Sehr geehrte Damen und Herren,
wir schreiben heute den 4. März 2021 und befinden uns in der 9. Kalenderwoche diesen Jahres. Das Robert-Koch-Institut meldete in seinem Lagebericht von gestern 9.019 neue Infektionen mit SARS-CoV-2[1], das die allermeisten BürgerInnen (und auch einen Teil der Regierenden) seit einem Jahr sorgt.
Genau heute vor einem Jahr erschien der erste RKI-Lagebericht. Damals wurden für die BRD insgesamt (und nicht etwa: für diesen Tag) 262 Infektionen gemeldet.[2]
Keine 14 Tage – später am 16. März 2020 (12. Kalenderwoche) – wurden Bund-Länder-Vereinbarungen zur Schliessungen von Schulen und Geschäften getroffen.[3] Am 23. März folgte die Vereinbarung von „Kontaktbeschränkungen“.[4]
Der RKI-Lagebericht vom selben Tage (23. März des vergangenen Jahres) berichtete 4.062 neue Infektionen (bis dahin insgesamt in der BRD: 22.672 Infektionen und 86 Todesfälle).[5]
Mittlerweile gibt es in der BRD über 70.000 Covid-19-Todesfälle und fast 2,5 Millionen ge-meldete Infektionen.[6] Aktuell haben wir mehr als doppelt so viele neue Infektionen pro Tag wie am 23. März 2020 (23. März 2020: 4.062; 3. März 2021: 9.019). Trotzdem sprach die Bundeskanzlerin gestern Abend in ihrer Pressekonferenz[7] von „grossen Erfolgen“, die (im Kampf gegen Covid-19) errungen seien und kündigte sog. „Lockerungen“ – im Klartext: Verminderungen des Infektionsschutzes – an.
Angesichts dieses (pressekonferenzlichen) Berichts aus einer (ministerpräsidentiel-len) Parallelwelt möchte ich Sie auffordern, die gestrigen Vereinbarungen in Berlin nicht in Landesrecht umzusetzen, sondern vielmehr die schon erfolgten Verminde-rungen des Infektionsschutzes zurückzunehmen.
Gegen dieses Anliegen mag eingewandt werden, dass mittlerweile einerseits sehr viel mehr Tests durchgeführt werden als im März 2020 durchgeführt wurden (also – zwangsläufig – auch mehr Infizierte gefunden werden) und dass mittlerweile Impfstoffe zur Verfügung steht, die auch bereits zu einem Sinken der Infektions- und Todesfallzahlen führten.
Diese Einwände greifen allerdings nicht durch, denn:
• Das Sinken der Infektionszahlen wurde mittlerweile schon wieder – zunächst von einer Stagnation und mittlerweile – von einer erneuten Steigerung der Infektions-zahlen abgelöst.[8]
• Die Steigerung der Testanzahl relativiert zwar in der Tat den Anstieg der Zahl der festgestellten Infektionen. Aber in Form der sog. „Positivenquote“ (also des Anteils der SARS-CoV-2 nachweisenden Tests an der Gesamtzahl der Tests) steht ein Kontrollmassstab zur Verfügung:
◦ Von den bis zur 10. Kalenderwoche 2020 (die genannte KW eingeschlossen) durchgeführten geführten Tests waren 5,84 % (im mathematisch-naturwissen-schaftlichen Sinne) „positiv“[9] (– also im politisch-wertenden Sinne: unerfreulich).
◦ In der vergangenen Woche dieses Jahres betrug diese Quote 6,1 %.[10] Dies zeigt, dass das Infektionsgeschehen in der 8. Kalenderwoche dieses Jahres stärker war als bis zur 10. Kalenderwoche des vergangenen Jahres.
(Zwar führt eine Steigerung der Anzahl der Tests auch zu einer Steigerung der Treffer, aber die Steigerung ist nicht proportional: Vielmehr gilt: Umso umfassender – d.h.: diffuser – getestet wird, desto geringer ist die Trefferquote. Umso restriktiver – d.h.: ‚zielgerichteter' – getestet wird, desto höher ist die Positivenquote.)
◦ Zu betonen ist: Die Positivenquote war in der 8. Kalenderwoche diesen Jahres nicht nur höher als bis zur ersten März-Woche des Jahres 2020, sondern auch – wenn auch nur geringfügig – höher als in der 7. Kalenderwoche diesen Jahres (7. KW: 6,06 %; 8. KW: 6,1 %).
◦ Letzteres zeigt, dass auch die aktuell wieder steigenden (absoluten) Infektions-zahlen tatsächlich eine Verstärkung des Infektionsgeschehens anzeigen.
Auch die bisher durchgeführten Impfungen bedeuten keine grundlegend neue Lage, denn:
- Die bisher durchgeführten Impfungen dürften zwar in der Tat dazu führen, dass ein deutlich geringerer Anteil der Infizierten als bisher stirbt. Wenn aber sehr viel mehr Personen als bisher infiziert werden (was angesichts der gestern vereinbarten Infektionsschutzverminderungen und anderer Umstände, die weiter unten noch angesprochen werden müssen) zu befürchten ist, so wird sich an der absoluten Zahl der Todesopfer wenig ändern.
- Nach allem, was wir wissen, müssen wir zwar davon ausgehen, dass bisher vor allem die inzwischen geimpften Altersgruppen in Folge einer Infektion mit SARS-CoV-2 starben. Aber auch bisher schon gab es Todesfälle in den jüngeren Altersgruppen.
- Nach allem, was wir wissen, müssen wir (aber) ausserdem davon ausgehen, dass die Altersverteilung unter den Intensiv- und anderen Krankenhaus-PatientInnen sehr viel ‚jünger' ist als unter den Todesopfern. (Viele von den sehr alten Covid-19-Opfern dürften in Alten- und Pflegeheimen verstorben und gar nicht mehr auf Intensivstationen gekommen sein.)
• Hinzukommt noch: Bisher konnte – inner-kapitalistisch-sozialdarwinistisch – kalkuliert werden: ‚Es sterben weit überwiegend RentenempfängerInnen; besser so'. – Dieses Kalkül funktioniert nun erfreulicherweise nicht mehr: Die sehr alten Bevölkerungsgruppen sind nunmehr – vorbehaltlich weiterer, bisher noch unbekannter Virusmutationen – erst einmal gerettet. Jede erneute Eskalation der Infektions- und Todesfallzahlen wird die Erwerbsjahrgänge der Bevölkerung treffen – das heisst: auch die Unternehmen, bei denen diese Teile der Bevölkerung beschäftigt sind (marxistisch gesprochen: ausgebeutet werden und für den Profit der EigentümerInnen sorgen).
Damit müssen wir zu dem dritten Umstand kommen, der die heutige Situation – verglichen mit der Situation Anfang / Mitte März des vergangenen Jahres – even worse macht: Die Entstehung neuer Virusvarianten, die – nach allem, was wir wissen – (mehr oder minder stark) infektiöser sind als die bisher in der BRD dominierende(n) Virusvariante(n).
Diese neuen Virusvarianten waren bisher nur bei einer Minderheit der durchgeführten Tests nachzuweisen; laut einem gestern veröffentlichten Papier des RKI[12] machen sie nun erstmals ca. die Hälfte der (diesbezüglich) getesteten Proben aus.
Das heisst: Ab sofort wird nicht mehr die Reproduktionszahl der älteren, sondern die – (in welchem Ausmass auch immer) höhere Reproduktionszahl der neueren Virusvarianten die weitere Entwicklung des Infektionszahlen, der Belastung der Intensivstationen und der Todesfallzahlen hauptsächlich bestimmen.
Angesichts all dessen möchte ich auf mein Ausgangs-Anliegen zurückkommen und Sie auffordern, die gestrigen Bund-/Länder-Vereinbarungen in Berlin nicht in Landesrecht umzusetzen, sondern vielmehr die schon erfolgten Verminderungen des Infektionsschutzes zurückzunehmen.
Darüber hinaus möchte ich Sie auffordern, die weitere Infektionsschutzpolitik an dem Aufruf von
Gewerkschafter:innen für einen solidarischen europäischen Shutdown
und dem Artikel Eine Perspektive ohne Auf und Ab
von Sandra Ciesek u.a. in der Zeit vom 17.02.2021 zu orientieren, und Sie auf die Symptomatik im Bereich Long Covid hinweisen – also Langzeit-Schäden, die auch bei PatientInnen zurückbleiben, die ihre Infektion überleben. Mit freundlichen Grüssen