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75 Jahre Grundgesetz - kein Loblied: 75 Jahre Ausbeutung

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75 Jahre Ausbeutung 75 Jahre Grundgesetz - kein Loblied

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Politik

Statt zu feiern sollte die Realität kritisch geprüft werden. Dabei sollte an die Menschen erinnert werden, die auch in der BRD in den letzten 75 Jahren Opfer von Gewalt wurden.

Veranstaltung zur Feier zu 75 Jahren Grundgesetz in Berlin.
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Veranstaltung zur Feier zu 75 Jahren Grundgesetz in Berlin. Foto: Leonhard Lenz (PD)

Datum 27. Mai 2024
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Vor 20 Jahren gab es grosse antimilitärische Proteste, als die Bundeswehr mit öffentlichen Gelöbnisfeiern den Wiederaufstieg des deutschen Imperialismus zelebrierte. Der hatte 1989 mit dem Fall der Mauer einen mächtigen Sprung gemacht. Im Anschluss verzog sich die Bundeswehr mit ihren Zeremonien auf das Gelände des Bendler-Blocks, wo schon seit vielen Generationen jene Behörde resistiert, die schönfärberisch Verteidigungsministerium genannt wird und doch viel öfter ein Kriegsministerium war. So könnte es auch nach der Zeitenwende wieder genannt werden. Schliesslich spricht der Amtsinhaber davon, dass Deutschland wieder kriegstüchtig werden muss.

Kanonen statt Butter ist längst wieder zur politischen Maxime geworden. Da ist es nur konsequent, dass dann die Bundeswehr wieder ein Gelöbnis ausserhalb des Bendler-Blocks abhält, direkt vor dem Berliner Abgeordnetenhaus. Die offizielle Diktion wird in diesen Wortgeklingel deutlich:

„Wir feiern 75 Jahre Grundgesetz und die damit verbundenen Kernelemente Sicherheit, Freiheit, Frieden und Demokratie. Unsere freiheitlich demokratische Grundordnung und die Bundeswehr sind inhaltlich eng miteinander verknüpft. Mit dem Gelöbnis wollen wir deutlich sichtbar unterstreichen, dass die Bundeswehr als Parlamentsarmee in die Mitte der Gesellschaft gehört. Dies gilt vor allem in Zeiten, in denen sie sicherheitspolitisch wieder eine grössere Rolle spielt“, sagt die Präsidentin des Berliner Abgeordnetenhauses Cornelia Seibeld.

Die Wiederbewaffnung war im Grundgesetz nicht vorgesehen

Dabei war im Grundgesetz eine Wiederbewaffnung ausdrücklich nicht vorgesehen und viele hätten sie sich 1949 nicht vorstellen können. Das war eine Konsequenz der zwei von Deutschland ausgehenden verbrecherischen Weltkriegen und dem Massenmord an 6 Millionen Jüdinnen und Juden. Damals hofften viele, dass Deutschland auf der internationalen Bühne die nächsten hundert Jahre keine Rolle mehr spielen würde. Doch als die BRD im Kalten Krieg zum Vorposten des Kampfes gegen den vermeintlichen Kommunismus wurde, war dass alles schnell vergessen. Die Wiederbewaffnung Deutschlands wurde gegen eine grosse Opposition durchgesetzt. Dass hatten die Hunderttausende durchaus erkannt, die in den 1950er Jahren aus sehr unterschiedlichen Gründen in der BRD gegen die Remilitarisierung auf die Strasse gingen.

Gegen sie wurde Polizei eingesetzt, der erste von der Polizei nach 1945 in der BRD erschossene Demonstrant war Philipp Müller, der auf einer der vielen Demonstrationen gegen die Wiederbewaffnung durch Polizeischüsse umgekommen ist. Es gab damals eine erste massive Repressionswelle gegen linke Kritiker. Dazu zählt das Verbot der KPD und zahlreicher linker Organisationen, die Verfolgung von linken Gewerkschafter*innen, vermeintlichen oder tatsächlichen Kommunist*innen und Sozialist*innen in der BRD. Das waren keine Einzelfälle, das hatte System. So schnell wie die ehemaligen Nazis und ihre Förderer wieder in den alten Machtpositionen der BRD sassen, so schnell wurden die wenigen aktiven Antifaschist*innen, die im NS Widerstand geleistet hatten, wieder inhaftiert.

Mit dem Vorwurf, die Arbeit der verbotenen KPD fortzusetzen, hatte man immer eine gute Handhabe gegen Oppositionelle vorzugehen. Und die wurde reichlich genutzt. Nach dem KPD-Verbot wurden viele verfolgt und inhaftiert, waren es die NS-Widerstandskämpfer, die mitansehen mussten, wie ihre Gegner*innen von einst, die Nazis wieder in hohen Positionen sassen. Über diese reale Praxis der Verfolgung müsste heute die Rede sein, statt das Ideal eines Grundgesetzes zu beschwören, das mit der Wirklichkeit wenig zu tun hat.

Von der DDR-Opposition lernen

Das Grundgesetz wurde schnell zu einer Feinderklärung und es war klar, dass der Feind links stand. Die Rechten wurden an der kurzen Leine gehalten und bekamen nur dann die Staatsgewalt zu spüren bekamen, wenn sie zu offen gegen die Staatsraison verstossen hatten. Dass bekommt jetzt der natokritische Teil der AfD zu spüren. Doch die Opfer des Grundgesetzes waren grösstenteils Linke, in den 50er Jahren tatsächliche oder vermeintliche Mitglieder und Sympathisant*innen der KPD, aber auch unabhängige Sozialist*innen wie der Gewerkschaftler Viktor Agartz, der durch eine Verfassungsschutzaktion kaltgestellt wurde.

FdGO als Waffe gegen Linke

Ab Mitte der 1960er Jahren war es dann auch die Neue Linke, die sich klar vom autoritären Staatskapitalismus osteuropäischer Prägung distanzierten, die die Schärfe des Rechtsstaats zu spüren bekamen. Heute ist weitgehend vergessen, wie in den 1970ern und 1980er Jahren das Kürzel fdgo zum Schrecken für eine kritische Generation wurde. Stehen sie auf dem Boden der freiheitlichen Grundordnung? Diese Frage konnte über die Berufsperspektive von Hunderttausend Menschen entscheiden.

Die Regelanfrage des Verfassungsschutzes führte schnell zum Berufsverbot, welches es aber offiziell in der BRD nicht geben dürfte. Das konnte bedeuten, dass jemand schon deshalb nicht Lehrerin werden durfte, weil sie in einem Artikel oder einer Rede das Wort Berufsverbot verwendet hatte. Man brauchte nicht in einer inkriminierten linken Partei wie der DKP zu sein, um das Berufsziel Lehrer, Postbeamter oder Briefträger vergessen zu können. Es reichte schon in einer Organisation mitzuarbeiten, in der auch Kommunist*innen aktiv waren, in einer Wohngemeinschaft mit Maoist*innen zu wohnen oder sein Auto öfter in der Nähe eines linken Zentrums geparkt zu haben.

Das Klima der Verdächtigung und der Denunziation hatte der linksliberale Schriftsteller Heinrich Böll in der Novelle „Du fährst zu oft nach Heidelberg“ gut beschrieben.

40 Jahre Tod von Günther Routhier

Doch es blieb nicht nur bei Berufsverboten. Es gab auch Tote unter den Linken. Am 5. Juni 1974 jährt sich zum 40ten Mal der Tod des Arbeiters Günther Routhier. Der mit einer maoistischen Kleinstpartei sympathisierende Frührentner besuchte mit seinem Sohn einen Gerichtsprozess. Als der Saal von der Polizei geräumt wurde, gab es viele Verletzte. Routhier wurde von einem Polizisten so schwer geschlagen, dass er starb. Sein Sohn versuchte vergeblich die Polizisten auf die Vorerkrankung seines Vaters aufmerksam zu machen.

Nach Routhiers Tod gab es zahlreiche Prozesse gegen Linke, die von einen Polizistenmord sprachen und schrieben. Die Verfahren gingen bis in die 1980er Jahre. Einige Verurteilte mussten deswegen für mehrere Monate ins Gefängnis. Heute ist Routhier weitgehend vergessen. Es wäre doch eine gute Gelegenheit zu seinen 40ten Todestag eine Veranstaltung zu machen, um an 75 Jahre Repression gegen Linke zu erinnern.

75 Jahre Grundgesetz ist 75 Jahre Ausbeutung

Es ist einer historischen Amnesie geschuldet, dass heute mit grossen Brimborium 75 Jahre Grundgesetz gefeiert wird und selbst Linksliberale nur dazu aufriefen, es zu verteidigen. Dass zeigt, wie sehr eine staatskritische Linke heute fehlt. Immerhin haben einige Adbuster auf Plakaten ein Stück Realität sichtbar gemacht und dafür gesorgt, dass Gelöbnis nicht ganz ungestört von Protest über die Bühne gehen konnte. In dem Satz „Ausbeutung gewaltsam verteidigen“ kommt auch 75 Jahre Realität des Grundgesetzes gut zum Ausdruck.

Und wo bleibt das Positive, werden sich manche Leser*innen jetzt fragen. Gibt es denn ja gar nichts am Grundgesetz zu verteidigen? Immerhin hat der KPD-Bundestagsabgeordnete Max Reimann 1949 im Bundestag erklärt, dass seine KPD-Fraktion dagegen stimmen, es aber verteidigen werde, wenn es angegriffen wird. Damit meinte er allerdings, einige Passagen müssen gegen die verteidigt werden, die es ständig im Munde führen, um es genauso oft zu brechen. Das gilt heute allerdings auch für die Politiker*innen von AfD bis zu den Grünen.

Die Angriffe auf das Grundgesetz kamen immer schon nicht von den angeblichen Extremen, sondern aus der Mitte der Gesellschaft. Nun noch einige Sätze zu den Genoss*innen, die im Sinne des antifaschistischen Politologen Wolfgang Abendroth im Grundgesetz auch die Möglichkeit einer sozialistischen Entwicklung sehen, wenn nur die Kräfteverhältnisse es zulassen. Sie sollen es auf jeden Fall immer wieder versuchen und werden darin auch unterstützt. Nur sprechen einige historische Erfahrungen gegen die Grundannahmen von Abendroth und seinen Anhänger*innen. Als sich Ende der 1960er Jahre die Kräfteverhältnisse in der BRD-Gesellschaft nach links entwickelten, kamen die Berufsverbote und nicht eine sozialistische Verfassung.

Seit einigen Jahren versuchen auch Linke in Berlin wie Deutsche Wohnen Enteignen die Frage der Sozialisierung auf die Tagesordnung zu stellen. Sie haben in dem Volksbegehren eine grosse Mehrheit der Berliner Bevölkerung gewinnen können, aber die Institutionen haben das Volksbegehren bisher ausgebremst. Auch hier hat sich die Abendroth-These, dass mit dem Grundgesetz bei entsprechenden Kräfteverhältnissen auch eine linke Entwicklung möglich ist. Deshalb gilt einstweilen, das Grundgesetz sollte an der Realität gemessen werden und da gilt, was in der Überschrift steht: 75 Jahre Grundgesetz – das ist kein Lovesong.

Peter Nowak