen retten zu können.
Fünfzehn lange Monate und Zehntausende Tote zu spät - aber immerhin?
Das Bittere: Es war so beabsichtigt und der Genozid wurde betrieben und zugelassen, jeden einzelnen Tag von fünfzehn Monaten. Er wurde betrieben und zugelassen von denen, die ihn jederzeit hätten beenden oder einen Waffenstillstand und den Austausch von Gefangenen und Geiseln hätten durchsetzen können: unsere Regierungen. So war bereits im vergangenen Mai ein fast gleichlautender Waffenstillstand ausgehandelt worden[6], doch die flächendeckenden Bombardierungen, das Ermorden von Zivilist*innen und ihr Aushungern gingen unvermindert, wenn nicht sogar verstärkt weiter. Dabei avisierte die IDF immer wieder „sehenden Auges“ offensichtlich Unbewaffnete, z.B. Kinder.Die Israel darin materiell (Waffenlieferungen und mehr) und ideologisch/propagandistisch unterstützenden Regierungen liessen nicht nach in ihrer bedingungslosen Unterstützung des Staates, der sich daraufhin ermutigt fühlte, seine Möglichkeiten, Recht zu brechen, weiter und weiter auszuloten. Und es ging und geht immer noch mehr. Selbstverständlich nicht, weil irgendeine Weltverschwörung dahinter stecken würde, oder weil es sich bei Israel um einen besonders „diabolischen“ Staat handeln würde, auch nicht, weil seine aktuelle Regierung eine unverblümt faschistoide ist.
Es liegt in der Natur der Sache: den geostrategischen, letztlich ökonomischen Interessen, die all diese Regierungen oder Regimes vertreten. Wie vor Jahren schon hellsichtig in einem Graffito an der israelischen Apartheid-Mauer in Palästina auf den Punkt gebracht: „It's capitalism, stupid!“ Mir graut es, nachdem ich nicht anders kann, als in dem ausgehandelten Waffenstillstand nur ein jederzeit bedrohtes Innehalten zu sehen. Ehe erneut überfallen, ausgehungert, verschleppt, verschüttet, zermalmt – ethnisch gesäubert wird. So wie es im jüngsten von Trump geäusserten Vorschlag anklingt, „to clean out the whole thing“.[7]
Und tatsächlich, einen Tag nach Umsetzung des zweiten der vereinbarten Schritte des Waffenstillstandsabkommens hat Israel bereits einen Vorwand gefunden, die Erfüllung einer der ihm gestellten Bedingungen vorübergehend auszusetzen: die Erlaubnis für die Hunderttausenden durch die IDF in den Süden vertriebenen Menschen, zurück in den verwüsteten Norden des Gazastreifens zu ziehen. Allein, dass Israel diese Erlaubnis wie alles andere Vereinbarte jederzeit infrage stellen kann, macht schlaglichtartig klar, worum es sich bei dem Waffenstillstandsabkommen handelt:
Ein militärisch hochgerüsteter Staat mit massiver internationaler Unterstützung führt einen Krieg gegen eine Bevölkerung.
Diese wird auf fragwürdiger Grundlage von einer (vergleichsweise bescheiden) bewaffneten Gruppierung gegenüber diesem Staat vertreten.
Die übermächtige Seite – Israel – kann es sich folglich erlauben, Gegenleistungen dafür zu verlangen, dass sie eines der von ihr begangenen Verbrechen – die Vertreibung von Menschen aus ihren Häusern und Städten, die sie unterdessen zerstört hat, nicht ohne dabei viele der Bewohner*innen zu verwunden oder zu töten – diese Seite kann es sich erlauben, Bedingungen zu stellen. Ja, tatsächlich, sie kann es sich erlauben, Bedingungen dafür zu stellen, ob, wann, wie sie der (grossenteils seit Oktober 2023 mehrfach) vertriebenen Bevölkerung erlaubt zurückzukehren in das verwüstete Terrain, in dem ihre Eltern, Grosseltern damals (1948) Zuflucht gefunden haben, nachdem sie im Zuge der Nakba, falls sie diese überlebten, vertrieben worden waren. (Die Sätze werden leider sehr lang und verschlungen beim Versuch, genau zu benennen, wie alles zusammenhängt, was geschieht.).
Entsprechendes gilt für die von der Internationalen Staatengemeinschaft nie sanktionierten Ungeheuerlichkeit, dass es sich Israel immer schon vorbehalten hat, der von ihm (rechtswidrig) eingesperrten Bevölkerung Gazas den Zugang zum Notwendigsten (Wasser, Strom, Lebensmittel, Medikamente) „bei Bedarf“ etwa als Kollektivbestrafung (z.B. für eine Offensive der Hamas) oder auch „einfach so“ abzuschneiden, überhaupt diesen Zugang zu kontrollieren. So lebt die Bevölkerung Gazas seit Jahren – die junge Genration kennt es gar nicht anders – mit täglich nur stundenweise Zugang zu Strom.
Wie wir alle wissen, konnte seit Beginn des genozidalen Krieges gegen diese eingeschlossenen Menschen jegliche Lebensmittel- wie überhaupt humanitäre Hilfe, die an den Grenzen zum Gazastreifen bereitstand und -steht diese allenfalls tröpfchenweise passieren.
Und jetzt ist die Erlaubnis Israels, die Grenzen für das Lebensnotwendigste zu öffnen, eines der Zugeständnisse gegenüber dem Verhandlungspartner Hamas im Rahmen des Waffenstillstand. Wie kann es sein, dass die Beendigung der Hungerblockade, eines Verbrechens, überhaupt an Bedingungen geknüpft wird! Zugleich kann es sich dieser Staat erlauben, weil die internationale Staatengemeinschaft auch dagegen nichts einzuwenden hat, die Feuerpause an der einen Front zu nutzen, um einen anderen Teil der palästinensischen Bevölkerung, die in der Westbank, ebenfalls unter einer völkerrechtswidrigen Besatzung in Bantustans eingeschlossen ist (nicht ganz so hermetisch wie die Menschen im Gazastreifen), mit denselben mörderischen Methoden zu überziehen, wie sie sich soeben in Gaza für Israel bewährt haben, um das erklärte Ziel zu erreichen: Die Palästinenser*innen sollen ganz verschwinden aus der Siedlerkolonie Israel, die vom Jordan bis zum Mittelmeer reicht, „from the river to the sea“.
Dabei kann sich Israel sogar, nicht erst neuerdings, sondern seit Beginn des Oslo-Befriedungsprozesses, auf die freundliche Kooperation der (wie die Hamas in Gaza) seit 2006 nicht mehr von der Bevölkerung legitimierten PA (Palestinian Authority/“Autonomie“behörde) verlassen. Kürzlich bereitete diese den neuerlichen (völkerrechtswidrigen und noch laufenden) Angriff der IDF auf das Flüchtlingslager Jenin vor, indem sie schon mal einen Monat lang mit einigem Erfolg, angebliche oder tatsächliche bewaffnete Kämpfer der Hamas erledigte, zivile Kollateralschäden inbegriffen. Was treibt die PA und ihre „Sicherheits“kräfte, bei der Ermordung anderer Palästinenser*innen im Auftrag Israels und seiner US-amerikanischen und europäischen Verbündeten besonderen Eifer an den Tag zu legen?[8]
Es war und ist die Aussicht, von zahlreichen Regierungen, auch der deutschen befeuert, auf ein „Danach“ für den Gazastreifen, bei dem diese PA, im Sinne der Staatengemeinschaft und von Israel ein wenig „reformiert“, was immer das heissen mag, als erst-mal-Verwaltung von dem eingesetzt würde, was dort eventuell noch übrig geblieben sein sollte an noch nicht auf die eine oder andere Art entsorgten Bewohner*innen. Angesichts dieser Aussicht auf Herrschaft über die palästinensischen Bantustans in der Westbank und den Gazastreifen – musste sich die PA vorauseilend bewähren, indem sie der israelischen Armee dabei behilflich war, Jenin für deren Angriff „vorzubereiten“.
Es ist bei den Plänen für das nebulöse „Danach“ nie die Rede von den Palästinenser*innen, denen in Gaza und den anderen Teilen Palästinas oder in der Diaspora, von dem, was sie anstreben und dem, was ihnen zusteht. Vor allem: Es wird nie mit ihnen geredet, stattdessen mit nicht von ihnen gewählten Vertreter*innen und unter Bedingungen, die ihnen aufgenötigt wurden und werden. Als wären sie unmündig, keine politischen Subjekte. Als müsse man – wir Europäer*innen, US-Amerikaner*innen bzw. unsere Regierungen, unsere NGOs, unsere Nahostexpert*innen, ausgerechnet wir – ihnen irgendwie auf die Sprünge helfen.
Das ist nun wiederum nichts Besonderes und geschieht nach einem ähnlichen Muster überall. Überall muss Zugang zu Rechten eingeschränkt werden, Ungleichheit vertieft, müssen die Überflüssigen dieser Erde von der Teilhabe ausgeschlossen bleiben. Jedenfalls wenn die Dinge für die privilegierten Weltgegenden und ihre privilegierten Bewohner*innen so weiterlaufen sollen wie bisher.
In den videos, die ich am 15. Januar und in den Tagen danach sah, mit Handys aufgenommen von zutiefst erleichterten Überlebenden in Gaza, die überglückliche Menschen um sie herum filmten, vernahm ich auch, was sie selber zugleich hören und sehen konnten: Im Hintergrund schlugen weiterhin Bomben ein.
Ich verstehe sehr gut, dass sie es nicht hören und nicht sehen wollten. In diesem Moment des Aufatmens nach fünfzehn quälenden Monaten.
Ihre Erleichterung und die aufkeimende Hoffnung, dass „jetzt alles gut wird“, ist so verständlich, so nachvollziehbar, wenn man nur einen Bruchteil von dem gesehen hat, was sie in diesen fünfzehn Monaten in Gaza erlitten haben – und wogegen sich immer wieder neu die Resilienz, die Menschlichkeit, die Solidarität, die Kreativität derer, der Vielen in Gaza behauptet, die sich ihre Würde nicht nehmen lassen, so Dr. Hussam Abu Safiya.[9]
Dr. Hussam Abu Safiya ist nur ein – prominentes – Beispiel der Ungezählten ohne Stimme, ohne Reichweite bis zu uns.
Ja, ich verstehe die Erleichterung und die aufkeimende Hoffnung wie ich die Erleichterung einer Gefolterten verstehe, wenn der Folterer unversehens innehält. Die Gefolterte hat jeden Sinn für Zeit verloren. Sie kann vermutlich kaum noch „ich“ sagen oder denken. Sie ist nur noch Panik und Schmerz. Der einzige Ausweg: das Bewusstsein verlieren. Doch die Folterer reissen sie immer wieder zurück ans blendende Licht der gnadenlos auf sie gerichteten Scheinwerfer. Auf ihre schlotternde Nacktheit. Alles tut weh. Und wird erneut, wieder, wieder, wieder entflammt, verätzt, zerfetzt, gebrochen, ausgekugelt, vergewaltigt. Und dann plötzlich. Nach … einer Ewigkeit…
Innehalten des Folterers
Das also erleben sie in Gaza in diesen Tagen.Eine Berliner Freundin stellt mir eine naheliegende Frage – und die Antwort habe ich erst mal nicht parat. Ich bin zu verblüfft, wie evident, wie einfach sie ist. Und auch wie vielsagend.
„Warum nur hat die israelische Armee mit all ihren Mitteln der Überwachung, Durchleuchtung, mit vermutlich auch Kollaborateur*innen, die allermeisten Geiseln die ganze Zeit nicht gefunden?“
Meine Freundin hat offenbar die Bilder von ganzen Städten, ganzen Flüchtlingslagern, die ihrerseits dicht besiedelte Städte sind, nicht vor Augen: Trümmerlandschaften, soweit das Auge reicht, nachdem die Orte einer nach dem anderen flächendeckend bombardiert und niedergewalzt, dem Erdboden gleich gemacht wurden. Nicht sichtbar, verschüttet, Tote, deren Überreste jetzt von ihren zurückkehrenden Angehörigen ausgegraben werden, falls sie noch zu finden und zu identifizieren sind.
Die Menschen, auch die israelischen Geiseln, haben dort überlebt – oder auch nicht. Oder ihre Bewacher*innen sind mit ihnen zusammen rechtzeitig geflohen; denn die Hamas hat alles daran gesetzt, diese wertvollen bargaining chips möglichst gut zu schützen und auch gut zu versorgen.
Dass wertvolle israelische bargaining chips gegen billigste palästinensische Münze – Anzahlen unter 10 gegen solche weit über 100 – ausgetauscht werden und nicht Menschen beider Seiten, zu ihrem Recht und zurück zu ihren Familien kommen, ist den vom zionstischen Staat geschaffenen Bedingungen der Apartheid und der Ethnokratie[10] geschuldet. Nicht erst jetzt unter einer bekennend rechten, explizit rassistischen Regierung.
Auch die Praxis der IDF, die Zivilbevölkerung aufzufordern, sich in „safe zones“ zu begeben, die dann ihrerseits bombardiert werden, spricht eine eindeutige Sprache: Absolute Priorität hat ganz offensichtlich das Töten möglichst vieler Palästinenser*innen. Dieses für alle Welt sichtbare Vorgehen offenbart auch, dass es nicht einmal primär darum geht, „die Hamas zu vernichten“ – die verkündete Antwort auf deren Überfall auf Israel am 7. Oktober 2023. Da wären präzisere Methoden angezeigt, über die Israel wie vermutlich kein anderer Staat verfügt.[11] Es geht schlicht und brutal darum, den Anlass für einen Feldzug zu nutzen, der die gesamte Bevölkerung, ihre Lebensgrundlagen, ihre Zukunft, ihre Vergangenheit auslöschen soll – was die „Internationale Gemeinschaft“ zu verhindern sich verpflichtet hat, eine Verpflichtung, der sie bisher nicht nachkommt.[12] Die Antwort an meine Freundin: Dem beabsichtigten Genozid an den Palästinenser*innen ist offensichtlich das Leben der israelischen Geiseln als in Kauf zu nehmender Kollateralschaden nachgeordnet.
Ich schreibe den voraufgehenden Abschnitt erst im Präteritum. Dann doch im Präsenz. Nichts von dem Grauen ist vorbei. Der Vernichtungsfeldzug ist nicht beendet, das liegt in seiner Natur, der unübersehbaren Absicht von Anbeginn. Wann war der Anbeginn? Manche sagen 1948, manche Jahrzehnte zuvor. Auch die Feldzüge Israels gegen die Bevölkerung Gazas 2008/09, 2012, 2014 und 2021, Präludien zu dem, was wir seit Oktober 2023 ohnmächtig mitansehen, zielten offensichtlich nicht primär darauf ab, die Hamas und ihre Fähigkeit, Raketen auf israelisches Territorium abzufeuern zu eliminieren. Jene israelischen Offensiven wurden, wenn auch zeitlich viel kürzer und räumlich begrenzter, so geführt wie der gegenwärtige genozidale Feldzug in Gaza: so dass möglichst viele Zivilist*innen getötet und ihre Infrastruktur möglichst schwer getroffen wurde.
Ich fürchte, dass viele durchaus wohlmeinende Deutsche, die sich mittels der als seriös geltenden Medien informieren, fest davon überzeugt sind, dass die Bevölkerung Gazas, abgesehen natürlich von den samt und sonders unterworfenen Frauen und ihren unschuldigen Kindern, also den „menschlichen Schutzschilden“, wie es immer wieder anklagend heisst, quasi gleichzusetzen ist mit der Hamas, von der sich offenbar niemand in Gaza jemals distanziert hat. Davon jedenfalls hört man nichts. Hat jemand vom Great March of Return 2018/19 gehört?[13] Es war nicht die Hamas, die diese gewaltlosen Demonstrationen in Richtung Grenzzaun initiiert und trotz brutalem Beschuss[14] durch israelisches Militär über Monate an ihnen festgehalten hat. Es waren ganz unterschiedliche Menschen junge, alte, Frauen, Kinder, Männer mit unterschiedlichen Lebensstilen und sozialen Hintergründen, unterschiedlicher Bildung und selbstverständlich auch unterschiedlichen Einstellungen zur Hamas.
Diese zum Teil ausgesprochen kritischen Einstellungen gegenüber der Hamas hat es immer gegeben. Sie artikulierten sich zum Beispiel sehr deutlich 2011 im zornigen Manifest von Studierenden in Gaza, das ein breites Echo in der gazauischen Jugend fand.[15]
Was mag aus den jungen Frauen und Männern geworden sein. Wer von ihnen lebt noch? Vierzehn Jahre, drei mörderische Feldzüge und einen genozidalen später?
Die grösste Gefahr für diese aufbegehrenden Jugendlichen wie für die Teilnehmer*innen am Great March of Return wie für jede*n im Gazastreifen ist Israel. Dieser Gefahr sind die Menschen seit Jahrzehnten schutz- und rechtlos ausgesetzt.
Kritiker*innen in Gaza müssen allerdings immer auch die Hamas fürchten, die über die dortige Bevölkerung herrscht und jedes Aufbegehren entweder zu vereinnahmen versucht oder gnadenlos bekämpft.
Gruppierungen, die in einer kolonialen oder postkolonialen Situation die Macht der Waffen und überhaupt die Macht haben in einem solchen abgekapselten Gebiet, lassen sich die Kontrolle nicht nehmen, wenn sich die Bevölkerung aufmacht (im Fall des Great March of Return zu Zehntausenden) und sich erhebt. Sie setzen alles daran, diesen Protest zu vereinnahmen, ihn als angeblich ihre Sache, ihre Errungenschaft zu reklamieren. Oder aber, falls das Aufbegehren sich konsequent auch gegen sie – etwa die Hamas oder die PA – wendet, werden die daran Beteiligten unerbittlich von diesen verfolgt.
Was hat die Hamas in der Hand?
Die Hamas hat in diesem Waffenstillstandsabkommen die israelischen Geiseln in der Hand, die sie einsetzen kann, um eine beträchtliche Zahl palästinensischer Gefangener aus israelischen Kerkern freizukaufen. Längstens bis ihnen die bargaining chips ausgehen.Den Erfolg der Befreiung palästinensischer Gefangener wird sie nutzen, um ihre Macht in Gaza weiter zu konsolidieren, ebenso andere Erfolge des Abkommens wie den der vorübergehend wieder möglichen humanitären Hilfe.
Was hat die Bevölkerung Gazas und was haben allgemein die Palästinenser*innen in der Hand, um endlich ihre Befreiung von Apartheid und Siedler*innen-Kolonialismus zu erreichen? – Sie haben nichts „in der Hand“, um in irgendeinem Deal zu triumphieren.
Sie haben ungleich Bedeutsameres auf ihrer Seite: die rund um den Globus kontinuierlich und seit dem Oktober 2023 sprunghaft wachsende Solidaritätsbewegung und deren kollektive Intelligenz, eine Bewegung, die über die Jahre in gemeinsamen Lernprozessen mit Palästinenser*innen und angestossen von ihnen, weitgehend die weiss-suprematistische (oder links-kampistische) Haltung anderer Solidaritätsbewegungen hinter sich