Dem deutschen Bundespräsidenten ist die öffentliche Erinnerung an diese Tat vor 5 Jahren in gewohnter Manier eine bundespräsidiale Rede wert. In dieser Rede brandmarkt er angesichts der stabilen Kontinuität gewalttätiger Attentate, "bei denen so viele Menschen sinnlos ihr Leben verloren haben", (Steinmeier-Rede, 19.[2].2025)[2] die Unerlaubtheit dieser Gewalttaten.
Womit er bekundet, dass Gewalt-und Bluttaten, die Abertausende und Abertausende Menschenleben fordern, zuweilen notwendig, legal, gerechtfertigt und gerecht sind, sofern sie der staatlich anbefohlenen Kriegswilligkeit und Kriegstüchtigkeit entspringen. Dann sind die Menschenleben-Opfer nicht "sinnlos". Ansonsten ist auch diese bundespräsidiale Rede erschöpfend mit Hegels Wort charakterisiert:
"Die Heuchelei; in dieser kommt die formelle Bestimmung der Unwahrheit hinzu, das Böse zunächst für andere als gut zu behaupten und sich überhaupt äusserlich als gut, gewissenhaft, fromm u.dgl. zu stellen, was auf diese Weise nur ein Kunststück des Betrugs für andere ist." (Hegel, 1821)[3] Seit 1945 für den demokratischen Geist der Zeit kennzeichnend ist allerdings die Frage: "Wie konnte das geschehen?" (Steinmeier, ebd.) Das bedarf einer Antwort.
In Begleitung zu diesem Gewaltakt veröffentlichte der Attentäter von Hanau ein "Manifest", gleich etwa dem Attentäter in Halle im Oktober 2019, gleich dem Attentäter in El Paso im August 2019, gleich dem Christchurch-Attentäter im März 2019, gleich dem Attentäter im OEZ in München im Juli 2016, auch gleich dem Oslo-Utoya-Attentäter im Juli 2011. Damit offenbarte der Hanau-Attentäter dem Publikum, dass er sich und seine Tat geistesverwandt mit diesen Vorgängern und mit dem rechtsextremen Spektrum überhaupt verbunden sieht. Auch darin verbunden sieht, die einmal gewonnenen Gedanken und Überzeugungen, das berühmte "Gedankengut", in die Tat umzusetzen, sollte auch darüber das eigene Leben verloren gehen.
Insofern kein Zufall: Längst auch in Hessen bevölkerten Wahlplakate der AfD zu Shisha-Bars den öffentlichen Raum mit etwa folgenden, alarmistisch dick aufgetragenen, ins Auge springenden Plakatsprüchen[4]: Shisha-Bars: "Nachahmung orientalischer Lebensweise"; “Kontrollen in Shishabars förderten Straftaten zu Tage”; "Gruppenvergewaltigung in Shisha-Bar!" "Kontrollen in Shisha-Bars förderten Straftaten zu Tage."
Diese Plakate wollen keinen Unterschied geltend machen zu unzweideutig rechtsextremen "Informationen", die in den entsprechenden Gruppen, Gruppierungen, Milieus, Kameradschaften, Subkulturen, realen wie digitalen Netzwerken, Echokammern, Chat- und Dark-Rooms reihum gereicht werden. Gewiss haben auch diese Shisha-Bar-"Informationen" der AfD-Plakate den Attentäter von Hanau überzeugt. Die vom Attentäter klar ausgewählten Orte der Gewalttat und die Gewissheit, dass sich in diesen Lokalitäten mehrheitlich die Menschen befinden werden, deren Leben er gezielt mit seiner Gewalttat auslöschen wird, belegen das.
Andererseits beziehen AfD wie rechtsradikal-rechtsextreme Gruppierungen, Milieus, Kameradschaften, Subkulturen und Echokammern ihre gedankliche Legitimation und Tat-Rechtfertigungen damals wie heute und im soeben entschiedenen Wahlkampf aus den öffentlichen Erklärungen, Stellungnahmen und massenmedial propagierten Programmen der demokratischen Regierungsverantwortlichen und politischen Entscheidungsträgern: Eben aus dem öffentlich herrschen Geist der Zeit, Klima und Diskurs. Zur Zeit des Hanau-Attentats:
"In den Medien werden die Bars oft als anrüchig beschrieben, als gefährliche Halbwelt, irgendwo zwischen Popkultur und Clankriminalität. Rapper wie KC Rebell, Haftbefehl oder Xatar vermarkten mit diesem Image längst eigene Bars und Tabak. Erst vor wenigen Tagen berichtete das ZDF unter dem Titel "Das gefährliche Geschäft" 45 Minuten lang über das Thema. Bereits in den ersten Minuten fallen Begriffe wie 'Menschenhandel' und 'Kriminalität'. Und auch im letzten Hamburger 'Tatort' organisierten albanische Clans ihre Geschäfte in einer Shishabar." (Spiegel Panorama, 21.02.2020) Nicht anders als weiterhin sehr konstruktiv und konsensuell argumentiert die nunmehr mit 20,8 % der Wählerstimmen ausgestattete AfD gegenüber dem ohnehin öffentlich herrschenden Geist der Zeit und dem ihm gemässen Narrativ:
"Deutschland braucht eine umfassende Rückführungsoffensive. Das deutsche Rückführungsversagen ist nicht länger hinnehmbar. Das gilt gleichsam für Abschiebungen ins Herkunftsland, als auch für Dublin-Rücküberstellungen ins EU-1990 Ersteinreiseland." (AfD-Leitantrag, 28. November 2024: 55)[5]
So fand auch der vom CDU/CSU-Kanzler-Kandidaten vorgeschlagene "5-Punkte-Plan"[6] zur Migrations- und Ausländerpolitik mit den Stimmen der AfD am 29.1.2025 eine Mehrheit im Bundestag. Und die Frage, wer nun für das Original und wer für die Kopie dieser konsensuellen Migrations- und Ausländerpolitik verantwortlich zeichnet, mag beantwortet werden wie sie will.
Kaum von der Hand zu weisen allerdings ist die Feststellung der "Initiative 19. Februar Hanau - Say their Names immer und laut, 5 Jahre danach" hinsichtlich des abgelaufenen Wahlkampfes: "..ein rassistischer Wahlkampf" (Initiative 19. Februar Hanau):[7] Ganz im Geist der Zeit, hervorgebracht und laufend stimuliert durch die europäischen und deutschen Regierungsverantwortlichen und politischen Entscheidungsträger.
Einer rein der AfD verursachten "geistigen Brandstifter"-Rolle kann diesem Attentäter wie seinen Vorgängern und Nachfolgern bei aller Neigung zu AfD, Rechtspopulismus Rechtsterrorismus und zu rechtsorientierten Verschwörung-Vorstellungen also nicht zugeschrieben werden. Ob rechtsterroristische Attentate sich in naher Zukunft gar explizit auf die Verlautbarungen und Taten des demokratisch ins Amt gewählten neuen "mächtigsten Mann der Welt" und seinem Trumpismus als politische Bewegung samt rassistischer Migranten- und Ausländerhetze beziehen wird, wird sich zeigen.
Nun hat der Hanau-Attentäter seiner Gewalttat aber ein umfangreiches, allerdings in manchen Teilen auch für rechtsterroristische Gewalttaten ungewöhnliches "Manifest" beigelegt, in dem er sich erklärt. Ein Lesen, eine präzise Analyse des "Manifestes" des Attentäters von Hanau[8] versteht sich im Grunde von selbst, um den Grund seiner Tat darzulegen, um zu erfahren, welche Vorstellungen und welches Selbstbewusstsein den Attentäter dahin brachten, die Gewalt- und Bluttat zu begehen.
Die Gewalttat von Hanau - konsequent politisch verklärt
Die bisherige Forschungen und Ermittlungen zur Gewalttat von Hanau belegen laut dem Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses des Hessischen Landtags folgenden Sachverhalt, der allerdings das Gegenteil einer wissenschaftlichen Erklärung ist:Beginnend seit dem Jahr 2002 litt T. R. an einer schizophrenen Wahnerkrankung, die im Laufe der Zeit durch ein selbstgebildetes und selbstverstärktes rassistisches Weltbild mit erheblichen Verschwörungsphantasien und rassistischen Umvolkungsnarrativen ergänzt wurde. Die ausschlaggebende Motivation für die Tat bestand aus einer Durchmischung dieser verschiedenen Phänomenbereiche: Der psychischen Erkrankung auf der einen Seite und der rassistischen Ideologie auf der anderen Seite. (Hessischer Landtag, 28.11.2023, Abschlussbericht: 541)[9]
Weiter: "Die Persönlichkeit von T.R. war durch die jahrelang unbehandelte Erkrankung so deformiert, dass eine krankhaft verformte Weltsicht mit einer rassistischen Ideologie und Verschwörungstheorien entstand und er den schrecklichen Tatentschluss fasste." (Ebd) Demnach war die zweifellos vorhandenen schizophrene Wahnerkrankung des Hanau-Attentäters der Grund für die "Ergänzung" durch ein "rassistisches Weltbild" und "die ausschlaggebende" Tatmotivation bestand aus einer "Durchmischung" verschiedener "Phänomenbereiche". Mit einem Wort: Jahrelang unbehandelter psychopathologischer Erkrankung und "Verdacht auf eine wahnhafte Störung mit der Differenzialdiagnose Schizophrenie" (Ebd: 542) ergab eine deformierte Persönlichkeit mit "krankhaft verformter Weltsicht", die "rassistische Ideologie und Verschwörungstheorien" letztlich kennzeichnen - nach dieser Lesart.
Die Bildner der modernen Öffentlichkeit, professionell bewandert darin, wie auch ein solch ungewohntes Manifest ohne nähere Befassung mit dem Inhalt des Gesagten und Niedergeschriebenen zu lesen und zu verstehen sei, erwecken den Anschein einer Fragestellung: "Noch immer wissen wir nicht, ob wir den Attentäter von Hanau als psychisch kranken oder als politischen Verbrecher ansehen." (Zeit-Online, 21.2.2020)[10]
Wie wir Attentäter und Gewalttat ansehen sollen, beantwortet die für diesen Zweck längst bereit stehende Antwort: Nebst Triebtheorie, Ich, Es Über-Ich, autoritären und destruktiven Charakter gibt es die "psychotische Disposition des Täters", das 'Gift' der rechten Mythologie und die kränkende, kranke Gesellschaft." Diese Mixtur ist im moralischen Sinn verantwortlich dafür:
Das Making-of eines Rechtsterroristen aus der trialektischen Beziehung von Persönlichkeitsstörung, krankmachender Gesellschaft und Vergiftung durch rechtsextreme Ideologie wäre nicht so massenwirksam, wenn es sich nach dem Kanzlerinnenwort tatsächlich nur um Gift handelte.
Die rechte Mythologie ist aber in Wahrheit, um im Bild zu bleiben, eine Form von Rauschgift. Gewalttätiger Rechtsextremismus ist so sehr wie in Analogie zur Psychose auch in Analogie zur Droge zu verstehen [...] Wenn wir Rechtsextremismus als Droge begreifen, dann ist der Terrorakt als erweiterter Selbstmord gleichsam die Überdosis. Und wo es eine Drogenabhängigkeit gibt, da gibt es auch die Dealer, das heisst Menschen und Organisationen, die sehr viel mehr tun, als nur Gift verspritzen, nämlich ein System der Abhängigkeit errichten, aus dem es so gut wie kein Entkommen mehr gibt. Natürlich ist die Analogie zwischen Rechtsextremismus und Droge ebenso limitiert wie die Analogie zwischen Rechtsextremismus und Krankheit. (Zeit-Online, 21.2.2020, ebd.)
Diese gewollt parteiische "Lektüre" des Attentäter-"Manifestes" verdankt sich dem politischen Zweck der begriffslosen Subsumtion rechtsextremer und sonstiger Attentate unter die moralische Verachtungs-Kategorie: geistig gestört und unzurechnungsfähig. Daher die der politischen Propaganda entlehnte Bildersprache, Wortwahl und Semantik: Gift, Rauschgift, Psychose, Droge, Überdosis, Drogenabhängigkeit, Dealer, Gift verspritzende Menschen und Organisationen, System der Abhängigkeit, kein Entkommen. Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus sollen demnach politisch nicht mehr zu trennen sein von Krankheit, Droge, Drogendealern und ihren "Organisationen."
Was aber ergibt nun ein Lesen, eine präzise Analyse des "Manifestes" des Attentäters von Hanau?
Das "Manifest" - Einheit von politischer Botschaft und staatsbürgerlichem Wahn
Das Manifest des Attentäters beginnt auf diese Weise:Dies ist eine Botschaft an das gesamte deutsche Volk! In diesem Schriftstück werde ich schildern, was mir in meinem Leben widerfahren ist und warum dies jeder Deutsche wissen muss, ganz gleich, wie lange es auch dauern mag, bis meine Botschaft als wahr und richtig bestätigt wird. (Manifest)
Ganz unvermittelt und auf den ersten Blick hin unverständlich wechselt das "Manifest" von der ausgeprägt politischen Botschaft "an das gesamte deutsche Volk", mit Ausrufezeichen, zur literarischen Gattung der Erzählung, hier der autobiografischen Erzählung. Dieses scheinbar unvermittelte Nebeneinander von politischer Botschaft und autobiografischer Erzählung, ist ein durchgängiges Merkmal dieses Textes.
Politische Botschaft und Autobiografie bilden eine untrennbare Einheit im Selbstbewusstsein und Selbstempfinden des Attentäters. So etwa in der Wahn-Vorstellung des Attentäters über den "Geheimdienst" (Manifest), von dem er sich sein Leben lang verfolgt fühlt. Fraglos stellt dieser imaginäre "Geheimdienst" einen der Dreh- und Angelpunkte im Leben des Attentäters dar.
Gewonnen und gebildet hat der Attentäter die Idee seines imaginären "sogenannten Geheimdienstes" (Manifest) sehr realitätsbewusst und realitätsorientiert aus der realen Welt der Geheimdienste und ihrer Auftraggeber. Weshalb sein imaginärer "Geheimdienst" zunächst nichts als Widerhall der Welt und Arbeitsweise wirklicher Geheimdienste ist.
Ein Widerhall allerdings, den er zu einer eingebildeten, inneren Wirklichkeit macht, da er über alle Massen darauf besteht, sein unbedingtes Recht auf Privacy verletzt zu glauben; doch all seine Versuche, von Polizeibehörden bis hinauf zur Bundesanwaltschaft, seinem vorgestellten Recht auf Privacy mittels Strafanzeige Geltung zu verschaffen, scheitern. Das empfindet der Attentäter als eine grosse Ungerechtigkeit. Gegen diese Ungerechtigkeit sich aufzulehnen, auch mit Gewalt, sieht der Attentäter als Wiederherstellung von Recht und Gerechtigkeit.
Dieses gar nicht ungewöhnliche, politisch ausgeprägte Realitäts- und Selbstbewusstsein führt den Attentäter zu einer weiteren Frage hinsichtlich Recht und Gerechtigkeit. Zur Frage, was es eigentlich mit "bestimmten" Ausländern und "vor allem dem Islam" (Manifest) auf sich hat. Diese Frage führt ihn, so gesehen nicht unlogisch, zur nächsten Frage, wie es eigentlich mit den staatlichen Gebilden und Völkerschaften bestellt ist, deren Abkömmlinge sich hier, mitten unter "uns", in unserer Heimat Deutschland aufhalten.
Festzuhalten ist gerade und auch angesichts des auf dem ersten Blick hin merkwürdigen politischen "Manifestes" des Hanau-Attentäters: Es bedarf immer noch eines wie auch immer gearteten, ganz eigenen Verstandes- und Phantasie-Gebrauchs und daraus abgeleiteten Urteils, hier des Hanau-Attentäters, welche "Informationen" aus dem Meer des modernen, auch demokratischen Informations-Angebotes er als beachtenswert und bedeutsam auswählt; und auf welche spezifische Weise er die ausgewählte "Information" gedanklich bearbeitet. Denn selbst eine Lektüre sämtlicher rechtspopulistischer, rechtsextremer und rassistischer Parteiprogramme, Plakate, Flugblätter, Reden, nicht einmal die Lektüre von "Mein Kampf" oder Mussolini's "Der Geist des Faschismus" (La Dottrina del Fascismo, 1932) bewirken zwangsläufig und unausweichlich, dass ein Leser dem nur zustimmen kann.
Dazu muss ein solcher Leser sich schon in eins wissen mit dem dem Zeitgeist gemässen rechtsextremen oder rechtspopulistischen Standpunkt, der sich seinerseits dem demokratischen Geist der Zeit verdankt, den er kritisiert. Dieser Standpunkt ist mehr oder weniger radikal unzufrieden, indem er eine grundsätzlich staatsbürgerliche und staatsloyale Kritik am "Versagen" von Staat, Demokratie und den herrschenden "politischen Eliten" gegenüber ihren eigenen Massstäben tätigt: Versprochen war eine schonungslose Migranten- und Ausländerpolitik und was ist weithin, in aller Öffentlichkeit, nicht nur in Shisha-Bars sichtbar?
Migranten und Ausländer, die "uns alle" durch ihr Kommen oder Dasein bedrohen. Der Hanau-Attentäter ist wie seine Vorgänger und Nachfolger ein durch und durch politisierter, radikal kritisch gewordener Staatsbürger mit einem ausgeprägten Staatsbürgerbewusstsein: Staatsbürgerlich so ausgeprägt politisiert, dass er es auch zum konstitutiven Inhalt seiner Wahnvorstellungen macht.