UB-Logo Online MagazinUntergrund-Blättle

Antisemitismus: Der omnipräsente deutsch-identitäre Diskurs

8722

Antisemitismus: Der omnipräsente deutsch-identitäre Diskurs Man merkt die Absicht und ist verstimmt

earth-europe-677583-70

Politik

In Deutschland wird seit 20 Jahren Antisemitismus massiv gefördert, von oben und von den vielen, die sich an „oben“ opportunistisch anschmiegen.

Berlin-Neukölln am ersten Mai 2023.
Mehr Artikel
Mehr Artikel
Bild vergrössern

Berlin-Neukölln am ersten Mai 2023. Foto: Leonhard Lenz (PD)

Datum 18. November 2024
4
1
Lesezeit9 min.
DruckenDrucken
KorrekturKorrektur
Die Grundlage: Das Amalgam zwischen Israel/Israelis und „den Juden“ im omnipräsenten deutsch-identitären Diskurs.

Zufällig lebe ich in dem Viertel von Berlin, dessen migrantischen/arabischen/muslimischen (oder als solche wahrgenommenen) Bewohner*innen von Politik und Medien, auch den als seriös geltenden – und im Gefolge von deutschen Bildungsbürger*innen, die diese Medien unkritisch konsumieren – jederzeit mit Erfolg wüstester Antisemitismus attestiert wird. Diesen zu belegen, ist man gerüstet mit Verweisen auf scheinbar seriöse Quellen.

Allerdings, es kann gut sein, dass es unter Bewohner*innen Neuköllns mit palästinensischen oder libanesischen Wurzeln inzwischen die Vorstellung gibt, dass es „die Juden“ sind, die die Verbrechen an ihren Verwandten in der Westbank, in Gaza, im Libanon begehen.

Es kann sogar sehr gut sein, dass viele von ihnen nach Jahren der entsprechenden Belehrungen seitens deutscher Politiker*innen, Medien, Lehrkräfte, Antisemitismusbeauftragten, die ihnen predigen, Israel sei der Inbegriff des Judentums, der Judenheit, sie selber hingegen Unsichtbare, die nichts, absolut nichts zu melden haben, nicht einmal Trauer und Entsetzen angesichts israelischer Verbrechen an ihnen nahestehenden Menschen – es kann nicht nur gut sein, es kann auf die Dauer gar nicht ausbleiben, dass manche oder viele der so Verhöhnten, irgendwann die Lektion über „die Juden“ lernen.

Ich habe keine Ahnung, wie viele oder wie wenige es unter diesen Neuköllner Nachbar*innen sind, die ausschliesslich die von den eifrigen Zuarbeiter*innen der deutschen Staatsraison kreierten „Juden“ kennen, wobei sie bei manchen arabischen Propagandasendern weitere Bestätigung finden mögen, dass es nur die gibt.

Immerhin, in Neukölln und bei den grossen und kleinen Demos in Solidarität mit Gaza haben sie die Chance, jüdische Menschen kennenzulernen.

Manchmal seit dem vergangenen Oktober trage ich meine Keffiyeh. Selbstverständlich nicht, um den Terror der Hamas zu verherrlichen. So, entnehme ich den Reaktionen, wird es auch von den Neuköllner*innen unterschiedlichster Herkunft nicht verstanden.

So wenig ich tun, ändern oder verhindern kann, während seit über einem Jahr das mit Worten, mit schwindelerregenden Zahlen nicht zu Fassende vor unser aller Augen in Gaza ungehindert verbrochen wird, obwohl ihm jederzeit Einhalt geboten werden könnte, und alle Welt weiss es – kann ich doch wenigstens die Keffiyeh tragen. Ein Tuch, ein Stück Stoff. Das nichts ändert.

Und doch: Wenn ich mich in meiner Neuköllner Nachbarschaft bewege, in der viele seit über einem Jahr dem Grauen zusehen müssen, weitgehend ohne ihren Schmerz, ihre Wut ausdrücken zu dürfen, kann ich ihnen wenigstens signalisieren: Ich weiss davon, es ist mir nicht gleichgültig.

Nicht wenige in Neukölln und in Berlin, die nicht direkt betroffen sind, tragen die Keffiyeh und teilen ihnen mit: Ihr habt des Recht, wütend und traurig zu sein. Und ihr habt das Recht, auf euren Rechten zu bestehen.

Neulich kam mir eine Gruppe Jugendlicher (deutlich unter 20) entgegen, die „arabisch“ aussahen. Sie schlenderten an mir vorbei. Dann ein Innehalten, und einer von ihnen wandte sich um. Die anderen zögerten daraufhin ebenfalls. Der eine fragte, auf die Keffiyeh deutend : „Ist das wegen Palästina?“ Ich bejahte. „Und was“, fragte er, „halten Sie von dem, was Israel da tut?“ Alle Blicke sind auf mich gerichtet. Ich sage, was ich vom israelischen Vorgehen in Gaza, in der Westbank und im Libanon halte, es sei … so schlimm für die Menschen dort, ein solches Unrecht... und deshalb – ich fasse kurz an das rot-weisse Tuch über meinen Schultern. Hochgehalterne Daumen, ihrerseits, meinerseits.

Ich bin erleichtert, wieder einmal, wie so oft, wenn ich mit den Jugendlichen im Kiez über Palästina ins Gespräch komme, dass sie nicht von Juden sprechen, dass sie von Israel sprechen – trotz der grausamen Indoktrination, der sie in der Schule und in ihrer deutschen Umgebung seit Jahren und neuerdings noch massiver ausgesetzt sind: die Entmenschlichung der Palästinenser*innen durch Israel sei gerechtfertigt, weil sie zum Schutz „der Juden“ geschehe, an denen „wir“ (sie?) den Holocaust begangen haben.

„...darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher (antitemitischer, S.D.) Angriffe sein.“ Der Satz stammt aus der IHRA-Definition von Antisemitismus. Inmitten des Wirrwarr der „Arbeitsdefinition“ ist der zitierte Satz immerhin ein nachvollziehbarer.

Diese Definition, die allen Ernstes Grundlage von Regierungs- und Parlamentsverlautbarungen, der Arbeit einschlägiger NROs und von sämtlichen statistischen Erhebungen über Antisemitismus in Deutschland ist, ähnelt – man möge sie googeln und kurz durchlesen – einer Schülerarbeit, so holprig, dass sich die korrigierende Lehrkraft veranlasst sähe, den Rand mit Fragezeichen und Ausrufen („Logik!“ „Gedankensprung!“...) in Rot zu überziehen.

Tatsächlich war ich schon mit dieser Form des Antisemitismus konfrontiert, deren Grundlage die Auffassung Israels als jüdisches Kollektiv ist. In einem Gespräch über die bedrückende Situation in Palästina sagte eine (deutsche) Bekannte, „die haben ja auch so viel Macht“. Wen sie meine, wollte ich wissen. „Ja … die, also die Israelis …also … also die Juden.“

Das klassische Gerücht über „die Juden“, in diesem Fall als aufgehend im Staat Israel, dieser wiederum phantasiert als Zentrum, Bastion weltweit verzweigter „jüdischer Macht“, gegen die man nicht ankomme. Auch ohne „das Gerücht“, wie es Adorno formuliert hat, zu kennen, oder überhaupt eine Ahnung von den historischen Varianten des europäischen Antisemitismus zu haben, könnte jeder wache Mensch erkennen, dass eine solche Äusserung als Begründung für das, was den Palästinensr*innen durch Israel seit hundert Jahren widerfährt, und woraus es keinen Ausweg zu geben scheint, antisemitisch ist.

Bei diesem und zwei andere Beispielen von tatsächlichem israelbezogenem Antisemitismus, die mir begegnet sind, liegt der Antisemitismus nicht etwa darin, dass die israelische Politik oder die Konstitution des Staates Israel scharf, sachlich oder auch unsachlich kritisiert würde sondern darin, dass Israel, ein Staat mit „den Juden“ gleichgesetzt wird, so als würde man den Iran mit „den Iranern“ oder „den Shiiten/Muslimen“ dieser Welt in eins setzen und sie für die Politik des iranischen Regimes und die Konstitution des Iran, des Staates, verantwortlich machen.

Das Amalgam zwischen Israel/Israelis und „den Juden“ kenne ich, abgesehen von den genannten (antisemitischen) Beispielen, vor allem aus dem inzwischen omnipräsenten deutsch-identitären Diskurs.

Untersuchungen über den aktuellen Antisemitismus (manchmal auch „und Rassismus“) werden in diesem Land zumeist in der Absicht in Auftrag gegeben, das besorgniserregende Phänomen zu „bekämpfen“. Dabei sollen Messungen, Verlautbarungen, akademische Veröffentlichungen, Handreichungen für Lehrende etc. diesem „Kampf gegen Antisemitismus“ dienen. Ein hehrer Anspruch, dessen Umsetzung allerdings eine unabdingbare Voraussetzung hätte: Das zu Bekämpfende, das kaum zu messen, nur notdürftig durch Definitionen zu umreissen ist, muss vielmehr begriffen werden. Begriffen werden heisst, als untrennbar mit der Konstitution der Gesellschaft verwobenes Phänomen.

Einen Begriff von etwas haben, ist nicht, es aus seinen Zusammenhängen lösen, es definieren oder gar dekretierte Definitionen „anwenden“ wie eine Plätzchenform, die etwas grob Umrisseneses aus dem Teig aussticht oder eine 3-D-Brille à la Natan Scharanski, die man aufsetzt und daraufhin sieht und dingfest macht, was man ohne diese Brille nicht erkennen konnte.

Dies aber – und nichts anderes – geschieht seit ca. zwanzig Jahren in Deutschland. Das ist verheerend, denn somit gibt es – anders als zur Zeit als Adorno und Horkheimer und andere tatsächlich rezipiert wurden – keinen Begriff mehr vom Antisemitismus, lediglich Floskeln, Formeln, Abhandlungen, in denen etwas in der Art von erweiterten Wikipedia-Einträgen zusammengestöpselt wird – nicht ohne, und das ist besonders perfide, hier und da ein wohlfeiles Häppchen Frankfurter Schule einzustreuen. Doch deren Gedanken, Gedanken lassen sich nicht reduzieren auf Versatzstücke, sind vielmehr inkompatibel mit diesen. Aus solchen aber bestehen die akademischen Elaborate, die sich gerne mit aus dem Zusammenhang gelösten, somit unweigerlich sinnentstellenden Horkheimer/Adorno-Zitaten schmücken.

Liest man diese deutschen akademischen Arbeiten, deren immer schon feststehende Ergebnisse ihrerseits wiederum Medien und Politik füttern, welche unbesehen nach ihnen schnappen und sie einem stolz apportieren wie folgsame Hündchen, so merkt man die Absicht und ist verstimmt. Die Absicht ist gar nicht zu übersehen, so plump anbiedernd kommt sie daher.

Sie besteht durchweg darin, das neue deutsch-nationale Narrativ zu bedienen, wonach „wir“, Weltmeister im Verbrechen, wie wir (grössen)wahnsinnig nicht müde werden zu gestehen – sowie im reumütigen Sühnen desselben sind.

Wie? - Indem wir – Schritt eins – die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, die sich auf Jüdinnen und Juden bezieht, unbedingt abtrennen von jeglicher anderen, zweit- bis x-rangigen gegen andere Opfer unserer historischen Verbrechen gerichtete. (Allein der Begründung dieser unabdingaren Abtrennung sind ungezählte akademische Ergüsse gewidmet.)

Ein solches im Auftrage einer grandiosen deutsch-nationalen Identität errichtetes Konstrukt, auf nie geprüfe Prämissen gebaut, hat in mehr als einer Hinsicht Folgen.

Denn wie geschieht die nationale Sühne in Bezug auf die verfolgten und ermordeten Juden, nachdem sie erst einmal (wieder einmal) abgetrennt sind vom Rest der Menschheit?

Sie geschieht, indem deutsche Politiker*innen, Medienschaffende, die deutsche akademische Welt, deutsche Zweige internationaler NGOs und Bewegungen, deutsche Bildungsbürger*innen, deutsche Gewerklschaften, deutsche Rechte bis Linke, kurz die deutsche Gesellschaft in ihrer überwältigenden Mehrheit, also DEUTSCHLAND, das auferstandene, in „unverbrüchlicher Solidarität“ an der Seite eines Staates steht, unabhängig von dessen Konstitution und dessen Agieren.

Denn, welch ein Irrwitz! aber er ist zur deutschen Selbstverständlichkeit geworden – Schritt zwei – dieser Staat wird kurzerhand gleichgesetzt mit „den Juden“ dieser Welt, mit deren Interessen und Bestrebungen, die, zurechtgestutzt für diese Konstruktion, als einheitlich, als fest umrissene Menschengruppe imaginiert werden. (Mir graut es beim Explizitmachen dieser Barbarei, die jener neuen deutschen Ideologie zugrundeliegt.)

Es verwundert nicht, dass sich gerade Jüdinnen und Juden dagegen verwahren, einmal mehr für deutsche nationale Identitätsstiftung instrumentalisiert zu werden.

Seit wir Zeug*innen ungeheuerlicher Verbrechen Israels an einer Bevölkerung sind, von Verbrechen, die die israelische Regierung als Selbstverteidigung oder, je nach archaisch-mörderischem Überschwang, als Rache proklamiert – spätestens, allerspätestens seit dem Oktober 2023, ist die in Deutschland übliche Gleichsetzung von Israel mit „den Juden“ mehr noch als all die Jahre zuvor dazu angetan, Antisemitismus zu befeuern, Menschen überhaupt erst auf die Idee zu bringen, dass es „die Juden“ seien, die diese Ungeheuerlichkeiten begehen, die als deutsche Staatsraison explizit in ihrem Namen gerechtfertigt werden.

Keine Ahnung, wie durchschlagend die Antisemitismus-Förderung der selbstgerechten deutschen Antisemitismus-Bekämpfer*innen inzwischen ist. Leider gibt es Anzeichen für einen gewissen Erfolg.

In Neukölln bin ich nicht exotisch mit meiner Keffiyeh. Neben den palästinensischen Nachbar*innen, sind es auch alle möglichen anderen, die sie tragen. Und „alle möglichen“ von überallher gibt es glücklicherweise in unserem verrufenen Kiez.

Sophia Deeg