An zwei bzw. drei Stellen setzt sich das Bundesverwaltungsgericht leicht von den Rechtsauffassungen des Bundesinnenministeriums ab.
Begriff der „verfassungsmässigen Ordnung“
Artikel 9 Absatz 2 Grundgesetz der BRD nennt drei mögliche Gründe, Vereine zu verbietet: 1. Strafgesetz-Widerläufigkeit; 2. Gerichtetheit gegen die verfassungsmässige Ordnung und 3. Gerichtetheit gegen gegen den Gedanken der Völkerverständigung.Das bereits auf den 05.06. datierte und am 16.07.2024 bekannt gemachte Verbot der Compact-Magazin GmbH wurde wegen Nr. 2 verfügt; das 2017 verfügte Verbot des angeblichen „Vereins ‚linksunten.indymedia'“, des BetreiberInnenkreises der auch für Stimmen aus der militanten Linken offenen Internet-Plattform „linksunten.indymedia“, der aber seinerseits vielmehr „IMC linksunten“ hiess, war mit Nr. 1 und 2 begründet worden.
In seiner linksunten-Verbotsverfügung hatte das Bundesinnenministerium 2017 auf S. 55 geschrieben, zur „verfassungsmässigen Ordnung“ i.S.d. Art. 9 II GG zählten „jedenfalls die elementaren Verfassungsgrundsätze […], die den Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ausmachen“ (Hv. hinzugefügt). Mit dem Wort „jedenfalls“ ventilierte das Innenministerium den Gedanken, dass zur „verfassungsmässigen Ordnung“ nicht nur die „elementaren“ Verfassungsgrundsätze gehören, die die fdGO ausmachen, sondern weitere weitere Grundsätze. Folge: Die Verbotsmöglichkeiten würden ausgeweitet.
Die Begründung des Verbots der Compact-Magazin GmbH wurde bisher nicht amtlich veröffentlicht. Falls wir der im Internet vorhandenen Datei vertrauen können, wurde das Wort „jedenfalls“ in der Compact-Verfügung nicht wiederholt: „Zur verfassungsmässigen Ordnung gehören die elementaren Grundsätze der Verfassung, namentlich die Menschenwürde und die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, das demokratische Prinzip mit der Verantwortlichkeit der Regierung, das Mehrparteienprinzip und das Recht auf verfassungsmässige Bildung und Ausübung einer Opposition“, soll es dort auf S. 11 heissen.
Jedenfalls das Bundesverwaltungsgericht geht jetzt von der Synonymie der Ausdrücke „verfassungsmässige Ordnung“ in Artikel 9 Absatz 2 Grundgesetz sowie „freiheitliche demokratische Grundordnung“ in Artikel 18 und 21 Grundgesetz aus: „Das Schutzgut der verfassungsmässigen Ordnung umfasst – wie die freiheitlich demokratische Grundordnung in Art. 18 und Art. 21 Abs. 2 GG – die elementaren Grundsätze der Verfassung, namentlich die Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG, das Demokratieprinzip und den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit.“ (Hv. hinzugefügt)
Im Zweifel für den Verein
Ausserdem setzt sich das Bundesverwaltungsgericht an zwei Stellen ausdrücklich von der „Antragsgegnerin“ (= Bundesrepublik Deutschland) ab. Bei Textziffer 31 schreibt das Bundesverwaltungsgericht:„Bei mehrdeutigen Äusserungen [von GrundrechtsträgerInnen] haben Behörden und Gerichte sanktionsrechtlich irrelevante Auslegungsvarianten mit nachvollziehbaren und tragfähigen Gründen auszuschliessen, bevor sie ihrer Entscheidung eine zur Anwendung sanktionierender Normen führende Deutung zugrunde legen wollen […]. Entgegen der Annahme der Antragsgegnerin ist diese Interpretationsmaxime bei der Auslegung von Äusserungen auch im Rahmen der Überprüfung eines gegenüber einem Presse- und Medienunternehmen ausgesprochenen Vereinsverbots zugrunde zu legen. Denn andernfalls könnte – entgegen der verfassungsgerichtlichen Vorgaben […] – der Schutz der Pressefreiheit durch ein Vereinigungsverbot unterlaufen werden.“
Dass diese Grenzziehung wichtig, aber auch wenig verlässlich ist, war kürzlich am Beispiel des Radio Dreyeckland-Prozesses zu sehen. Dort war ein linker Radio-Journalist angeklagt, weil er u.a. die Sätze, „Bald fünf Jahre ist der konstruierte Verein Indymedia Linksunten nun verboten. […] Im Internet findet sich linksunten.indymedia.org als Archivseite“, geschrieben und veröffentlicht hatte.
Die Staatsanwaltschaft Karlsruhe sah im zweiten Satz – im Kontext des ersten – nicht nur eine faktisch zutreffende Mitteilung, sondern eine Unterstützung des verbotenen angeblichen Vereins. Dagegen liess das Landgericht Karlsruhe den letzten Satz als zutreffenden Bericht und den ersten als – zulässige – Verbotskritik, aber nicht Vereinsbefürwortung passieren. Konsequenz: Ohne Vereinsbefürwortung im ersten Satz keine Vereinsunterstützung im letzten Satz.
Grosse Sensation: Zeitschriften-Cover dürfen reisserisch sein
Auch zu den Compact-Titelseiten setzt sich das Bundesverwaltungsgericht – sogar recht deutlich („geht […] deutlich zu weit“) – von der Rechtsauffassung des Bundesinnenministeriums ab:„Die auf dem Cover verwendeten Bilder sind reisserisch gewählt. Hierin – wie die Verbotsverfügung – bereits eine Delegitimierung des demokratischen Systems zu sehen, geht aber im Hinblick auf die grundrechtlich geschützte Meinungs- und Pressefreiheit deutlich zu weit. Diese erlaubt insbesondere auf einem zum Kauf animierenden Cover auch zugespitzte, plakative und polemische Überschriften und Bilder.“
PS.: Siehe ausführlich (21 Anmerkungen) zu dem Beschluss meinen Artikel bei den taz-Blogs vom Dienstag, den 20. August 2024.