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Chemnitz: Geschichte und Theorie des Anarchismus in der Kantine »Sabot«

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Auseinandersetzung mit der anarchistischen Tradition Chemnitz: Geschichte und Theorie des Anarchismus in der Kantine »Sabot«

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Politik

Wie auch immer man den Anarchismus politisch bewerten mag: Er ist in unserer Gegenwart eine lebendige Bewegung.

Programm zur Geschichte und Theorie des Anarchismus in der Kantine »Sabot«.
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Programm zur Geschichte und Theorie des Anarchismus in der Kantine »Sabot«.

Datum 19. Juni 2023
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Er ist Bezugspunkt in den Platzbesetzungsbewegungen, in der Klimabewegung, in Mietkämpfen, in autonomen Jugendzentren oder Hausprojekten und in Versuchen der Stadtteilvernetzung. Anarchosyndikalist:innen organisieren Lohnkämpfe, oft auch in Branchen, die nicht von der etablierten Gewerkschaftsarbeit abgedeckt werden. Anarchist:innen der verschiedenen Strömungen sind bundesweit und weltweit vernetzt, eine grosse Zahl an Zeitschriften, Fanzines und „grauer Literatur“ verbreiten anarchistisches Gedankengut.

Der Anarchismus ist anziehend, weil er eine Haltung der Unversöhnlichkeit und des Willens zum Ungehorsam verkörpert. Er formuliert eine Skepsis gegenüber Hierarchien, Bürokratismus und formalisierten Organisationsstrukturen und ist dennoch ständig mit der Frage beschäftigt, wie sich Individuen in der Gesellschaft organisieren sollten. Er macht die individuelle Freiheit zum Massstab von Befreiung überhaupt und sucht gleichzeitig nach der Erfahrung von gelungener Kollektivität. Er artikuliert eine scharfe Kritik an den bestehenden Verhältnissen und beharrt darauf, dass eine andere Gesellschaft jenseits von Nationalstaat und Kapitalismus möglich ist. Er ist verbunden mit Aufstand und direkter Aktion – auch wenn sich verschiedene Strömungen des Anarchismus über die richtigen Mittel der Veränderung immer wieder gestritten haben.

In den letzten Jahren hat sich das Programm der Kantine immer wieder einem einzelnen Denker oder einer einzelnen Denkerin gewidmet und deren Werk und Biografie zum Ausgangspunkt der Diskussion gemacht. Im Gegensatz dazu widmen wir uns in diesem Jahr der Theorie und Geschichte einer ganzen Bewegung. Dazu kommt: Die meisten Personen, mit denen wir uns bisher beschäftigt haben, kommen aus einer Tradition des marxistischen Denkens und sind im Kontext der kritischen Theorie verortet. Wir wollen uns, aus dieser Auseinandersetzung kommend, dem Anarchismus annähern. Das heisst, dass wir keineswegs alles über den Anarchismus wissen und dem Publikum eine reine Lehre oder ein fertiges Urteil über den Anarchismus präsentieren können oder wollen. Wir wollen mit euch und den eingeladenen Referent:innen über den Anarchismus diskutieren und uns mit den Fragen beschäftigen, die der Anarchismus aufwirft.

Der Anarchismus war historisch ein wichtiger Teil der Arbeiter:innenbewegung. Die anarchistische Position war insbesondere in der Frühphase des Kapitalismus mit (wilden) Streikbewegungen, Subsistenzkämpfen, Selbstorganisierungsversuchen in der (ländlichen oder städtischen) Produktion und Sabotageaktionen verbunden. Dafür steht der Sabot – der Holzschuh, der von französischen Anarchosyndikalist:innen als Symbol im Kampf um den 8-Stunden-Tag verwendet wurde. Aus diesem Kontext stammt auch der Begriff der Sabotage – er geht zurück auf den schlurfenden Gang von Arbeiter:innen in Holzschuhen, mit dem sie den Arbeitsprozess, als eine Form des Protests, verlangsamten (frz. saboter = “in Holzschuhen umhertappen, derb auftreten”). Einer etwas kämpferischeren Erzählung nach haben Arbeiter:innen den Sabot in den Fabriken und Manufakturen in die Maschinen geworfen, um sie zu blockieren und das Regime der Lohnsklaverei für Momente zu unterbrechen – aber das gehört vielleicht auch eher dem Reich der anarchistischen Mythen und Legenden an.

Die Geschichte des anarchistischen Strangs der Arbeiter:innenbewegung scheint immer wieder in Vergessenheit geraten zu sein. Dies liegt einerseits daran, dass der Anarchismus oft innerhalb informeller Verbindungen lebendig war und kaum offizielle Institutionen hervorgebracht hat, die sich um Geschichtsschreibung und Traditionsbildung kümmern. Auf der anderen Seite hat der Anarchismus keine mit dem Marxismus vergleichbare, kanonisierte Theorie hervorgebracht, sondern steht dafür, dass die praktische Erfahrung oftmals den begrifflichen Reflexionen vorausgeht. In diesem Sinne ist eine Auseinandersetzung mit dem Anarchismus nicht mit einer Abhandlung über anarchistische Theorie getan, sondern erfordert einen Blick auf die reale Bewegungsgeschichte. Nicht zuletzt haben die sozialdemokratische und oft auch die marxistische Geschichtsschreibung ein Wissen um den anarchistischen Strang der Arbeiter:innenbewegung verdrängt.

Bei unserer Auseinandersetzung mit der anarchistischen Tradition geht es uns nicht darum, sie einfach an für uns bereits feststehenden Positionen zu messen. Die Entgegensetzung zwischen Anarchismus und Kommunismus beruht oft auf historisch entstandenen Versteifungen, die einer kritischen Reflexion im Wege stehen. Der Widerspruch zwischen beiden Strömungen lässt sich aber auch nicht einfach so auflösen. Wir glauben, dass sich hinter der feindlichen Brüderschaft bzw. schwesterlichen Feindschaft sachliche Probleme und reale Schwierigkeiten verbergen. Zum Teil stellen sich uns diese Probleme heute noch und wir müssen Antworten auf sie finden. Eines dieser Probleme, auf die uns der Anarchismus stösst, ist die Stellung zum Staat.

Die Anarchist:innen lehnten es ab, den Staat zum Hebel der Revolution zu machen. Hat die Entwicklung der Oktoberrevolution dieser Ablehnung recht gegeben? Oder waren es andere Faktoren als die “Eroberung der politischen Macht”, die dann tatsächlich zur Entwicklung einer repressiven und mörderischen Staatsmaschine in der Sowjetunion führten? Und ist der Staat ausreichend erklärt, wenn er, wie in vielen anarchistischen Texten, als rein äusserliches Unterdrückungsinstrument erscheint, das eine sonst fröhlich harmonisierende Gesellschaft unter seine Fuchtel nimmt? Ist der Staat nicht vielmehr das notwendige Ergebnis einer bestimmten Form der Vergesellschaftung und damit verbundener Konflikte? Und sind diese Konflikte einfach verschwunden, wenn die offiziellen Institutionen des Staates zerstört sind?

Weitere Fragen schliessen sich an: In welchem Verhältnis steht der anarchistische Anspruch auf dezentrale Organisationsformen zur Notwendigkeit einer demokratischen Planung von Produktion und Verteilung, auch in einem weltweiten Massstab? In welchem Verhältnis stehen individuelle Freiheit und gesellschaftliche Verbindlichkeit – insbesondere auch wenn es um Ressourcenknappheit, ungleiche Verteilung der Reichtümer und Kämpfe um die Verteilung von Reproduktionsaufgaben geht? Wenn wir das Ziel der Abschaffung von Ausbeutung und Unterdrückung, von individueller und gesellschaftlicher Befreiung teilen – welche strategischen und organisatorischen Schwierigkeiten ergeben sich auf dem Weg dorthin? Ist eine augenblickliche Befreiung im Aufstand denkbar oder müssen wir uns den Notwendigkeiten des Übergangs und damit verbundenen Konflikten stellen?

Wenn wir diese Fragen sachlich diskutieren, so denken wir, können Anarchist:innen und Kommunist:innen – ohne alle inhaltlichen Differenzen einfach zu leugnen – einiges voneinander lernen. Ein produktiver Streit kann zu der Erkenntnis führen, dass sowohl die anarchistische als auch die kommunistische Theorietradition Leerstellen und Fehler beinhalten. Wir wollen euch in der ersten Augustwochenende ins Subbotnik in Chemnitz einladen, darüber mit uns zu diskutieren.

pm

Kantine »Sabot« – 31. Juli bis 06. August 2023 in Chemnitz