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Die Barbarei des IS

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Paris, Beirut, Sinai: Provokationen für den «Endkampf» Die Barbarei des IS

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Politik

132 Menschen hat der «Islamische Staat» (IS) am 13. November 2015 in Paris umgebracht, 352 verletzt. In Beirut hat er am 12. November 44 Menschen ermordet. Und am 17. November wurde bestätigt, dass der IS auch für die Bombenexplosion im russischen Airbus über dem Sinai verantwortlich war, die 224 Menschen tötete.

Zerstörtes Militärfahrzeug der irakischen Armee nach einem IS-Angriff in Mossul.
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Zerstörtes Militärfahrzeug der irakischen Armee nach einem IS-Angriff in Mossul. Foto: Omar Siddeeq Yousif (CC BY-SA 4.0 cropped)

Datum 17. Dezember 2015
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Frankreich und Russland arbeiten seit dieser Bestätigung eng bei der militärischen Koordination ihrer Luftangriffe auf den IS zusammen - nur Beirut und der Libanon schauen fern von jeder weltweiten Aufmerksamkeit in die Röhre. Da wurden ja Muslime in einem muslimischen Land ermordet - mit der religiösen Ideologie der Muslime.

Für tote LibanesInnen strahlt der Westen keine öffentlichen Gebäude in den Landesfarben an und Facebook schaltet für Betroffene keinen Safety-Check frei. Es werde, so der fatale Eindruck in Beirut, im Westen eben auch beim Gedenken an die Opfer solcher Anschläge mit zweierlei Mass gemessen. Noch in der Not habe man dort nicht gelernt, Empathie für muslimische Opfer des IS zu zeigen und Teile der arabischen Bevölkerung für sich zu gewinnen. [1] Genese des IS - Abfallprodukt des Irakkriegs

Dabei ist die entschiedene Verurteilung der Pariser Anschläge in der arabischen Welt einhellig.

Nirgendwo gibt es Hintergedanken wie noch bei "Charlie Hebdo". Diese Leute wollen nichts mit dem IS zu tun haben, auch wenn der im Namen des Islam tötet. Aber ist es so einfach?

Tony Blair hat am 25. Oktober eine Teilschuld der britisch-US-amerkanischen Invasion im Irak zugestanden, doch auch gesagt: "ISIS trat aus einer Basis in Syrien hervor, nicht aus dem Irak." [2] Es ist die Lebenslüge aller damaligen Kriegsbefürworter, die die Genese des IS nicht sehen wollen. Denn der ging eindeutig aus dem Krieg im Irak hervor. Abu Bakr al-Baghdadi, seit 2010 Anführer des IS, heisst nicht zufällig "der aus Bagdad" [3]

Vor der US-geführten Invasion 2003 war Bagdad ungefähr zu gleichen Teilen von SchiitInnen und SunnitInnen bewohnt, es gab gemischte Stadtteile. Diktator Hussein herrschte mit der nationalistisch-säkularen Baath-Partei. Um die Militärinvasion zu stabilisieren, schufen die Invasoren eine interne Konfrontation, so Brigitte Kiechle in einer Zwischenbilanz aus 2006: "Durch die Ethnisierungspolitik der US-Administration und die Schaffung von Parteienbündnissen entlang ethnischer und religiöser Kriterien im Süd- und Nordirak sahen sich auch die (...) Menschen im Zentralirak dem Druck ausgesetzt, sich plötzlich über ihre Religionszugehörigkeit definieren zu müssen, wenn es um die Absicherung politischer Einflussmöglichkeiten geht." [4]

Doch die früher herrschende sunnitische Bevölkerung im Zentralirak wurde nun durch das schiitische Maliki-Regime (2006-2014) ausgebootet, die Armee und die Baath-Partei waren aufgelöst worden. Die gemischten Stadtteile Bagdads verschwanden, heute ist Bagdad grösstenteils schiitisch. Jean-Pierre Luizard analysiert: "Noch im ganzen Jahr 2013 drückte sich diese tiefe Unzufriedenheit [des sunnitischen Zentralirak] zunächst durch friedliche Protestbewegungen aus, die Slogans des arabischen Frühlings übernahmen. Der westlichen Öffentlichkeit ist kaum bewusst, dass diese Proteste im Irak oft mit derselben Brutalität niedergeschlagen worden sind wie die friedlichen Demonstrationen der syrischen Bevölkerung 2011/12." [5]

Zu Zeiten Husseins gab es al-Qaida im Irak nicht. Afghanistan-Kämpfer al-Zarqawi ging nach 2003 für al-Qaida in den Irak. Er konnte mit einer Ideologie des weltweiten Jihad jedoch im Zentralirak nicht Fuss fassen, weil die sunnitischen Clans dort ihre Macht in Bagdad zurückerobern wollten. Nach dem Tod al-Zarqawis 2006 übernahm sein Nachfolger Abu Omar al-Baghdadi bis 2010 diese innenpolitische Linie und benannte al-Qaida in "Islamischer Staat im Irak" (ISI) um. "Es kam zu einer Begegnung zwischen Islamisten, die aus al-Qaida hervorgingen und sunnitischen Offizieren der besiegten Armee Saddam Husseins, zu einer Konvergenz zwischen Baathismus und Islamismus." [6]

Ausdehnung auf Syrien: "Guter Jihad, böser Jihad"

"Insbesondere über den NATO-Staat Türkei wurde der IS mit Waffen und Gerät ausgestattet, finanzielle und materielle Unterstützung kam ausserdem aus den wichtigsten Partnerstaaten des Westens, Saudi-Arabien und Katar." [7] Im kapitalistischen Westen gibt es entgegen offiziellen Verlautbarungen eben keinen konsequenten Widerstand gegen reaktionären und radikalen Islamismus, sondern es gibt die Einteilung: "Guter Jihad, böser Jihad". "Gut" ist ein Jihad, wenn er für den Westen und den Kapitalismus geführt wird, wie während der russischen Besatzung Afghanistans oder strukturell im Falle Saudi-Arabiens und Katars. Auch nach der Niederschlagung des gewaltfreien Aufstands Ende 2011 in Syrien finanzierten US-Rüstungsfirmen und Geheimdienste "gute" Jihadisten für den Kampf gegen Assad vom Libanon aus. Bedingt durch die gute Ausrüstung und die erfahrenen Baath-Militärs Husseins konnte ISI 2012/2013 auch in Syrien Fuss fassen. Die syrischen "guten Jihadisten" schlossen sich den militärisch erfolgreicheren "bösen Jihadisten" an - und brachten gleich ihre US-Waffen mit ein. Der ISI benannte sich nun in ISIS (Irak und Scham, d.i. Grosssyrien und Levante) um. "Nach der Eroberung der syrischen Ölquellen um Deir as-Sor verkaufte er das erbeutete Erdöl an das Assad-Regime, Abnehmer in der Türkei und in den Irak." [8]

So gestärkt machte sich ISIS ab 2014 an die militärische Eroberung des Irak, im Januar fiel Falludscha. In der ersten Jahreshälfte 2014 wurden in Syrien die Nusra-Front (al-Quaida Syrien) in blutigen Kämpfen mit ca. 6000 Toten besiegt, 50.000 JesidInnen verfolgt. Erst als Mossul und Tikrit im Irak Ende Juni 2014 erobert und dabei riesige Finanzmittel und US-Waffen bis hin zu Panzern von der irakischen Armee erbeutet wurden, rief Abu Bakr al-Baghdadi im Namen des nunmehrigen "Islamischen Staats" (IS) das Kalifat aus und erklärte sich selbst zum Kalifen - mit prompter Ablehnung aller häretischen und orthodoxen Strömungen der islamischen Welt. 380.000 Irakis flohen in den kurdischen Nordirak.

Religion als Apokalypse: Futuhad-Jihad als Armageddon (Endkampf)

In Mossul rannten die schlecht bezahlten und korrupten Soldaten der irakischen Armee in Scharen vor dem ideologisch hoch motivierten IS davon. Und hier muss über die Verbindung zum Islam gesprochen werden, die es trotz aller Ablehnung in der muslimischen Welt eben doch gibt. Der IS stützt sich auf den historischen ersten Kalifen (Nachfolger Muhammads) "Abu Bakr". Bagdad war später zudem Sitz des späteren Kalifats der Abbasiden (750-1258), das auf die Omajjaden-Herrschaft in Damaskus folgte. Der IS sieht sich nun als "Hüter des wahren Glaubens" und Bewahrer des Erbes Muhammads sowohl im Irak wie in Syrien; die schwarze Farbe seiner Fahne trug Kriegsherr Muhammad bei der Eroberung Mekkas. Mit dieser historischen Legitimation wendet sich der IS seit 2014 an alle Muslims weltweit, in ihr "geistiges und spirituelles Zentrum" zu kommen: Es gehe nun nicht mehr nur um Irak und Syrien, sondern um die Weltherrschaft. [9]

Im Islam gibt es mehrere Gewalt-Interpretationen der Schriften, die meist mit der historisch zweiten Phase im Leben des Propheten zu tun haben, der Phase in Medina, in der er zum Staatskrieger wurde und als solcher Mekka eroberte, wo er vordem nur verfolgter Prophet war. Eine bestimmte Interpretation des Jihad - bei weitem nicht jede, er wird meist als nichtkriegerische "Anstrengung" interpretiert, insofern ist der Begriff Jihadismus für bewaffneten Islamismus falsch - nennt sich "Futuhad", und das ist die "Anstrengung zur Verbreitung des Islam" durch militärische Eroberung. Weil der Futuhad-Jihad aber als kollektiver Krieg gerade die individuelle Tötung von Nicht-KombattantInnen verbietet, bezieht sich der IS zugleich auf die "Ridda".

Dies bezeichnet den Glaubensabfall, der vor allem in der Zeit des ersten Kalifen viele arabische Stämme betraf, die nur kurz die Herrschaft des Staatskriegers aus Medina anerkannt hatten. Bei der "Ridda" gibt es nun keine ritterlichen Rücksichten mehr auf Nicht-Kombattanten oder ZivilistInnen. Und als "Apostasie" kann die Ridda auch gegen vom Glauben abgefallene Einzelpersonen ausgesprochen werden: Salman Rushdie, Taslima Nasrin, den sudanesischen Gandhi Mahmud Taha usw. "Mit grösster Brutalität, darunter Autobomben, Selbstmordattentaten und der Ermordung von Anführern ging Abu Bakr al-Baghdadi gegen solche islamistischen Gruppen vor, die er zuvor des 'Glaubensabfalls' bezichtigt hatte." [10]

Der Futuhad-Jihad gilt nicht als Sünde, weil es im Kampf gegen Ungläubige zur Verbreitung des Islam keine Sünde geben kann. Das "Haus des Krieges" (Harb), der Kampf gegen die Ungläubigen, läuft aus Sicht des IS auf eine Endschlacht zu, das "Armageddon", das in einem Hadith (Sätze des Propheten) überliefert ist: "Die letzte Stunde der Geschichte wird erst kommen, wenn die Römer (...) aufmarschieren. Dann wird eine Armee aus Medina aufbrechen (...) und sich ihnen entgegen stellen" [11] - einer gewaltigen Übermacht von 42 Heeren, die in der Gegenwart vom IS nur noch auf die westlichen Interventionsarmeen projiziert werden muss. Der IS sieht sich selbstverständlich als diese "Armee aus Medina."

Strategie der Attentate: Provokation für einen Bodenkrieg

Innerhalb des Islam gibt es einen innerkulturellen Kampf häretischer, gewaltloser Strömungen - etwa in Syrien von Jawdat Saïd - gegen die gewaltsamen Strömungen, teils orthodox, immer islamistisch. In Syrien und im Irak hat durch die Siege des IS der gewaltsame Islam im Moment die Oberhand gewonnen. Der IS will sein Armageddon auf dem Gebiet des Kalifats austragen. Strategisch will der IS deshalb die westlichen Militärmächte zu einer Bodenoffensive provozieren.

Diesem Ziel dienten bereits die über Internet in Videos verbreiteten Enthauptungen britischer und amerikanischer Geiseln, diesem Ziel dienen auch die Pariser Attentate. Vor dieser Strategie warnen viele kritische Beobachter, Jürgen Todenhöfer ebenso wie Michael Lüders: Der IS und dessen militärische Führung der Saddam-Generalität "will Amerikaner und Europäer zu einer Bodenoffensive verleiten. Wohl wissend, dass diese einen solchen Krieg nicht gewinnen könnten - siehe Afghanistan, siehe Irak in den Jahren der Besetzung." [12] Ein weiteres strategisches Ziel, so Gilles Kepel, sei die Provokation eines Bürgerkrieges in Europa, wodurch die europäische Mehrheitsbevölkerung gegen die gemässigte muslimische Bevölkerung in den Kampf geführt werden soll. Strategisch sollen dann immer grössere Teile der Letzteren islamistisch werden. [13] Die einhellige Verurteilung der Anschläge durch die MuslimInnen in Frankreich steht dem entgegen.

Hollande und sein Premier Manuel Valls haben die französische Öffentlichkeit nun auf einen langen Bombenkrieg eingestellt. Die Bundeswehr wird aufgerufen, für französischen Truppenentsatz im Sahel, etwa in Mali, zu sorgen. Nur eines ist dabei sicher: Dass die französische und europäische (auch die deutsche) Rüstungsindustrie über Jahrzehnte hinweg dabei fett profitieren wird. Lüders: "Grossangelegte Bodenoffensiven sind erst einmal passé, nunmehr sollen es Drohnen und Luftangriffe richten, in Verbindung mit fragwürdigen Bündnispartnern vor Ort. Rational ist das nicht, aber profitabel. So hat sich der Aktienkurs des grössten US-Rüstungskonzerns, Lockheed Martin, zwischen Mitte 2010 und Mitte 2014 verdreifacht." [14]

Trotzdem hat der IS in jüngster Zeit militärische Niederlagen erlitten: Tikrit wurde im März 2015 von der irakischen Armee zurückerobert; Sinjat fiel am 12. November 2015 in die Hände der kurdischen Peschmerga. Doch selbst wenn die Bomben und gezielte Kampfangriffe von Verbündeten am Boden das Territorium des IS vollständig erobern sollten, wäre das weder das Ende des IS noch eine Garantie gegen Attentate in europäischen oder US-amerikanischen Städten. Selbst wenn der Islamische Staat "zerfiele oder in die Defensive geriete, würden die Kämpfer untertauchen, unter neuem Namen weitermachen oder sich aufspalten." [15]

Laut der "International New York Times" vom 16. November 2014 hat der IS bereits auf dem Sinai/Ägypten sowie im bürgerkriegszerrütteten Libyen um die Region Sirte solch stabile und eng kooperierende Basen aufgebaut, dass die Militärführung leicht dorthin verlegt werden kann. [16]

Nur wenn der IS keinen finanziellen und militärischen Nachschub mehr bekommt, also die internationale Waffenlobby ihr mörderisches kapitalistisches Geschäft nicht weiter betreiben kann, wenn also Bürgerkriege ausgetrocknet werden, kann sich die sunnitische Basis vom IS abwenden.

Parallel dazu gehört in Europa neben der angewiderten Abwendung der gemässigten MuslimInnen die aktive Bekämpfung von Nazis, Pegida und anderen RassistInnen, aber auch eine nicht-rassistische Empathie für muslimische Opfer (siehe Beirut), um einen europäischen Bürgerkrieg zu verhindern.

af / Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 404, Dezember 2015, www.graswurzel.net

Fussnoten:

[1] Benjamin Barthe: "Pour les Libanais, on ne crée pas de bouton sur Facebook" (Für Libanesen gibt es keinen Knopf bei Facebook), in: Le Monde, 17.11.2015, S. 21.

[2] Zit. nach Daniel Politi, in: The Slatest, 25.10.2015: https://www.slate.com/blogs/the_slatest/2015/10/25/video_tony_blair_acknowledges_iraq_invasion_played_role_in_islamic_state.html

[3] Michael Lüders: Wer den Wind sät. Was westliche Politik im Orient anrichtet, Beck, München 2015, S. 89.

[4] Brigitte Kiechle: Das Kriegsunternehmen Irak. Eine Zwischenbilanz, Schmetterling Verlag, Stuttgart 2006, S. 277.

[5] Pierre-Jean Luizard: Le Piège Daech. L'État islamique ou le retour de l'Histoire (Die Falle Daech. Der Islamische Staat oder die Rückkehr der Geschichte), La Découverte, Paris 2015, S. 20.

[6] Jean-Pierre Perrin: "L'État islamique, un ennemi insaississable" (Der Islamische Staat, ein nicht greifbarer Feind), in: Libération, 17.11.2015, S. 6; siehe auch Michael Lüders, a.a.O., S. 93; siehe auch Clemens Ronnefeldt: "Islamischer Staat", Manuskript, 16.11.2015.

[7] Nicolai Hagedorn: "Barbarei als Geschäftsidee. Der 'Islamische Staat' und das Geschäftsfeld 'Expansion durch Eroberung' ", in: GWR 391, September 2014, S. 2.

[8] Michael Lüders, a.a.O., S. 91.

[9] Ebenda, S. 90.

[10] Ebenda, S. 91. Zur Gewaltbegründung Futuhad und Ridda siehe Bruno Weil: "Gewalt und Gewaltfreiheit im Islam", in: Clara und Paul Reinsdorf (Hg.): Salam oder Dschihad?, Alibri Verlag, Aschaffenburg 2003, S. 113ff.

[11] Michael Lüders, a.a.O., S. 88.

[12] Ebenda, S. 103 oder auch das Interview mit Jürgen Todenhöfer in titel-thesen-temperamente, Sendung vom 15. November 2015.

[13] Gilles Kepel: "L'État islamique cherche à déclencher und guerre civile" (Der Islamische Staat will einen Bürgerkrieg lostreten), Interview in: Le Monde, 17. November 2015, S. 34.

[14] Michael Lüders, a.a.O., S. 82.

[15] Ebenda, S. 86.

[16] Eric Schmidt, David D. Kirkpatrick: "ISIS shifts its strategy and takes battle abroad" (ISIS verändert die Strategie und führt Krieg in Übersee), in: International New York Times, 16. November 2015, S. 1 und 6.