Immerhin ist Wegsehen schwieriger geworden. Seit nunmehr zwei Jahren dokumentiert die Bewegung Black Lives Matter Fälle von Polizeigewalt, die unbewaffnete Schwarze das Leben gekostet hat. Sie tut dies mit Bildern, Videos und Livestreams im Internet und organisiert über soziale Medien gleichzeitig auch den Protest auf der Strasse. Die jüngsten Fälle liegen nur wenige Tage zurück: Philando Castile aus Falcon Heights, Minnesota, starb in seinem Auto durch mehrere Schüsse, die ein Polizist aus nächster Nähe durch das geöffnete Wagenfenster auf ihn abgegeben hatte. Alton Sterling wurde auf einem Parkplatz in Baton Rouge, Louisiana, von zwei Polizisten zu Boden geworfen und buchstäblich exekutiert. Der Tod der beiden Männer war Anlass für die friedliche Protestkundgebung in Dallas vergangene Woche, an deren Rand – aber nicht aus deren Mitte – die fünf Polizisten getötet wurden.
Das Ghetto als Kolonie
Und plötzlich machen KommentatorInnen aus dem rechtsextremen wie konservativen Lager die Anwälte der Opfer zu Tätern. Black Lives Matter sei eine terroristische Gruppierung, die aus Hass Verbrechen begehe, hetzte der rechtsextreme Radiomoderator Rush Limbaugh über den Äther. Mit seiner Show erreicht er nahezu zwanzig Millionen AmerikanerInnen. Die Demonstrationsmärsche gegen Polizeibrutalität müssten sofort aufhören, fordern auch liberalere Stimmen. Stattdessen sei Versöhnung angesagt. «All lives matter», heisst es – und in Anspielung auf die Farbe der Polizeiuniformen: «Blue lives matter.»Was für ein scheinheiliger Unsinn! Versöhnung setzt voraus, dass man sich gleichberechtigt und auf Augenhöhe begegnen kann. Die viel beschworene «colorblindness» als vermeintlich liberale Ideologie entpuppt sich hier einmal mehr als das, was sie tatsächlich ist: blind für die alltäglichen Erfahrungen und existenziellen Nöte von Schwarzen, wie sie etwa Ta-Nehisi Coates in seinem Buch «Zwischen mir und der Welt» eindrücklich schildert (siehe WOZ Nr. 5/16). «Race» bleibt ein Tabuthema. Besonders irritierend ist, mit welcher Vehemenz selbst Barack Obama als erster schwarzer Präsident daran festhält.
Und so droht sich die Geschichte zu wiederholen. 1965 hatte der damalige Präsident Lyndon B. Johnson den Voting Rights Act – der den Schwarzen das Stimm- und Wahlrecht einräumte – unterzeichnet und die Ziele der Bürgerrechtsbewegung für erreicht erklärt. Wenige Wochen später brach im Stadtteil Watts in Los Angeles die erste grosse Ghettorevolte los. Ihr Auslöser: Polizeibrutalität. Ein junger Schwarzer war wegen eines harmlosen Verkehrsdelikts festgenommen worden.
Ein Jahr später begannen die Black Panthers im nördlich gelegenen Oakland damit, die schwarze Bevölkerung mit bewaffneten Patrouillen vor Übergriffen der Polizei zu schützen. Sie bezeichneten die schwarzen Ghettos als interne Kolonien und die Polizei als Besatzungsarmee, die nicht die Aufgabe habe, die Ghettobevölkerung zu beschützen, sondern sie zu terrorisieren und zu unterdrücken – um Macht und Privilegien der Weissen zu sichern. Nur indem sie der Polizei mit Waffen gegenüberträten, könnten sie die Situation ausgleichen, glaubten die AktivistInnen. Der Staat Kalifornien verbot daraufhin sofort das öffentliche Tragen von Waffen, und das Los Angeles Police Department legte mit der Schaffung der landesweit ersten Swat-Spezialeinheit den Grundstein für die rasante Aufrüstung und Militarisierung der Polizei.
Und die Black Panthers? J. Edgar Hoover, damaliger Chef der Bundespolizei FBI, erklärte sie zum «Staatsfeind Nummer eins» und stempelte sie mithilfe lokaler Polizeibehörden, Medien und Gerichte zu Kriminellen ab.
Systematische Kriminalisierung
Fast fünfzig Jahre später scheint Black Lives Matter dasselbe Schicksal zu drohen. Weil sie tun, was bereits die Black Panthers versuchten: den strukturellen Rassismus in den USA sichtbar machen. Polizeibrutalität ist dabei nur die Spitze des Eisbergs. Viel beunruhigender ist die Tatsache, dass heute in vielen US-Städten bis zu achtzig Prozent aller jungen schwarzen Männer vorbestraft sind und jeder zweite in den Mühlen des Justizsystems gefangen ist – also entweder tatsächlich im Gefängnis sitzt oder auf Bewährung draussen ist. Wer heute schwarz, jung sowie männlich ist und im Ghetto aufwächst, besitze eine mindestens 75-prozentige Wahrscheinlichkeit, im Verlauf seines Lebens im Gefängnis zu landen, schreibt die Juristin und Bürgerrechtsaktivistin Michelle Alexander in ihrem Buch «The New Jim Crow» (2012). So wird eine ganze Bevölkerungsgruppe systematisch kriminalisiert.Der Vorwurf der Polizeibrutalität beinhaltet dabei eine ganze Palette an Formen von Gewalt: Philando Castile war vom Polizisten, der ihn später erschoss, wegen eines defekten Rücklichts angehalten worden. Bereits zum 32. Mal hatte die Polizei ihn aus dem Verkehr gezogen. Für über sechzig geringfügige Verkehrsverletzungen war er zuvor bereits angezeigt worden. Abgesehen davon besass er keinerlei Vorstrafen. Und Alton Sterling war zwar vorbestraft, zum Zeitpunkt seines Todes aber als harmloser Hustler unterwegs, der CDs auf der Strasse verkaufte, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen – dies, weil er aufgrund seines Strafregistereintrags keinen Job fand.
Die Diskriminierung kartografieren
Das junge AktivistInnenkollektiv Mapping Police Violence sammelt und dokumentiert solch individuelle Geschichten von Opfern und macht so die dahinterliegende Systematik der Diskriminierung sichtbar. Über hundert unbewaffnete Schwarze starben allein 2015 durch die Hand von PolizistInnen – im Verhältnis zur Bevölkerungszahl sind das fünfmal mehr Schwarze als Weisse.97 Prozent aller PolizistInnen, die einen unbewaffneten Schwarzen erschossen haben, wurden in keiner Weise juristisch belangt. Schwarze hingegen, die vorbestraft sind, werden vom Justizsystem politisch, sozial und ökonomisch entmündigt und marginalisiert: Sie besitzen kein Stimmrecht, finden kaum Arbeitsmöglichkeiten oder Zugang zu subventionierten Wohnungen. Das Justizsystem reproduziert und garantiert so die seit jeher bestehende Hierarchie, wie Michelle Alexander in ihrem Buch aufzeigt.
«Diese Nation wurde auf der Basis der Überzeugung errichtet, dass Freiheit und Gerechtigkeit nur für einige und nicht für alle gelten», hat Alexander vor wenigen Tagen auf Facebook geschrieben – «some lives don't matter.» Sie glaubt nicht länger daran, dass die Polizei oder das Justizsystem reformierbar sind.
Nach den Ereignissen in Dallas wird die Bewegung den Protest mehr denn je in die Strassen tragen und den Rassismus immer wieder sichtbar machen müssen. «Race» darf nicht länger ein Tabuthema bleiben. Mit Sprüchen wie «all lives matter» und «blue lives matter» wird der strukturelle Rassismus ignoriert und unter den Teppich gekehrt. Die Ideologie der «colorblindness» hat ausgedient. Black lives matter.