Auf jeden Fall dürfte der Bundestagswahlkampf sein heisses Thema gefunden haben: Jenseits aller Sachfragen geht es jetzt um die brennende Frage, ob die Brandmauer gegenüber der AfD hält. So lautete die Eingangsthese eines Overton-Beitrags. Mittlerweile hat es weitere Kommentare gegeben, die auf denselben Punkt Nachdruck legen – beim Gewerkschaftsforum etwa oder bei Telepolis. Dort hielt z.B. Harald Neuber fest: „Schwarz-blau ist jetzt: Wie die CDU sich nach rechts öffnet – und das als ‚Brandmauer' präsentiert“. Und mit Merkels Einspruch ist die Aufregung gross, ob wir nicht das Ende der liberalen Demokratie erleben.
Schon wieder ein Aufstand
„Aufstand der Anständigen – Demo für die Brandmauer“: Bundesweite Demonstrationen gegen Rechtsextremismus meldet nun die Tagesschau (tagesschau.de, 3.2.24). Ausgelöst durch „die von der Union initiierte Migrationsdebatte im Bundestag“ sollen sich laut Angaben der Veranstalter bis zu 250.000 Demo-Teilnehmer in Berlin, Köln, Bonn und anderen Städten eingefunden haben. Wie Anfang 2024, als das angebliche Potsdamer Geheimtreffen aufgeflogen war und gar nicht so geheime Pläne zur Begrenzung irregulärer Migration bekannt wurden (die im Grunde alle Parteien bis auf die Linke teilen), ist also wieder ein antifaschistischer Aufschwung im Lande zu verzeichnen.Wieder heisst es: „Den Anfängen wehren!“ Dazu kommentierte der Gegenstandpunkt bereits Anfang 2024: „Welchen Anfängen? Wer gegen die schlechte Behandlung von Migranten ist, kann doch nicht erst bei der AfD anfangen. Und schon gar nicht für die Demokratie eintreten, die es in Deutschland gibt. Die ist mit ihrer Asyl- und Flüchtlingspolitik doch selbst der Anfang und eigentlich längst nicht nur der Anfang dessen, was schon jetzt, und zwar programmatisch, mit Deportationen endet: ‚Wir müssen endlich im grossen Stil abschieben', sagt der demokratische Kanzler.“
Nach den Amoktaten von Solingen bis Aschaffenburg haben alle staatstragenden Kräfte diese Ansage bekräftigt – in der Sache knallhart, in der Tonlage mit einer gewissen Bandbreite von Bild bis zum hinterletzten Lokalblatt – und mit dem Vorstoss des CDU-Kanzlerkandidaten Merz wurde nun offiziell klargestellt: Die Brandmauer, die Demokraten fundamental von Rechtspopulisten und Rechtsradikalen trennen soll, gibt es in der Sache nicht. Sie muss künstlich hergestellt bzw. aufrecht erhalten werden. Sie verdankt sich einem parteitaktischen Kalkül, das mal Abgrenzung, mal gemeinsames Vorgehen verlangt – natürlich alles nur, um dem Mehrheitswillen der Bevölkerung gerecht zu werden. Eine aufschlussreiche Lektion über faschistische Standpunkte, die mitten in der Demokratie hausen! Aber was sagen die massgeblichen Volkserzieher dazu?
Gemeinsame Grundlagen
Explizit in Frage gestellt wurde zwar die AfD-Ausgrenzungsstrategie in christdemokratischen und christlich-sozialen Kreisen schon seit einiger Zeit. Aber jetzt erst, so erfährt man von Experten, soll die Gefahr drohen, dass der Rechtsradikalismus salonfähig wird. In konservativen Kreisen sieht man das etwas anders.Die FAZ konstatiert allerdings auf ihre Weise, dass es die Brandmauer, also den fundamentalen Unterschied zwischen den demokratischen Parteien und ihren populistischen Rivalen, allen voran der AfD, eigentlich nicht gibt. Die rotgrüne Distanzierung vom Merz-Vorstoss, schreibt die „Zeitung für Deutschland“, verdanke sich ideologischer Borniertheit, die Polemik gegen das Wort „Begrenzung“ (vor einem Jahr war es der Terminus „Remigration“) sei in der Sache unbegründet. Es habe hier ja schon alles Mögliche mit SPD-Beteiligung gegeben – „wie die Aussetzung des Familiennachzugs“; und es ginge ja nur um pragmatische Dinge „wie ein grösserer Aktionsradius für die Bundespolizei. Warum die SPD da nicht zustimmt, ist unbegreiflich. Nur das Argument, die Union mache gemeinsame Sache mit der AfD wäre ihr flöten gegangen. Aber ebendarum, um das ‚Tor zur Hölle', wie es Rolf Mützenich in geradezu grotesker Übertreibung nannte, ging es SPD und Grünen von Anfang an.“ (FAZ, 1.2.25)
Einen Beleg für den fiktiven Charakter der Brandmauer hat jüngst die Historikerin Daniela Rüther mit ihrer Studie über „Die Sex-Besessenheit der AfD – Rechte im ‚Genderwahn'“ (2025) geliefert. Es geht hier um die Polemik, die Rechtsradikale und Rechtspopulisten in Verbindung bzw. Übereinstimmung mit konservativen Kreisen gegen einen „Genderwahn“ der progressiven Kräfte betreiben. In der „Genderideologie“ sehen Rechte von Meloni bis Trump, aber auch Wertkonservative und christliche Fundamentalisten den Angriff auf die nationalen Höchstwerte von Heimat, Familie und Gottesfurcht. Das traditionelle Familienmodell sei allein dazu geeignet, die völkische Reproduktion sicherzustellen. Familienpolitik ist somit Bevölkerungspolitik, die gegen das Aussterben des deutschen Volkes antreten muss.
Diese Aufgabe würden die Anhänger des Gender Mainstreaming ignorieren, heisst es von rechts; hier drohe eine tödliche Gefahr. „Demografie: Die leiseste aller Katastrophen“ schreibt der Deutsche Familienverband, und ein seriöses Nachrichtenmagazine lässt dazu 2024 einen Experten zu Wort kommen: „Die unsichtbare Gefahr – Solange der Berg der Babyboomer das klein gewordene Häuflein zukünftiger Eltern verdeckt, fällt uns die demografische Katastrophe noch nicht auf.“ (Focus) Nachwuchsproduktion und Zuwanderung gehören – vom Standpunkt eines Nationalstaats gesehen – eben zusammen. Es sind zwei Optionen, dem Bedarf nach einer brauchbaren Bevölkerung nachzukommen.
Auf der Website des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) kann man nachlesen (bmfsfj.de), dass es selbstverständlich zu den Aufgaben demokratischer Politik gehört, „den Herausforderungen des demografischen Wandels“ – auch bekannt als die Überalterung unserer Gesellschaft – zu begegnen. Und bekanntlich hat ja Anfang der 2000er Jahre die CDU einen Landtagswahlkampf mit der Parole „Kinder statt Inder“ bestritten.
Migration gilt den heutigen Rechten als Bedrohung der Volkssubstanz. Ins humanitäre Extrem getrieben – so lautete die damalige Polemik gegen die „Willkommenskultur“ Merkels, an der sich auch konservative Teile der CDU beteiligten und zu der Innenminister Seehofer (CSU) die Anklage vom „Unrechtsstaat“ beisteuerte – laufe sie mittels des initiierten „Bevölkerungsaustauschs“ auf einen nationalen „Volkstod“ hinaus. Und das muss eine konservative Familienpolitik verhindern, wobei die AfD durchaus zu Modernisierungen bereit ist. Sie bekennt sich ja auch schon seit einiger Zeit zum Schutz von Homosexuellen, Transpersonen oder Frauen, die von sexueller Gewalt (natürlich durch Ausländer!) bedroht sind (vgl. dazu etwa den von Judith Goetz und Thorsten Mense herausgegeben Band „Rechts, wo die Mitte ist – Die AfD und die Modernisierung des Rechtsextremismus“, 2024).
Der Antifaschismus der Anständigen
Was man zu der jetzt öffentlich gemachten Brandmauer-Fiktion von den zuständigen Fachleuten hört, ist ansonsten wenig aufklärend. Ein Monat vor dem Wahltag legte – wie jedesmal bei solchen Anlässen – die Bundeszentrale für politische Bildung ihre Informationen zur Wahl vor (bpb 2025). Der Autor, Politikprofessor Frank Decker, konnte natürlich Anfang des Jahres noch nicht wissen, dass der CDU-Kandidat mit seiner „Begrenzungs“-Initiative einen „Dammbruch“ einleiten würde, aber sonst waren, wie oben dargelegt, alle einschlägigen Informationen über die gemeinsamen Grundlagen bekannt. Dazu gab es ja auch in der politischen Öffentlichkeit immer wieder eindeutige Hinweise – sofern sich die Medien dafür interessierten und nicht, wie nach der Entlarvung des angeblichen Potsdamer „Geheimtreffens“, die Rechtspopulisten aus der demokratischen Gemeinschaft ausgrenzten, weil sie Pläne für eine ethnische Säuberung von NS-Format in den Schubladen hätten. In einem Overton-Kommentar hiess es bereits im Sommer 2023 zu den offenkundigen Gemeinsamkeiten: „Fragt sich nur, wie lange diese Abgrenzungsstrategie hält, hatte doch auch der frühere SPD-Ministerpräsident Börner zunächst den Grünen mit der Dachlatte gedroht, bevor seine Partei mit ihnen eine Koalition bildete. Bei so viel inhaltlicher Nähe zwischen AfD und den ‚etablierten' Parteien kann nach einer Wahl das politische Klima auch schnell kippen, denn schliesslich geht es allen – auch der AfD – immer nur um eins: um Deutschland.“ Und auch an der Dramatisierung des Migrationsproblems ‚nach Solingen' hätte man den ausländerfeindlichen Grundtenor des beginnenden Wahlkampfs erkennen können. (Irreguläre) Migration soll man ja – noch vor Weltkriegsgefahr, Klimawandel, weltweiter, auch einheimischer Verelendung und Prekarisierung, die jetzt sogar unseren Wohlfahrtsstaat zum Abbau eines überzogenen Leistungskatalogs zwingt – als den eigentlichen Notstand betrachten, der alle betrifft.Aber das hat ja seine Logik. Wo das Volk sich sowieso keine sozialen Wohltaten mehr von der nächsten Regierung erwarten soll, höchstens die Beseitigung von ein paar Gerechtigkeitslücken (wie vor allem die SPD verspricht), die mit Respekt vor den sozialen Härtefällen ausgefüllt werden sollen, kann man den Leuten auch einmal den eigentlichen Lohn ihrer Dienstbeflissenheit vor Augen führen: Er besteht darin, was Overton schon in den letzten Wahlkampf-Analysen herausstellte, dass man mit anderen, den Migranten und denen, die nicht hierhergehören, noch rabiater umgeht als mit den eigenen Leuten. Das ist das tolle Angebot: Das treue, „privilegierte“ Eigenvolk, das sich alles gefallen lässt, darf im Wahlkampf dabei zuschauen, wie sich die Parteien mit ihren Vorschlägen zur Schlechterstellung anderer überbieten.
Was Decker dazu in den Informationen der Bundeszentrale zu vermelden hat, ist ein ziemlicher Fehlgriff. Klar sei, dass „die demokratischen Parteien der Mitte die Koalitions- und Regierungsbildung unter sich ausmachen“ würden. „Gänzlich Tabu ist für alle Parteien (mit gewissen Einschränkungen beim BSW) jedwede Zusammenarbeit mit der AfD.“ Da wundert es nicht, was der Mann zu den grossen Themen des Wahlkampfs zu sagen hat. An erster Stelle stünden hier Wirtschaft und Soziales (einschliesslich Klimaschutz), an zweiter der russische Krieg in der Ukraine. Natürlich kommt das alles in den Wahlprogrammen vor, sogar der Evergreen Bürokratieabbau hat hier seinen Platz. Aber die Rangfolge sieht anders aus.
Das Thema Migration wird von Decker dann auch noch aufgeführt. Hier sieht er eine Front, die zwischen den „linken Parteien“ (vor allem Rotgrün) und den „Mitte-Rechts-Parteien“ verläuft. Die einen seien „für Zuwanderung prinzipiell aufgeschlossen“, die anderen für „Begrenzung“. Dass Scholz seit einem Jahr zusammen mit seiner Innenministerin Faeser propagiert, man müsse „im grossen Stil“ für Remigration sorgen, und, wie die FAZ bemerkte, auch schon allem Möglichen zugestimmt hat – nicht zuletzt auf europäischer Ebene (siehe dazu die Analyse bei 99zu1) –, geht dabei ganz verloren.
Wenig hilfreich sind auch die Einlassungen des Politikprofessors Hajo Funke, der bisher mit seinen Veröffentlichungen einiges an Aufklärung über die AfD beigesteuert hat. Im Zeitungs-Interview (Bonner General-Anzeiger, 1./2.2.25) erklärt er, Merz habe mit seinem „Tabubruch“ gezeigt, „dass er skrupellos die Macht will.“ Das kann man nicht bestreiten, das ist aber keine Besonderheit dieses christlichen Politikers. Weiter heisst es: „Das, was Friedrich Merz durchgesetzt hat, ist ein Dammbruch. Das erste Mal seit 1949 haben demokratische Parteien mit einer antidemokratischen, rechtsextremen Partei bewusst und absichtsvoll zusammen eine Mehrheit erreicht.“ Das bietet noch weniger Aufklärung. Hier geht ganz verloren, was es an inhaltlichen Gemeinsamkeiten gegeben hat und was aus wahltaktischen Gründen zur Fiktion einer völligen Unvereinbarkeit hochstilisiert wurde.
Am Schluss heisst es dann: „Wir wissen aus Erfahrungen anderer Länder, aber auch aus unserer eigenen Erfahrung, dass eine Annäherung an Rechtspopulisten bei Wahlen eher dem Original hilft, also in diesem Fall der AfD.“ Schlussendlich steht also alles auf dem Kopf! Lernen kann man am Fall Zuwanderung und Demographie gerade etwas anderes: Nicht die AfD ist, wie gern behauptet, das Original, das jetzt bei den anstehenden Verschärfungen im Asyl- oder Ausländerrecht von den „Altparteien“ kopiert wird. Diese liefern vielmehr die Vorlage, die im Grunde jedem Nationalstaat vertraute Sorge um Intaktheit und Reproduktion(sfähigkeit) seines Volkskörpers.
Die Konjunkturen, die sie dabei in arbeitsmarkt-, renten- oder industriepolitischer Hinsicht, bei Kriegen, Umsiedlungen oder sonstigen transnationalen Händeln zu bewältigen haben, liefern dann das Material, an dem sich rechtspopulistische Schmarotzer bedienen können – immer mit dem billigen Vorwurf, man könnte und müsste das Ganze noch mehr im nationalen Interesse gestalten.