Wie schon dieses Zitat vermuten lässt, hat Graeber nicht wirklich eine strukturierte Kritik am Poststrukturalismus vorzubringen, sondern seine Abneigung basiert u.E. lediglich auf - allerdings recht populären - Vorurteilen, wie wir sie in jüngerer Zeit in linken Debatten häufig antreffen. Nicht alles an dieser Kritik ist vollkommen unberechtigt.
Es gilt, zwischen den durchaus kritischen Ursprüngen und Weiterentwicklungen des Poststrukturalismus - die häufig auch Weiterentwicklungen marxistischer sowie libertärer Positionen sind - und seiner populistischen und oft tatsächlich entpolitisierenden Varianten, die Einzug in das Akademische gehalten haben, zu unterscheiden.
Gerade poststrukturalistische Ansätze sind in den vergangenen Jahren, so betonen etwa Isabel Lorey, Gerald Raunig und Roberto Nigro in ihrem Buch zur Re-Politisierung des Poststrukturalismus, häufig "im Austausch mit sozialen Bewegungen und mikropolitischen Praxen" in Verbindung mit libertären Politiken zum Ausdruck gekommen - also solchen Praktiken und Theorien, für die auch Graeber steht.
Poststrukturalistische TheoretikerInnen wie Slavoj Žižek und Judith Butler sind in der Occupy-Bewegung nicht nur beliebte RednerInnen, sondern teilweise sogar aktiv.
Darüber hinaus gibt es auch eine mittlerweile mehr als zwei Jahrzehnte währende anarchistische Auseinandersetzung mit poststrukturalistischer Theorie, die eine Reihe positiver gegenseitiger Bezugspunkte herausgearbeitet hat.
Nicht zuletzt wegen dieser durchaus produktiven Bezugnahmen lohnt es sich auch, sich näher mit Graebers Ablehnung zu beschäftigen.
Worauf gründet sich Graebers Skepsis gegenüber dem Poststrukturalismus und was ist ihr entgegenzuhalten?
Die Natürlichkeit des Sozialen und der politische Zynismus
Schon in seinem Buch "Frei von Herrschaft. Fragmente einer anarchistischen Anthropologie" polemisiert Graeber gegen Michel Foucault: Ein Begriff von Macht, der, wie jener Foucaults, davon ausgehe, "dass rohe Gewalt kein entscheidender Faktor mehr für soziale Kontrolle" sei, sei genau das richtige für pseudoradikale Intellektuelle, die keine Ahnung von der brutalen Welt da draussen hätten.Rohe, aber auch strukturelle Gewalt - das konstatiert Graeber letztlich im Einklang mit den meisten Anarchismen - sei die zentrale Ordnungsweise und zudem die "Grundlage des Staates" .
Dass Macht auch produktiv und nicht-intentional wirkt, wie Foucault meint, und dass der Staat auch mittels Abschöpfung dieser Produktivität, mit Vereinnahmung aber auch Partizipation herrscht, das kann bzw. will Graeber - wieder: wie die meisten AnarchistInnen - nicht denken.
Für David Graeber ist der Staat eine immer gleich funktionierende Repressionsmaschinerie - das Konzept steht der Foucaultschen Kritik der Repressionshypothese diametral entgegen.
Dabei hatte sich Foucault implizit auf einen Klassiker der anarchistischen Literatur bezogen, als er die Frage formulierte, wie es denn sein könne, dass Menschen sich dermassen regieren lassen: Die Inspiration war Étienne de La Boéties "Von der freiwilligen Knechtschaft", ein Essay von 1574, in Deutschland durch die Übersetzung Gustav Landauers bekannt geworden.
Graeber dagegen steht als Anthropologe auch in einer anarchistischen Tradition, die vom Poststrukturalismus zu recht immer wieder angegriffen wurde und wird: Das Soziale wird darin immer auch auf "Natürlichkeit" zurückgeführt, sie ist auch für Graeber gegeben und entwickelt sich - kollektives Eigentum und Freiheit sind für ihn "Naturzustände" , die er als gegeben hinnimmt. Hier akzeptiert Graeber die historischen Quellen als "wahr".
Graeber setzt dabei den modernen Freiheitsbegriff als gegebenen und korrekten voraus. - Während "Natur" das immer gleiche bezeichnet und offenbar auch immer bezeichnet hat, skizziert Graeber zwar genau, wie sich der Freiheitsbegriff verändert hat, setzt hier aber die aktuelle Bedeutung als Massstab für die Geschichte an. Beide Vorgehensweisen stehen in einem Widerspruch zu poststrukturalistischen Theorien. Die Entwicklungstheorie, die Graeber hier implizit voraussetzt, ist sicherlich der Idee einer Anthropologie immanent. Sie ist näher am Marxismus, als Graeber es wahrscheinlich gerne hätte.
Und sie ist die Grundlage für seine kritischen Äusserungen zu poststrukturalistischen Annahmen: In Michel Foucaults Analyse von Formen institutionellen Wissens und der daran anschliessenden These, dass dieses Wissen durch seine Verknüpfung mit gesellschaftlicher Macht Realitäten nicht nur abbildet, sondern auch schafft, sieht Graeber nicht Foucaults emanzipatorische Absicht, diese Verquickung von Wissen und der Herstellung der Wirklichkeit offenzulegen.
Im Gegenteil, er legt nahe, Foucault tue "fast haargenau das Gleiche" wie die religiöse Rechte, die ihre Weltsicht zur allgemein gültigen erkläre und zwar mit dem Hinweis auf deren angebliche Übereinstimmung mit einer gottgewollten Ordnung. Zwischen der normativen, von den Rechten angewandten und der analytischen, Foucaultschen Dimension der Behauptung "Worte schaffen Wirklichkeiten", unterscheidet Graeber nicht.
Das zeitliche Aufeinandertreffen von "der Luftblasenwirtschaft der 90er Jahre" und dem Entstehen eines Stroms (sozialkonstruktivistischer) "neuer radikaler theoretischer Ansätze - Performanztheorie, Akteur-Netzwerk-Theorie, Theorien immaterieller Arbeit -", scheint ihm Beleg für deren politische Gemeinsamkeit: Sie teilten das gemeinsame "Postulat, die Realität sei jeweils das, von dem man andere überzeugen könne."
Aus der Sicht der meisten Menschen, denen nichts übrig bliebe, als in der Realität zu leben, die sie nun gerade vorfänden, sei diese Haltung zynisch, sogar ein "Zynismus auf einem geradezu mystischen Niveau."
Drei beispielhafte Annäherungen: Politik, Geld, Identität
Erstens ist die Zusammenfassung der neuen theoretischen Ansätze sicher etwas summarisch. Es geht ja nicht nur um die realitätswirksame Überzeugungsarbeit, sondern um Ressourcen zur Durchsetzung bestimmter Sichtweisen, um die Beziehungen zwischen verschiedenen Bedeutungen, um bewusste und unbewusste Strategien und schliesslich um Machtverhältnisse.Deshalb ist es zweitens merkwürdig, dass Graeber hier politisch nur Zynismus sieht, anstatt den emanzipatorischen Impetus der sozialkonstruktivistischen Ansätze zu erkennen. Denn wenn soziale Realitäten durch soziale Macht- und Kräfteverhältnisse entstehen, konsolidiert und aufrechterhalten werden, können sie in diesen und durch diese auch verändert werden.
Nichts anderes beschreibt ja auch Graeber selbst unermüdlich in seinen Büchern - umso merkwürdiger also die Fehleinschätzung gegenüber poststrukturalistisch-sozialkonstruktivistischen Ansätzen. Während Graeber hin und wieder zu essenzialisierenden Erklärungen neigt, gibt es eben auch Beispiele, in denen er sich letztlich sozialkonstruktivistischen Argumentationsweisen annähert.
Erstes Beispiel: Die Frage der Politik.
In Inside Occupy führt Graeber eine Diskussion über die Begriffe Politik und Demokratie fort, die er schon in Frei von Herrschaft begonnen hatte.Er bespricht u.a. einige gängige Vorstellungen, die mit den Begriffen Demokratie und Politik verbunden sind und beschreibt dabei die vergessenen (und vergessen gemachten) Einflüsse auf die US-amerikanische Verfassung. Dabei betont er, dass die wahren demokratischen Verfahren vermutlich viel eher auf den indigenen Irokesenbund und die Piratenschiffe des 17. und 18. Jahrhunderts - Graeber nennt letztere einen "perfekte(n) interkulturelle(n) Versuchsraum" - zurückgehen als auf George Washington und Konsorten.
Auch die Occupy Wall Street-Bewegung beschreibt Graeber als einen der "Räume demokratischer Kreativität"
Sehr unterschiedliche Menschen kämen darin zusammen und müssten sich vor allem grundsätzlich darauf einigen, "was Politik eigentlich ist." Politik ist also in Graebers Verständnis nichts essenziell feststehendes, das sich akademisch definieren liesse.
Allein aufgrund der unterschiedlichen Bedeutungen, die das Wort Demokratie im Laufe der Geschichte in unterschiedlichen Kontexten innegehabt hätte, könne ein einziger Kern unmöglich festgestellt werden, es "gibt hier eindeutig kein 'wahres Wesen' zu entdecken."
Demokratie und Politik bestünden vielmehr aus konkreten Praktiken und den Arten und Weisen, in denen diese Praktiken konzeptualisiert werden (d.h. es muss auch eine Übereinstimmung darüber bestehen, dass etwa Handzeichen-Geben und das menschliche Mikrofon etwas mit politischer Entscheidungsfindung zu tun haben, und nicht nur Folklore sind.)
Der Begriff von Politik, auf den sich die Occupy-Bewegung verständigt hat - und den Graeber als "Verfahren kollektiver Problemlösung" verstanden wissen will -, entspricht sicher nicht dem, von dem Wall Street-Angestellte denken, "was Politik eigentlich ist."
Die OWS-Bewegung hat, wie jede soziale Bewegung, also u.a. das Anliegen, ihr Postulat von Politik in Realität umzusetzen. Ist also auch die OWS-Bewegung zynisch? Nein, denn weder sie noch poststrukturalistisch-sozialkonstruktivistische Theorieansätze behaupten - von Ausnahmen abgesehen -, dass die Umsetzung von irgendetwas in Realität einfach sei und dass dazu nicht bestimmte soziale Bedingungen, kulturelle Techniken und symbolische Transaktionen nötig sind.
Zweites Beispiel: Geld
In Bezug auf das Geld, dessen angeblich notwendige Entstehung in komplexen Gesellschaften er in seinem Schulden-Buch so vehement bestreitet, ist Graeber sozialkonstruktivistischen Erklärungen ebenfalls nicht abgeneigt. Geld selber, betont er, habe "keine Essenz" . Was es ist und jeweils bedeutet, sei daher stets "politisch umstritten"Graebers Geschichte der Schulden rekurriert in diesem sozial-konstruktivistischen Sinne eben nicht auf eine lediglich historisch-materialistische Geschichte der Ökonomie, sondern bezieht die Geschichte der Geschlechterverhältnisse, der Religionen und zahlreicher anderer Aspekte mit ein - ähnlich wie Marieke de Goede ihre poststrukturalistische Genealogie des Finanzwesens anlegt.
Selbst der Finanz-Crash 2008 sei letztlich nicht als Aufeinandertreffen verschiedener ökonomischer hard facts zu verstehen, sondern als Kampf "um die Definition von Geld und Kredit."
Dass die Definitionen der Dinge und Zusammenhänge von mächtigen, oft nicht eindeutig zu benennenden und in ihren Interessen vielfältig ausgerichteten AkteurInnen handfeste, reale Auswirkungen haben - nichts anderes hatte auch Foucault behauptet.
Insofern kann das Buch Schulden. Die ersten 5000 Jahre als eine Diskursanalyse im Sinne Foucaults gelesen werden.
"Schulden" sind für Graeber letztlich das, was Foucault ein Dispositiv genannt hätte.
Allerdings sind es für Foucault die Brüche, die es zu analysieren gilt, während Graeber - obwohl er eine "grosse Erzählung" der Ökonomie eindeutig (auch gegen den Marxismus gewandt) und damit einhergehend eine Essenzialisierung der menschlichen Natur als "homo economicus" ablehnt.
Während Graeber in "Inside Occupy" die Vorstellung, Realität durch Sprache (also den Diskurs) zu verändern, eindeutig ablehnt bzw. eine solche Strategie schlicht als "Lügen" entlarven möchte und eine angebliche Parallelität neoliberaler Ökonomie und poststrukturalistischer Theorie nahe legt, impliziert der Aufbau von "Schulden" eine sprachliche Grundlage des heutigen ökonomischen Systems. Folglich spricht er auch vom "Diskurs der Wirtschaftswissenschaften" und weist, Keynes zitierend, darauf hin, dass die Macht des Staates darauf basiere, Begriffe zu klären und den Sprachgebrauch zu ändern". Es ist sicher problematisch, die Finanzen - letztlich: das Geld - mit Sprache und Diskursivität gleichzusetzen, nichtsdestotrotz zeigt gerade Graebers Analyse, das verschiedene Arten von Geld historisch Kommunikationsmittel waren, dass das, was Geld also begrifflich ist, nicht nur diskursiv hergestellt wurde, sondern auch, dass die Funktion des Geldes zumindest teilweise diskursive Wirkungen hat.
Letztlich legt Graeber so etwas wie eine "Grammatologie" des Geldes vor. Insbesondere, wenn er analysiert, dass in der "Achsenzeit" (bei ihm die Jahre 800 v.u.Z. - 600 n.u.Z.) ein historischer Bruch einsetzt, der Philosophie und Politik nachhaltig beeinflusst, wird eine Verwandtschaft zu Foucault deutlich. Letztlich beschreibt Graeber, wie Diskurse um Politik, Wirtschaft und Militär sich gegenseitig beeinflussten und einem Utilitarismus den Weg bahnten: der Möglichkeit, "einen Nachbarn wie einen Fremden zu behandeln".
Drittes Beispiel: Identität
Trotz seiner jeglichem poststrukturalistischem Denken widersprechenden Essenzialisierung hat Graeber einen dem Poststrukturalismus nicht unähnlichen skeptischen Blick auf Identität: "Die Logik der Identität ist immer und überall mit der Logik der Hierarchie verwoben. [...] In dem Augenblick, da wir ein Gegenüber als eine andere Art Mensch erkennen, [...] werden die normalen Regeln der Gegenseitigkeit modifiziert oder ausser Kraft gesetzt".Die Kritik an den Klassifizierungen von Menschen - Identitätszuschreibungen und Identitätskritik -, die dann in eine Ordnung gebracht werden, sortiert in die "Eigenen" und die "Anderen", das ist wohl das Hauptprojekt poststrukturalistischen Denkens.
Warum harmoniert Graeber diesbezüglich - er nennt als Beispiele "Rasse" und "Kaste" - plötzlich mit der sonst kritisierten poststrukturalistischen Position?
Die poststrukturalistischen Beurteilungen dieser Klassifizierungen sind in ein akademisches Kanon-Wissen all jener eingegangen, die sich für derartige Probleme interessieren, sie sind allgemein nachvollziehbar und plausibel. In diesem Bereich unterscheiden sich die Meinungen und Ziele Graebers nicht vom Poststrukturalismus, die Akzeptanz dieser Position stört nicht in seinem Gesamtkonzept.
Der prädiskursive Mensch und die konstruierte Gesellschaft
Der entscheidende Unterschied zu den Theoremen des Poststrukturalismus liegt in Graebers Annahme einer prädiskursiven Realität: Graeber spricht zwar von der Einbindung in Diskurse, in diesen spiegelt sich aber lediglich etwas wider. In den Diskursen findet er die Reaktionen der Menschen, die vorher, so impliziert er, nicht in Diskurse eingebunden waren. Bescheiden, wie er ist, betont er, dass "allein die Anthropologen [...] in der Lage" sind, diesen prädiskursiven Zustand der Menschen "zu beobachten".Dieser essenzielle individuelle Mensch steht bei Graeber zahlreichen Konstrukten gegenüber: Letztlich ist ihm auch die Gesellschaft ein Konstrukt. Die Gesellschaft, so Graeber, muss "beständig neu geschaffen werden".
Ebenso wie im Poststrukturalismus ist bei Graeber gemeint: Die durch Staatsgrenzen, Religionen, Milieus oder Ethnien voneinander abgegrenzten Gesellschaften sind Konstrukte, sie tendieren zu einer gesellschaftlichen Totalität und exkludieren die Vielfalt der Minderheiten. Sowohl in einer entpolitisierten Variante des Poststrukturalismus wie auch im Neoliberalismus ist daraus das Thatchersche Diktum "There is no such thing as society" geworden, der sich Graeber hier erstaunlicherweise anschliesst. Während aber der Poststrukturalismus letztlich nur darauf hinweist, dass Gesellschaft nichts essenzielles, absolutes, ahistorisches oder unveränderbares ist, geht Graebers "antigesellschaftliches" Denken weit über den Gesellschaftsskeptizismus des Poststrukturalismus hinaus.
Im Poststrukturalismus mag die Gesellschaft als Konstrukt verstanden werden, teilweise sogar als sprachliches. Eben dieser Aspekt der poststrukturalistischen Gesellschaftsanalyse wird oft als "antigesellschaftlich" kritisiert.
Übersehen wird dabei meist, dass die Analyse als Konstrukt noch lange keine wertende Aussage beinhaltet: Die Gesellschaft ist hier nicht weniger "real" als in anderen Gesellschaftstheorien. Da Graeber einen solchen "Relativismus" aber in Bausch und Bogen ablehnt, bedeutet seine Anzweiflung der Gesellschaft, es gäbe diese tatsächlich nicht, selbst wenn man sich bemühte, sie sprachlich zu konstruieren.
Eine solche Bemühung sei, so Graeber ausführlich in Inside Occupy, eine Fiktion. Zugleich aber legt er dar, dass der Markt genauso sprachlich konstruiert wurde: letztlich finden wir doch eine Menge von Menschen vor, die durch sprachliche Mittel überzeugt wurde, sich kollektiv in Marktförmigkeit zu verwalten.
Bei Graeber steht also ein essenzieller, natürlicher Mensch (ein Individuum, dessen Realität Graeber nicht bezweifelt) gegen eine letztlich fiktive, weil nur sprachlich konstruierte, Gesellschaft. Das ist eine erstaunliche Argumentationsweise für jemanden, der sich positiv auf einen "elementaren Kommunismus", das Gemeinsam-Machen mehrerer Menschen, beruft, der sich rühmt, die Parole der "99 Prozent" erfunden zu haben - denn man fragt sich unvermeidlich: 99 Prozent von was?
Was Graeber ignoriert - zumindest wenn es ihm nicht in den Kram passt wie bei der Konstruktion des Marktes - ist das Sprechen als produktive Tätigkeit des oder der Menschen, im letzten Falle in einer durchaus diversitären Kollektivität, als Gesellschaft, die eben Diskurs (re)produziert.
Graeber gefällt sich in der Rolle des absoluten Verneiners von Gesellschaft - und bleibt damit letztlich genau in der von ihm kritisierten klassischen Spielart des Materialismus verhaftet.
Dass Graeber auf diese Analyse seine anarchistische Staatskritik aufbaut, zeugt von einer eher individual-anarchistischen Tradition, letztlich auch einer US-amerikanischen Tradition von Anarchismus.
Diese Gesellschafts- und Anarchismus-Interpretation basiert auch auf der Hegemonie des Neoliberalismus in den USA. Graeber möchte die These einer Konkurrenz zwischen "Regierungen und Kaufleuten" widerlegen, indem er den Diskurs nachvollzieht, der zu dieser These geführt hat - letztlich ist dies - aber nicht der Diskurs, sondern lediglich eine hegemoniale Diskursposition, die zudem im "Alten Europa" keineswegs so hegemonial ist.
Die Komplexität der Herrschaft und das Begehren nach Eindeutigkeit
Ein guter Grund dafür, sich für poststrukturalistische Aspekte im Anarchismus stark zu machen, besteht letztlich in der Komplexität gegenwärtiger Herrschaftsverhältnisse.Diese ist mit einem an Foucault angelehnten Machtbegriff eben doch besser zu beschreiben als mit dem traditionell anarchistischen. Letzterer fasst Macht vor allem als Gewaltverhältnis, deren oberster Ausdruck und Vollstrecker der Staat ist.
Herrschaft heute, liesse sich einwenden, funktioniert aber längst nicht mehr allein durch Knechtung, Unterdrückung und Gewaltausübung und -androhung - sondern mit Hilfe von Kooptation, Einbindung, Beteiligung, Abschöpfung der allgemeinen Produktivität, Partizipation auf allen Stufen der sozialen Hierarchie.
Einerseits fällt der 99-Prozent-Slogan selbst hinter all die differenzierten Herrschaftsanalysen zurück, denn er trennt ja schlicht zwischen Herrschenden (1%) und Beherrschten (99%).
Andererseits aber sind die Praktiken OWS und sogar die der weltweiten Occupy-Bewegungen da schlauer, sie scheinen sich dieser Aspekte der Einbindung etc. klar zu sein: In ihrer Verweigerung, Forderungen zu formulieren da, wie Graeber selber beschreibt, "dadurch die Legitimität - oder zumindest die Macht - jener anerkannt würde, an die die Forderungen gestellt werden", agieren sie gerade im Sinne einer Bewegung, die sich der Ambivalenz von Souveränitäten, Repräsentationen und Identitäten bewusst ist.
Graeber selbst muss in dieser Hinsicht letztlich auch einlenken. Im Interview mit der Kölner Stadtrevue muss er einwenden: "Man kann nicht behaupten, es gibt unter der Hülle des Kapitals intakte Strukturen der Menschlichkeit, unser Leben ist auf mannigfaltige Weise mit dem Kapital verwickelt, diese Verfilzung müssen wir analysieren."
Gleiches liesse sich über den Staat sagen, dass alle mit ihm auf vielfältige Weise verknüpft sind, eingebunden in seine Strukturen, die nur durch diese Einbindung aufrechterhalten werden können.
Indem Graeber aber - wie die meisten AnarchistInnen - den Staat auf Polizei, Militär etc., auf Gewalt und Repression also, reduziert, lassen sich die Verfilzungen gerade nicht analysieren. Nicht analysieren lassen sich mit diesem Staatsverständnis auch die vielen Differenzen unter den Marginalisierten.
Die unterschiedliche strukturelle Betroffenheit von Ausbeutung, Ausgrenzung und Diskriminierung, die seit Jahrzehnten Thema von Feminismus und E
thnizitäts- und Rassismusforschung sind, werden im Anarchismus bisher nicht gerade ausufernd thematisiert.
Graeber tut nicht viel, um diese Lücke zu schliessen. Hier könnte eine poststrukturalistisch informierte Herrschaftskritik, die alle Formen von auf unterschiedlichen Ressourcen basierenden Repräsentationen (inklusive ihrer materiellen Grundlagen) untersucht, eventuell Abhilfe schaffen.
Die zunehmende Kritik am Poststrukturalismus ist u.E. auch mit einem - krisenbedingten - neuen Begehren nach Eindeutigkeit zu erklären.
Für breite Bevölkerungsschichten findet sich diese wieder in der Religion, unter Gesellschaftskritiker_innen einerseits in einer neuen Marx-Lektüre, die sich lediglich als wissenschaftliche Ökonomie-Analyse versteht und andererseits in einer recht breiten Besinnung auf die Naturwissenschaften, die tendenziell die Emanzipationsbestrebungen aus Gender- und Queer-Aktivismus und -Forschung gefährdet.
Die Popularisierung der Anthropologie, gerade in Deutschland lange eher kritisch beäugt, fällt als interdisziplinäre Humanwissenschaft, die Aspekte der Biologie mit aufnimmt, in diesen Bereich.
Die Anthropologie neigt zu Essenzialisierungen und sogar zur Naturalisierung (sei es einzelner "Ethnien" oder gar der gesamten Menschheit).
Solche Essenzialisierungen sind unseres Erachtens aus anarchistischer Sicht zurückzuweisen, selbst wenn sie - wie eine anarchistisch motivierte Anthropologie es auch vor Graeber schon tat - bei den Beherrschten und Ausgebeuteten so etwas Verlockendes wie "antiherrschaftliche Mentalität" aufzufinden vermeint.