Achim: Ich habe auch noch etwas gelesen: Das tagesschau-Interview von Dienstag, den 11.02.2025 mit dem Historiker Manfred Berg. Er verwendet eine ähnliche Bezeichnung, wie die, über die wir bereits anhand des Brockschmidt-Artikels in Teil II sprachen („administrativer Staatsstreich“). Berg wörtlich: „Es sieht so aus, als handele es sich um eine Art administrativer Putsch. Ob eine neue Regierung so etwas überhaupt darf – ob das nun die Entlassung eines Grossteils von Beamten ist oder die Schliessung von ganzen Behörden –, ist völlig umstritten und wird vor Gericht landen. Aber die Frage ist, ob Trumps Administration überhaupt bereit ist, Gerichtsurteile zu akzeptieren.“ Überzeugt dich das?
dgs: Nö – einerseits zu sagen, dass gar nicht klar, sondern (bloss) umstritten sei, ob die Regierung das, was sie macht, machen darf; aber andererseits schon mal die These vom „administrativer Putsch“ rauszuhauen, scheint mir mehr vom Wunsch in die tagesschau zu kommen, als von dem Anliegen, auf Untersuchungen (Forschung) beruhende Erkenntnisse bekannt zu machen, getragen zu sein. Dass Regierungen Umstrittenes machen und dass der Streit vor Gericht kommt, ist ja nun nichts Ungewöhnliches – unter anderem dafür existieren die Gerichte ja.
Gliederung: Trump – ein Autokrat von eigenen Gnaden?
Zerschlagung des Zwangs-Apparats
deutsche Grundgesetz-Unfehlbarkeits-Klauseln
Hat die bürgerliche Mitte, dem Rechtspopulismus, wenn nicht gar der Faschisierung, Vorschub geleistet?
Motive von AfD-WählerInnen
Die Landtagswahlen im vergangenen Herbst
+ Brandenburg
+ Thüringen und Sachsen
Hessische Landtagswahl im Oktober 2023
Bundestagswahl am Sonntag (23.12.2025)
Sind „immer mehr Leute i[m] Abseits“?
Die Linke sollte sich an die eigene Nase fassen statt die Gemeinheit des Feindes zu beklagen
Post-Originalismus, Legalität und Legitimität
Ist Trump ein Schmittianer?
Achim: Berg sagt des weiteren: „Die Trump-Administration […] vertraut […] institutionell darauf, dass das System überwältigt wird und paralysiert ist. Die Gerichte entscheiden nicht so schnell, wie Trump Dekrete unterschreibt und wie Musk seine Leute in die Ministerien schickt. Am Ende kann es einfach dazu führen, dass die Administration vollendete Tatsachen schafft. Das gesamte normative System von checks and balances steht damit zur Disposition.“ Steckt in Trumps Vorgehen nicht eine alte linke „Wahrheit“, dass man den Staat nicht einfach für seine Zwecke ummodeln kann, sondern dass er zerschlagen werden muss? Ich glaube zwar nicht, dass Trump Lenin gelesen hat, aber er kann ja trotzdem lernen…
Staatliche Kontinuität versus Zerschlagung des Zwangs-Apparats
dgs: Die These von Marx1 und Lenin2 war ja auf die ArbeiterInnenklasse – als den Teil der Bevölkerung, von dem sie annahmen, dass er ein Interesse habe oder zumindest entwickeln könne, die kapitalistische Produktionsweise zu überwinden – gemünzt. Was inner-kapitalistische politische Richtungswechsel (selbst schon, was den Übergang von Niedergang der feudalen zu Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise) anbelangt, gingen sie wohl von einer grösseren Flexibilität der Verwendbarkeit aus3 – und die (abgesehen von den antisemitischen Säuberungen ab 1933; viel politisch unzuverlässige Leute gab es eh nicht zu entlassen4) grosse personelle Kontinuität des deutschen Staatsapparates in den vierzig oder fünfzig Jahren (sagen wir von 1915/18 bis 1955/58 oder 1965/68) vom Ende des Kaiserreichs über die Weimarer Republik (mit weitgehend parlamentarischer und präsidialdiktatorischer Phase) sowie NS bis zur frühen Bundesrepublik scheint dies zu bestätigen.Achim: Wenn du eine Kontinuität vom Kaiser bis heute erkennst, dann kann doch der Faschismus nicht wirklich ein historischer Bruch gewesen sein. Gibt es Brüche also wirklich nur mit einer Änderung der Klassenstruktur und ist die Regierungsform innerhalb bürgerlicher Verhältnisse für Linksradikale oder Kommunisten dann nicht egal?
dgs: Ich würde dreierlei antworten wollen:
Erstens: Es war nicht nur Kontinuität; aber die starke personelle Kontinuität des deutschen Staatsapparates war eine Kontinuität im Wandel. (Vielleicht können wir weitergehend die Hypothese aufstellen: Die Kontinuität des Öffentlichen Dienstes ermöglicht und begrenzt reibungslosen Wandel.)
Zweitens: Der Übergang zum NS war in der Tat kein Bruch, sondern zunächst einmal eine Fortschreibung von Dingen, die schon in der Präsidialdiktatur-Phase der Weimarer Republik Staatspraxis (Übergang von parlamentarischer zu reichspräsidialer Gesetzgebung; Ernennung von Kanzlern ohne parlamentarisches Vertrauen bei gleichzeitiger Reichstags-Auflösung; …) bzw. staatlich geduldete Praxis der Nazis waren. Die für (alle gleiche [siehe noch einmal FN 16 in Teil I zum allgemeinen Gleichheitssatz und die Literaturhinweise dazu in Teil II]) Geltung der Gesetze war schon vor Hitlers Ernennung, der Reichstagsbrandverordnung und dem Ermächtigungsgesetz in Frage gestellt.
Drittens: Die Klassenverhältnisse sind nicht alles; und die Ökonomie ist auch nicht alles, was existiert. Die Ausschaltung des Pluralismus bürgerlicher sowie monarchistischer bzw. monarchie-nostalgischer Parteien war ein Bruch mit Verfassung und Staatspraxis sowohl der Weimarer Republik als auch des Kaiserreichs – und der eliminatorische Antisemitismus ohnehin.
Achim: Dann zurück zu dem tagesschau-Interview mit Berg: Eine weitere These von ihm lautet: „Als Folge einer jahrhundertelangen Entwicklung hat das [US-Präsidenten-]Amt inzwischen eine Machtfülle, die nie vorgesehen war. Sie läuft darauf hinaus, dass ein skrupelloser Präsident – und den haben wir gerade im Amt – eine Art Diktaturgewalt für sich reklamiert: Regieren durch Exekutiverlass. Aber diese Exekutiverlasse müssen selbstverständlich eine verfassungsrechtliche und eine gesetzliche Grundlage haben. Sie können Gesetze und vor allem die Verfassung nicht ausser Kraft setzen. Aber das tut Trump. Was Gerichte dagegen machen, wissen wir jetzt noch nicht.“ Sind die US also bereits eine Diktatur? dgs: Wenn, dann jedenfalls nicht wegen der „Exekutiverlasse“ (Berg) als solches, Rechtsverordnungen der Regierungen und Ministerien gibt es ja hier und in anderen Ländern auch – und auch wenn der präsidiale Spielraum in den USA vielleicht etwas grösser ist als hier (wegen Artikel 80 Absatz 1 Grundgesetz: „Durch Gesetz können die Bundesregierung, ein Bundesminister oder die Landesregierungen ermächtigt werden, Rechtsverordnungen zu erlassen. Dabei müssen Inhalt, Zweck und Ausmass der erteilten Ermächtigung im Gesetze bestimmt werden.“). Und Berg selbst sagt, dass die Executives Orders gesetzes- und insbesondere verfassungsgemäss sein müssen, um gültig zu sein. Ob sie das im grossen und ganzen sind oder systematisch nicht sind, ist die Frage, die jedenfalls ich im Moment nicht in der Lage bin, zu beantworten – und ich habe nicht den Eindruck, dass Berg sie klarer und fundierter beantworten kann.
Ausserdem bin ich mir nicht sicher, ob das mit „eine Machtfülle, die nie vorgesehen war“, stimmt. Jedenfalls hat der/die US-PräsidentIn, schon nach dem, was in der Verfassung drinsteht, eine sehr starke Stellung:
- Er bedarf keines parlamentarischen Vertrauens, was auch logisch ist, da er selbst (indirekt) vom Volk gewählt wird. Es gibt aber auch keine plebiszitäre Abwahlmöglichkeit, sondern nur die Möglichkeit des impeachment-Verfahrens im Kongress, das aber für eine Amtsenthebung einer 2/3-Mehrheit im Senat bedarf.
-
Das Vorschlagsrecht für die BundesrichterInnen liegt bei dem/der Präsidenten/in. Zwar ist eine Billigung der Vorschläge durch den Senat erforderlich, die aber bisher in der Regel erfolgte, sofern die Partei des Präsidenten im Senat nicht deutlich in der Minderheit ist.
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Er hat ein Vetorecht gegen Gesetze des Kongresses.
-
Und anders als in der V. Französischen Republik und der Weimarer Republik gibt es keineN Ministerpräsidenten/in unter bzw. neben ihm.
Angelsächsische Liberalität contra deutsche Grundgesetz-Unfehlbarkeits-Klauseln
Achim: Trotzdem hast du ja aber eine sehr wohlwollende Beurteilung der angelsächsischen Systeme – also auch des us-amerikanischen… Warum?
dgs: Weil der Kongress nicht machtlos ist; ob er die Macht nutzt, hängt freilich davon ab, ob in zumindest in einer Kammer eine andere Partei (die andere Partei) als die des Präsidenten die Mehrheit hat; weil die RichterInnen ein positivistischeres, weniger aktivistisches Selbstverständnis haben als hier5 (selbst die jetzige ultra-konservative Supreme Court-Mehrheit erlaubt den Bundesstaaten z.B. ‚nur' die Kriminalisierung von Abtreibungen, während das Bundesverfassungsgericht der Ansicht ist, das Grundgesetz schreibe vor, Abtreibungen als strafrechtswidrig zu behandeln6). Weil die Meinungsäusserungsfreiheit deutlich liberaler ausgelegt wird als hier, und es keine Entsprechung zu den Verfassungsschutz-Klauseln (Parteien- und Vereinigungsverbote sowie Grundrechtsverwirkung wegen ideologischer Unbotmässigkeit) im Grundgesetz gibt. (Auch in der McCarthy-Ära war die US-KP nicht verboten, auch wenn sie auch strafrechtlich unter starkem Druck geriet.) Weil die US-Verfassung zwar schwierig zu ändern ist, aber – anders als das Grundgesetz – keine sog. Ewigkeitskausel enthält. Weil das US-System durch alldas prozeduraler und (zukunfts)offener ist als das deutsche, substantialistische Wertordnungs-System. Weil bei der Boston Tea Party im Sinne der Parole „No taxation without representation“ gehandelt wurde; weil im US-amerikanischen BürgerInnenkrieg gegen die Südstaaten (mit Sklaverei) gehandelt wurde – während hier das emanzipatorische Handeln sowohl 1848 als auch 1918 sehr zaghaft ausfiel und 1933 ff. nahezu ganz ausblieb.
Hat die bürgerliche Mitte, dem Rechtspopulismus, wenn nicht gar der Faschisierung, Vorschub geleistet?
Achim: Ein letztes Zitat aus dem tagesschau-Interview mit Berg: „Wir sehen den Versuch einer Gruppe sehr reicher, mächtiger Männer, den Staat so umzugestalten, dass er ihren Interessen entspricht. Und das nennt man gemeinhin Oligarchie. Die Ironie dieser Entwicklung ist, dass der amerikanische Konservatismus in den vergangenen Jahrzehnten systematisch das Vertrauen in die Regierung untergraben hat. Big Government ist dämonisiert worden.“ Glaubst du, der Konservatismus und auch der Neoliberalismus der gemeinhin so genannten bürgerlichen Mitte, dem Rechtspopulismus, wenn nicht gar der Faschisierung, Vorschub geleistet hat? Und was würde das für politische Handlungsoptionen bedeuten? Und auch in Bezug auf Wahlen (in den USA als auch in Deutschland)?
dgs: Ich verstehe gar nicht so genau, was nach Berg die Ironie ist. Der US-Konservatismus ist halt nicht so weitgehend bruchlos am „starken Staat“ interessiert wie – trotz Neoliberalismus – der hiesige Konservatismus, sondern die US-Rechte ist ein Gemenge von Konservativen im deutschen / europäischen Sinne und sog. „Libertären“ (was im US-Fall nichts mit Anarchismus zu tun hat) (siehe den in FN 4 genannten Text von Ptak/Wolf).
Und zu Deiner Frage, ob ich glaube, dass die „so genannte bürgerliche Mitte, dem Rechtspopulismus, wenn nicht gar der Faschisierung, Vorschub geleistet hat“: In welchem Sinne könnte das Deines Erachtens der Fall sein? Achim: Nun ja, viele Linke in Deutschland argumentieren, erst die Politik der SPD und der Grünen hätte der AfD Auftrieb gegeben. Und dass die CDU quasi von der AfD abschreibt in der Migrationsdeabtte, sei ein Verfall der Brandmauer7. Ich weiss zwar nicht, wie das in den USA ist, aber das amerikanische Zweiparteiensystem wurde von den Linken immer als politische Zwillinge angesehen, die sich bestenfalls in Nuancen unterscheiden, wenn ich das richtig sehe.
dgs: Ja, in Bezug auf die USA würde ich zustimmen, dass sich sehr lange Republikanische und Demokratische Partei noch näher waren als christ- und sozialdemokratische Parteien in Europa. Aber das ist ja nun spätestens seit dem Versuch von Trump, das Wahlergebnis von 2020 zu kippen, vorbei – seitdem werfen sich beide Seiten ständig wechselseitig Verfassungsbruch sowie „MAGA [Make America Great Again]-Extremismus“ (Demokratische Partei über Trump) bzw. „Linksradikalismus und Marxismus/Kommunismus“ (Trump über [Teile der] Demokratischen Partei) vor.
Wenn das nicht nur Kampf um politisch-mediale Aufmerksamkeit ist, sondern halbwegs ernstgemeint ist, müssten sich beide Seiten auf einen BürgerInnenkrieg vorbereiten – was die rechten Milizen vermutlich auch machen.
Nun zu hier: „viele Linke in Deutschland argumentieren, erst die Politik der SPD und der Grünen hätte der AfD Auftrieb gegeben“. Welche Leute sagen, das denn? Und wie und wieso sollen Grüne und SPD das gemacht haben? Absichtlich – mit welcher Absicht? Oder als nicht-intendierter Effekt durch ‚zuviel' Klimaschutz und sog. ‚Identitätspolitik' – weil sie dadurch das ‚deutsche Proletariat' (haha) in die Arme der AfD getrieben hätten? (Und die Grünen waren – vor der jetzigen verkürzten Wahlperiode – die ganze Merkel-Ära über eh nicht an der Bundesregierung beteiligt.)
Achim: Na ja, RIO/RSO, SpAD und SGP vertreten die von mir zitierte These auf alle Fälle. MLPD und DKP verfolge ich nicht so, wird aber vermutlich ähnlich sein. Absicht war das sicher nicht, liegt aber vielleicht in der Logik des Neoliberalismus, der immer mehr Leute ins Abseits drängt. Klimaschutz und Identitätspolitik mögen auch eine Rolle spielen, aber entscheidend scheint mir der Verlust sozialer Sicherheit zu sein (was ja auch ein Faktor beim BSW ist).
Und wieso lachst du beim beim Begriff „deutsches Proletariat“? Gibt's das deines Erachtens nicht mehr?
dgs: Geben tut es die Klasse der Lohnabhängigen schon – nur ist ja keine neue Entwicklung, dass der hierzulande, die Sorge um den Kauf der Bahnsteigkarte8 wichtiger ist, als die Vorbereitung von Fabrik- und Bürobesetzungen.
Motive von AfD-WählerInnen
Und der (bio-)deutsche Teil dieser Klasse ist deren ‚aristokratischer' Teil, wie Lenin gesagt hätte9. Falls sich dieser Teil wegen des Abbaus des Sozialstaates oder gar wegen Ausbeutung und Klassenherrschaft grämt, könnte er sich vertrauensvoll an eine der von Dir genannten Gruppen oder die FAU oder oder wenden, da ist ja nun für jeden Geschmack, was dabei…
Und was die AfD-WählerInnen anbelangt, so sagen die ja sehr klar, warum sie diese Partei wählen: infratest-dimap fragt die WählerInnen an den Wahltagen für die ARD jeweils,
-
sowohl welche Parteien sie für bestimmte Themen für ‚kompetent' halten
-
als auch welche Themen für das Votum der einzelnen WählerInnen wichtig war.
Brandenburg
In Brandenburg bescheinigten
-
jeweils 20 % oder etwas mehr der AfD-WählerInnen der von ihnen gewählten Partei für „Kriminalitätsbekämpfung“, „Asyl- und Flüchtlingspolitik“ und „ostdeutschen Interessen“
-
aber nur 13 % für „soziale Gerechtigkeit“
Auf die direkte Frage, „Welches Thema spielt für Ihre Wahlentscheidung die grösste Rolle?“, antworten
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41 % „Zuwanderung“ und 23 % „Kriminalität, innere Sicherheit“,
-
aber nur 5 % (auf Platz 6) „soziale Sicherheit“.11
Thüringen und Sachsen
In Thüringen waren alle Werte hinsichtlich der „Kompetenz“ etwas höher, aber der Abstand (13 Prozentpunkte) zwischen „Kriminalitätsbekämpfung“ (31 %) und „soziale Gerechtigkeit“ (18 %) noch grösser als in Brandenburg (dort: 11 Prozentpunkte).12Direkte Frage: „Welches Thema spielt für Ihre Wahlentscheidung die grösste Rolle?“:
- „Zuwanderung“ etwas weniger als in Brandenburg (35 %); dafür „Kriminalität, innere Sicherheit“ deutlich mehr (36 %);
- „soziale Sicherheit“ (8 %) etwas mehr als in Brandenburg.13
Hessische Landtagswahl im Oktober 2023
Nehmen wir – zur Kontrolle – noch ein lange sozialdemokratisch regiertes West-Bundesland: Hessen (Okt. 2023) – hinsichtlich der Kompetenz-Zuschreibung neun Prozentpunkte Abstand zwischen „Asyl- und Flüchtlingspolitik“ und „sozialer Gerechtigkeit“.15 Die zweite Frage wurde anscheinend nicht gestellt.
Bundestagswahl am Sonntag (23.02.2025)
Schliesslich die Bundestagswahl von Sonntag: Hinsichtlich der „Kompetenz“-Zuschreibung an die AfD 12 Prozentpunkte Abstand zwischen „Kriminalitätsbekämpfung“ und „soziale[r] Gerechtigkeit“16; in Bezug auf die Wichtigkeit für die Wahlentscheidung für die AfD schafft es die „soziale Sicherheit“ nicht einmal unter die ersten fünf Themen (Platz 5: gestiegene Preise – 6 %).
Sind „immer mehr Leute i[m] Abseits“?
Selbst „Neoliberalismus, der immer mehr Leute ins Abseits drängt“ stimmt allenfalls halb für die BRD: Die Reallöhne steigen seit über 10 Jahren wieder überwiegend (mit Pandemie- und Ukrainekriegs-bedingten Ausnahmen).17 Wahr ist aber, dass das Haushaltseinkommen der untersten 10 % eher eine Tendenz nach unten als noch oben hat – mehr oder minder stagniert; während das Haushaltseinkommen der obersten 10 % besonders stark steigt.18 Die untersten 10 % – das werden aber zu einem erheblichen Anteil alleinerziehende Mütter und (post-)migrantische Haushalte sein.
Gehen wir nicht vom Haushaltseinkommen, sondern vom individuellen Nettoeinkommen der Erwerbstätigen aus, so liegen folgende Zahlen vor:
- Es gibt in der BRD circa 43 Mio. Erwerbstätige
- Daran machen diejenigen mit einem Nettoeinkommen von weniger als 1.000 Euro 14,1 % aus.
- Von diesen wiederum sind über 35 % Menschen mit sog. „Migrationshintergrund“19, wobei deren Anteil an den Erwerbstätigen mit einem Einkommen von weniger als 500 Euro noch etwas höher ist.
-
Oder anders dargestellt – von den Erwerbstätigen ohne Migrationshintergrund hat mehr als die Hälfte ein Nettoeinkommen von 2.000 Euro oder mehr; dagegen von den Erwerbstätigen mit Migrationshintergrund ein Nettoeinkommen von unter 2.000 Euro (siehe Graphik am Beginn des Artikels; Datenquelle: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Migration-Integration/Publikationen/Downloads-Migration/statistischer-bericht-migrationshintergrund-erst-2010220237005.html, Tabelle 12211-36 [Spalte B, D, R bis Z, Zeile 146 und 166 + eigene Berechnung der Prozentanteile])
Das heisst: Die ArbeiterInnen, die AfD wählen, was (im Vergleich mit Angestellten, Selbständigen und RentnerInnen) durchaus viele sind20, werden nicht migrantische Niedriglohn-Beschäftigte sein – allein schon, weil viele von denen mangels Staatsangehörigkeit gar nicht wählen dürfen. Und es ist (heutzutage) nicht einmal sicher, sondern eher unwahrscheinlich, dass (Fach)ArbeiterInnen in der stofflichen Produktion schlechter bezahlt werden als Angestellte (in konsum-nahen Dienstleistungsbereichen).21
Speziell zu letzterem und auch speziell zum Einkommen von alleinerziehenden Frauen im Vergleich zum Rest der Bevölkerung habe ich (noch) keine Zahlen gefunden – aber viererlei ist klar:- Es gibt in der BRD weniger als 600.000 alleinerziehende Männer, aber fast 2,4 Mio. alleinerziehende Frauen.22
- Alleinerziehenden-Haushalt haben ein deutlich geringeres (Nettoäquivalenz)Einkommen sowohl als andere Haushalte mit Kindern als auch Haushalte ohne Kinder.23
- Frauen haben – (auch) unabhängig vom Kriterium „alleinerziehend oder nicht“ – ein deutlich geringeres Einkommen als Männer.24
-
Aber es wählen deutlich mehr Männer als Frauen die AfD.25
- Ergo: Es ist jedenfalls unwahrscheinlich, dass viel Leute deshalb die AfD wählen, weil sie am Hungertuch nagen.
dgs: Eine Erklärung habe ich ja schon vorschlagen: Rassistische Leute wählen eine rassistische Partei. Das führt allerdings zur Frage: Wie ist es möglich, Leute davon abzubringen, rassistisch zu sein, bzw. was ist mit ihnen zu machen, wenn sie sich nicht davon abbringen lassen?
Sicherlich lassen sie sich nicht durch mehr Sozialleistungen im allgemeinen oder speziell für sie vom Rassistischsein abbringen (denn „soziale Gerechtigkeit“ geben sie ja kaum als Wahlmotiv an und, soweit sie es machen, verstehen sie auch darunter vielleicht vor allem, dass die vermeintlich falschen Leute Sozialleistungen bekommen und nicht, dass es zu wenig Sozialleistungen gibt). (Dass es als anti-rechtspopulistisches Mittel vermutlich nicht tauglich ist, spricht selbstverständlich nicht gegen mehr Sozialleistungen.)
Was – angesichts des starken Stadt-/Land-26 / Innenstadt-/Randbezirke27-Wahlgefälles – vielleicht eher helfen könnte, wären bessere öffentliche Verkehrsangebote zwischen Stadt und Land und kulturelle Infrastruktur auf dem Land (sofern diese dann nicht aus völkischer Traditionspflege besteht), da sich das rechtspopulistische WählerInnenpotential zu einem erheblichen Teil an überwiegend grossstädtischen Phänomen, Praktiken und Haltungen (hohe migrantische Bevölkerungsanteile; Fahrrad statt Auto fahren; queer und trans communities; …), die sie kaum unmittelbar, sondern bloss medial vermittelt mitbekommen, stören. Vielleicht würde also ein Abbau des Stadt-/Land-Gefalles die kulturkämpferische Borniertheit der rechtspopulistischen WählerInnen abbauen.
Eine zweite Erklärung ist damit schon angedeutet: Rechtspopulistischen WählerInnen stören sich an der gegenüber früher (noch Anfang/Mitte der 90er Jahre) stärkeren öffentlichen Sichtbarkeit von früher stärker marginalisierten gesellschaftlichen Gruppen. Der Rechtspopulismus ist also unter anderem eine Abwehrhaltung derjenigen, die sich dadurch in ihren ‚aristokratischen' (vgl. noch mal FN 9) Ansprüchen verletzt fühlen.
Drittens: Jene (vor allem kulturellen) Veränderungen seit Mitte der 90er Jahre sind weniger Erfolge kämpferische sozialer Bewegungen, sondern gingen mit der NGO-isierung der sog. Neue Sozialen Bewegungen der 1970er und 1980er Jahre sowie die Etablierung (und Neoliberalisierung) der Grünen einher. Ich würde nicht sagen, dass von den NGO oder den Grünen nichts oder nur Schlechtes bewirkt wurde. Aber es wurde – wie gesagt – kaum ‚von unten' durchgesetzt, sondern es lief vor allem über die Staatsapparate, ist entsprechend schlecht gesellschaftlich verankert und daher backlash-anfällig.
Durch den Anpassungsprozess von sog. Neuen Sozialen Bewegungen und Grünen fiel ausserdem eine bestimmte Protestkultur, die in der Lage war, ein bestimmtes diffuses Unzufriedenheitspotential halbwegs sinnvoll zu absorbieren, weg. Für dieses diffuse Unzufriedenheitspotential sind (wegen dessen Diffusität / Ungefestigkeit) weder die verbliebenen revolutionär-marxistischen Gruppen noch die militante Linke attraktiv. Dieses diffuse Unzufriedenheitspotential und dessen kulturellen Ausdrucksformen waren durch die Proteste gegen die Infektionsschutzmassmassnahmen während der Pandemie28 und sind durch putin-phile ‚FriedensfreundInnen' rechts hegemonialisiert.
Viertens denke ich, dass an der Selbsterklärung der AfD ist durchaus etwas dran ist: Die CDU war unter Merkel liberaler als unter Kohl und Adenauer. Dadurch wurde politischer Raum rechts von der CDU frei. Dies wirft drei Fragen auf: Ist die Erklärung auch für andere Ländern mit rechtspopulistischen Erfolgen tragfähig? Ist es unter dem Strich besser oder schlechter als früher (als die CDU weiter rechts als unter Merkel stand)? Und warum gelingt Merz' Strategie nicht, den Raum rechts von der Union für diese wieder zurückzuerobern? (Vielleicht allein schon deshalb, weil sich dieses Spektrum als allein parlamentsfähig erwiesen hat und deshalb keinen Grund sieht, sich wieder in den Unions-Pluralismus einzuordnen. Darüber hinaus, was einen Teil des rechtspopulistischen Spektrums anbelangt, wegen des Widerspruchs zwischen transatlantischer und putin-philer Orientierung, was sich vielleicht mit Trump und Merz einebnet.)
Fünftens, was speziell die AfD-Zuwächse seit der letzten Bundestagswahl und die Entstehung des BSW anbelangt, so dürfte- – in Bezug auf beides – der Wegfall einer sozialdemokratischen oder neu-sozialbewegten Position der „Entspannungspolitik“29, 30 und
- speziell in Bezug auf die AfD, dass die FDP in der Koalition mit SPD und Grünen nur teilweise das durchsetzen konnte, was sich insbesondere der rechtspopulistische Kubicki-Fanclub erhoffte,
Achim: Ich habe einen weiteren Text gelesen – den Artikel „Der Neofaschismus als Produkt des Neoliberalismus“ im untergrundblättle, der ebenfalls am 11.02. erschienen war. Haben wir es nicht vielmehr gerade in den US mit einem Kampf zwischen der neoliberalen Demokratischen Partei und der rechtspopulistischen (oder nach Artikel-Ansicht vielleicht: „neofaschistischen“) Republikanischen Partei zu tun – und ähnlich in der EU zwischen der BRD und den nordwestlichen Staaten einerseits und der Orban-Regierung in Ungarn und – bis zum Regierungswechsel Ende 2023 – der PIS-Regierung in Polen andererseits?
dgs: Die Produkt-These in dem Artikel wird ja folgendermassen begründet:
„Die aufkommende neofaschistische Gesellschaftsform ist ein Produkt des Neoliberalismus. In jenem wurden öffentliche Güter privatisiert, gibt es im Durchschnitt für die meisten keine effektiv inflationsausgleichende Lohnerhöhung und wird der gewerkschaftliche Organisationsgrad vermindert. Im Neoliberalismus wird politischer Opposition ebenso mit Repression begegnet, während oppositionelle Forderungen durch technokratische Vermittlungsgremien entpolitisiert und von der Regierungspolitik adaptiert und als Innovation verwertet werden. Der neoliberale Hyperkapitalismus atomisierte und ent-sinnlichte die Einzelnen durch seine Selbstverwirklichungsnarrative und -mechanismen soweit, dass sie ihre Erlösung aus Vereinzelung und Sinnlosigkeit in den Konstrukten von faschistischer Volksgemeinschaft und Nationalstaat suchen.“
Diese Argumentation scheint mir mit mehreren Problemen behaftet zu sein:- „gibt es […] für die meisten keine effektiv inflationsausgleichende Lohnerhöhung“ ist halt nicht wahr, wie gerade schon gezeigt – für 90 % der Bevölkerung in der BRD gibt es die Reallohnsteigerungen sehr wohl.
-
„wird der gewerkschaftliche Organisationsgrad vermindert“. Was heisst „wird […] vermindert“?! Das geschieht hier ja nun nicht durch Regierungseingriff, sondern, weil ältere Gewerkschaftsmitglieder sterben oder bei Verrentung austreten und jüngere weniger als früher eintreten.
-
„Im Neoliberalismus wird politischer Opposition ebenso mit Repression begegnet, während oppositionelle Forderungen durch technokratische Vermittlungsgremien entpolitisiert und von der Regierungspolitik adaptiert und als Innovation verwertet werden.“
- Am ehesten teile ich das mit den „technokratische[n] Vermittlungsgremien“ – aber nicht nur in Bezug auf Vereinnahmung oppositioneller Forderungen, sondern auch in Bezug auf die Darstellung herrschender Politik als „Sachzwang“.
- „Im Neoliberalismus wird politischer Opposition ebenso mit Repression begegnet“. Was heisst „ebenso“? „Ebenso“ wie wann oder wo (also: an welchem anderen Ort oder zu welchem anderem Zeitpunkt)? Und welches Spektrum ist mit „politischer Opposition“ gemeint?
Mao wusste: „Die Grundursache der Entwicklung eines Dinges liegt nicht ausserhalb, sondern innerhalb desselben; sie liegt in seiner inneren Widersprüchlichkeit.“ (MAW I, 365 - 408 [367] – Über den Widerspruch) Die heutige Linke ist dagegen gut darin, den Griff an die eigene Nase zu vermeiden, und die Ursache der eigenen Schwäche vor allem bei der Stärke und Gemeinheit der Gegenseite zu suchen.
Achim: Der Neoliberalismus/Neofaschismus-Artikel kritisiert eine Sichtweise, die wie folgt beschrieben wird: „Nun kann man sagen: ‚Nichts wird so heiss gegessen, wie es gekocht wird'. Vielleicht ist es sinnvoll, heute vehement vor den kommenden Bedrohungen zu warnen, um dadurch entsprechende Korrekturmechanismen in Gang zu bringen. Doch in Panik brauche niemand zu verfallen, denn die Menschheit wäre schon immer erfinderisch gewesen und verfüge heutzutage sie über so viel Wissen und Ressourcen, dass sich das Ganze schon neu arrangieren liesse.“ Dem wird entgegengesetzt, diese Denkweise impliziere, „dass gesellschaftlicher Wandel ein quasi-natürlicher Vorgang wäre, auf den lediglich reagiert werden könne, weil er sich zwangsläufig vollziehen würde. Tatsächlich geschieht der Umbau der bestehenden Gesellschaftsform aber systematisch, umfangreich und nach dem Willen der Reichen und Mächtigen.“ Siehst du das ähnlich oder denkst du, dass sich linke Alternativen herausbilden können? Ich sage ehrlich, dass ich da sehr skeptisch bin. Die deutsche Linke ist heillos zerstritten und ich denke nicht, dass es in den USA viel besser aussieht, auch wenn einzelne Organisationen vielleicht grösser sind.
dgs: Sagen wir mal so: Ich traue der kapitalistischen Produktionsweise schon sehr viel Flexibilität und Krisenmanagement- und auch -bewältigungs-Fähigkeit zu. Insofern liegt mir die These „in Panik brauche niemand zu verfallen“ schon nicht ganz fern. Was deine Frage nach Herausbildung linker Alternativen anbelangt: Die Black Live Matters-Bewegung entstand in Trumps erster Amtszeit, und die Zwischenwahlen zur Hälfte seiner eigenen (ersten) Amtszeit nahmen ihm die republikanische Mehrheit im RepräsentantInnenhaus. Und der jetzige Angriff von Trump und Musk auf den Öffentlichen Dienst in den USA hat vielleicht zumindest den positiven Nebeneffekt, mit der Legende von BSW und anderen aufzuräumen, Trump sei der grosser Freund der US-ArbeiterInnenklasse und die woke Demokratische Partei die Partei privilegierter, lebensfremder Intellektueller.
Achim: Eine weitere These in dem Artikel lautet: „Das neoliberale ökonomisch-politische Gesellschaftsarrangement wird durch eine andere Form abgelöst. In jener treten die Härten des Kapitalismus unvermittelter zu Tage. Darin werden demokratische Rechte, Freiheiten und Institutionen abgebaut, da sie gesteigerten Interessen nach Kapitalverwertung und Herrschaftsausübung im Weg stehen. Mit der Auflösung des Sozialstaates wird das untere Viertel oder Drittel der Bevölkerung europäischer Nationalstaaten in neofeudale Abhängigkeitsverhältnisse gezwungen.“ Was hältst du von der These?
dgs: Auch das ist mir alles nicht konkret (präzise) genug:-
„neofeudale Abhängigkeitsverhältnisse“: Was ist gemeint? Die Plattform-Ökonomie und andere Formen von (Para-)Schein-Selbständigkeit? Inwiefern „neofeudal“? Wo ist da die persönliche Abhängigkeit, die für den historischen Feudalismus charakteristisch war? Da die Plattformen keine Monopole sind, können die Leute die Plattform wechseln; sie dürfen auch streiken.
-
„Darin werden demokratische Rechte, Freiheiten und Institutionen abgebaut, da sie gesteigerten Interessen nach Kapitalverwertung und Herrschaftsausübung im Weg stehen.“ Wo? In welchen Ländern? Welche demokratischen Rechte? Welche Freiheiten? Welche Institutionen? Inwiefern stehen diese „gesteigerten Interessen nach Kapitalverwertung und Herrschaftsausübung im Weg“?
- „Auflösung des Sozialstaates wird das untere Viertel oder Drittel der Bevölkerung“: Siehe oben zur Reallohn- und Haushaltseinkommens-Entwicklung in der BRD.
dgs: Zu, „Der NS wäre früher oder später an seinem eigenen Totalitarismus erstickt“, sage ich: „Weiss ich nicht.“
Zu dem Anfang sage ich: „Dann vielleicht besser nicht mit den historischen Begriffen operieren, sondern die neue Sache auf einen ihr angemessenen neuen Begriff bringen.“
Post-Originalismus, Legalität und Legitimität
Achim: Ich würde jetzt gerne noch über einen Artikel in der New York Times von Samstag, den 15.02.2025 mit der Überschrift „The Radical Legal Theories That Could Fuel a Constitutional Crisis. An increasingly influential group of conservative scholars has some drastic ideas about the president's power“ mit dir sprechen. In dem Artikel geht es viel um „originalism“. Was ist das überhaupt?
dgs: „Originalismus“ ist die Bezeichnung für einen methologischen Ansatz in der US-Rechtswissenschaft, der ein naher Verwandter oder ein Unterfall des „Textualismus“ ist. Und „Textualismus“ ist – auch wenn er bei einigen Leuten als politisch konservativ verschrien ist – meines Erachtens das A und O jeder Rechtswissenschaft und für die Berechenbarkeit des Handelns der Staatsgewalt – die Anerkennung, dass der Wortlaut (der Text) Ausgangspunkt und Grenze der Auslegung der jeweils zu interpretierenden Norm sein muss.
Der Orginalismus setzt da noch ein i-Tüpfelchen drauf und sagt, der Wortlaut müsse wiederum so verstanden werden, wie er zum Zeitpunkt des Erlasses der Norm verstanden wurde.31 Auch dieser Auffassung stimme ich unter demokratietheoretischen Erwägungen zu: Die Bewertung von gesellschaftlichen, technischen etc. Veränderungen und Möglichkeiten sowie die Reaktion darauf, ist nicht Rechtsanwendung (also nicht Sache der Gerichte), sondern Politik (also Sache der möglichst direkt-demokratisch und wenig expertokratisch legitimierten Instanzen).
Allerdings sehe ich zwei Probleme:-
Zum einen gerade unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit: Wenn es sich um einen sehr alten, heute nicht mehr eingängigen Sprachgebrauch handelt, kann es für die BürgerInnen gerade überraschend sein, wenn auf das historische Begriffsverständnis abgestellt wird. Das heisst: Die Berechenbarkeit der Staatsgewalt ist futsch.
-
Zum anderen: Wenn wir eine Norm wie Artikel 5 Absatz 1 Satz 2 Grundgesetz („Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet.“) nehmen, dann hatte sich der Parlamentarische Rat unter „Presse“, „Rundfunk“ und „Film“ definitiv nicht das Internet vorgestellt – aber heisst das deshalb, dass die Freiheit der Berichterstattung im Internet nicht grundgesetzlich geschützt ist – oder dürfen wir sagen, dass das Internet (da die Datenflüsse genauso unkörperlich sind, wie Radiowellen) „Rundfunk“ ist oder dass jedenfalls ein Teil des Internets – wenn auch nicht aus der Druckerpresse kommende – ‚elektronische Presse' ist?32
Achim: Und was ist Post-Originalismus?
dgs: Mir war der Begriff bisher auch nicht untergekommen. Deshalb kann ich dazu nicht mehr sagen als in dem Artikel steht: Der Post-Originalismus habe sich als Antwort darauf herausgebildet, dass sich Originalismus und Textualismus „have proven impotent in opposing the liberal concept“ / „sich als unfähig erwiesen hat, der liberale Idee entgegenzuwirken“. Das würde ich wie folgt paraphrasieren: Der Originalismus war in erster Linie ein methodologisches Konzept, das – unabhängig von den konkreten Ergebnissen und politischen Implikationen – für wissenschaftstheoretisch richtig gehalten werden kann (siehe das Kagan-Zitat in FN 31 und meine eigene Zuneigung) und der Post-Originalismus ist in erster Linie ein anti-liberales politisches Programm, das anscheinend noch weit hinter die Zeit der Erarbeitung und Verabschiedung der US-Verfassung (und deren späteren Änderungen) in die Zeit des Römischen Kaiserreichs zurückgreift – der NYT-Artikel zitiert einen Harvard-Jura-Prof. (Adrian Vermeule) mit den Worten: Die US-Verfassung sei „to a large degree what the President and the agencies say it is,“ / „im grosse Masse das, von dem Präsident und die [im hiesigen Kontext vielleicht besser: seine] Behörden sagen, dass es die Verfassung sei“, und die Macht des/der Präsidenten/in sei „roughly comparable to the aggregate of powers held by Augustus and his successors“ / „ungefähr vergleichbar mit der Gesamtheit der Befugnisse von Augustus und seinen Nachfolgern“.
Achim: In dem NYT-Artikel heisst es ausserdem: „Mit der Entscheidung Trump v. United States aus dem Jahr 2024 stellte der Oberste Gerichtshof fest, dass die Gerichte keinen Präsidenten für die Erfüllung seiner verfassungsmässigen Pflichten strafrechtlich verantwortlich machen können.“33 Ist damit nicht eigentlich schon die Rechtsbindung des Amtes des Präsidenten faktisch aufgehoben worden?
dgs: Nein, das Strafrecht ist nicht das einzige Recht und die Strafgerichtsbarkeit ist nicht die einzige Gerichtsbarkeit. Eine verfassungsrechtliche und – nach hiesigem Sprachgebrauch: verwaltungsrechtliche – nach US-Sprachgebrauch zivilrechtliche Exekutive-Kontrolle findet ja weiterhin statt. Das sehen wir ja gerade.
Achim: Eine weitere These aus dem NYT-Artikel lautet: „früheren Fälle präsidialer Widerspenstigkeit [gegenüber den Gerichten] – nur zwei, verteilt über 248 Jahre – waren gering. Herr [Vize-Präsident] Vance deutet etwas ganz anderes an:weitreichende Straffreiheit für kompetenz-überschreitendes (ultra34 vires35) Handeln der Exekutive. Diese Idee ist zunehmend Teil des republikanischen mainstream.“36 Ist der Trumpismus eine Art neuer Cäsarismus?
dgs: Wie so oft bei rechtspopulistischen Äusserungen ist nicht ganz klar, was Vance überhaupt gemeint hat. Wörtlich geschrieben hat er, wie vorhin schon zitiert: „judges aren't allowed to control the executive's legitimate power / „RichterInnen ist nicht erlaubt, die legitime Macht der Exekutive zu kontrollieren“.
Es kommt also alles auf den Unterschied zwischen „legal“ und „legitim“ an – falls Trump und Konsorten einen Carl Schmitt-Leskreise haben und Schmitts Schrift Legalität und Legitimität gelesen haben, kann davon ausgegangen werden, dass Vance „legitim“ im Gegensatz zu (und nicht als laxes Synonym von) „legal“ gemeint hat.
Achim: Was ist denn bei Carl Schmitt mit „legal“ und „legitim“ gemeint?
dgs: Ungefähr das Folgende:
legitim – legal
‚materiell' (substantiell) – formell
in der Sache (nach Ansicht der sprechenden Person) richtig – objektiv gesetzmässig (wenn auch vielleicht politisch falsch oder störend).37
Ist Trump ein Schmittianer?
Diese Entgegensetzungen sind bei Schmitt aber nichts, um Revolutionen ‚von unten' zu rechtfertigen, sondern um den staatlichen Gesetzesbruch ‚von oben' zu rechtfertigen – noch mal die Schmitt-Zitate aus dem ersten Teil: „Der Führer schützt das Recht“; nicht der Satz nullum poena sine lege, sondern der Satz nullum crimen sine poena solle gelten. Und noch ein Schmitt-Zitat:
„Der Führer der Deutschen Rechtsfront und des BNSDJ [Bund Nationalsozialistischer Deutscher Juristen; ab 1936: Nationalsozialistischer Rechtswahrerbund], Reichsjustizkommissar Minister Dr. Frank, hat gesagt, wir seien Diener des Rechts und Diener des Staates. Wir sind in der Tat beides. In der Einheit und Doppelheit von Recht und Staat ist die Frage enthalten, die das Doppelwort ‚Rechtsstaat' uns allen stellt. Wir sind im Rechtsleben verwurzelt; das ist Recht ist unser Lebenselement. Wir sind zugleich dem Staat verpflichtet.“
(Carl Schmitt, Nationalsozialismus und Rechtsstaat, in: Juristische Wochenschrift 1934, 713 - 718 [713])
Die Bindung des Staates zumindest an seine eigenen Gesetze; gar die Determination des Staates mittels in demokratischen Verfahren beschlossenen Gesetzen durch die Gesellschaft kommen nicht vor.
Trump hat am 15. Febuar – nach der vagen Äusserung von Vance vom 9. Februar – in diese Richtung noch eins draufgesetzt: „He who saves his country can not violate any law.“ (https://truthsocial.com/@realDonaldTrump/posts/114009179225169296) – was allerdings kein Schmitt-, sondern anscheinend ein – von Trump aber nicht als solches gekennzeichnetes – Napoleon-Zitat ist38. Insofern wäre Cäsarismus, was ja als Synonym zu Bonapartismus verwendet wird, schon passend.
Zutreffend ist allerdings, dass es in der Tat Regierungsentscheidungen gibt, die nicht der gerichtlichen Kontrolle unterliegen: Zum Beispiele, welche Leute der/die BundeskanzlerIn dem/der Bundespräsidenten/in als MinisterInnen vorschlägt / welche Leute der/die US-PräsidentIn dem Senat als secretaries und RichterInnen vorschlägt, unterliegt keiner gerichtlichen Kontrolle. Das können KanzlerIn / PräsidentIn nach politischem Belieben entscheiden – und die Kontrolle wird politisch vom Bundestag (der dem/der KanzlerIn das Misstrauen aussprechen kann) bzw. vom US-Senat (von dem die Berufung der/die von dem/der PräsidentIn vorgeschlagenen Personen abhängt) ausgeübt. Eine andere Frage ist, ob es verfassungsgemäss wäre, wenn einfach-gesetzliche Kriterien dafür, welche Personen vorgeschlagen werden dürfen, festgelegt würden. Falls ein solches Gesetz verfassungsgemäss wäre, hätte eine gerichtliche Kontrolle genau im Hinblick auf diese Kriterien (aber nicht darüber hinaus) zu erfolgen.
Achim: Mit dem Trump-Satz, „He who saves his country can not violate any law“, befasste sich auch Leon Holly in der taz vom 18.02.:
„Der starke Mann, der eine vermeintlich kränkelnde Nation wieder zu alter Glorie bringen will. Der sich nicht nur gegen Feinde im Ausland, sondern auch gegen solche im Inneren wehrt. Und dem unabhängige Gerichte oder parlamentarische Kontrolle dabei lästig sind. So machte auch Schmitt seinerzeit den Parlamentarismus des Rechtsstaats Weimarer Republik verächtlich. […]. wissen wir, dass die neurechten Vordenker in den USA ihren Schmitt sehr wohl gelesen haben.
So etwa der Philosoph Curtis Yarvin. In einem Interview zieht Yarvin Schmitt heran, um zu einer Kritik des Rechtsstaats auszuholen: ‚Wenn man sich mit der Frage der Rechtsstaatlichkeit beschäftigt, stellt man fest, dass es sich immer um die Herrschaft eines Menschen handelt, der behauptet, das Recht auslegen zu können'. Mit anderen Worten: Es braucht immer einen Richter, der Recht spricht.“
(https://taz.de/Donald-Trump-gegen-den-Rechtsstaat/!6066964/)
Weisst du Genaueres darüber?
dgs: Nein, der Name „Yarvin“ war mir noch nicht untergekommen. Aber wenn wir dem Link beim Namen folgen, dann gelangen wir zu einem weiteren taz-Artikel:
Jung, urban, antiwoke und rechts
https://taz.de/Hippe-Neoreaktionaere-in-New-York-City/!5939891/ (25.06.2023)
von Sebastian Moll. Dort wiederum heisst es: „Ein weiterer Protegé von [Tech-Milliardär Peter] Thiel ist der Blogger und Buchautor Curtis Yarvin, den das linke Magazin Jacobin als den ‚Hausphilosophen' der Bewegung bezeichnet, die Thiel gerade aufzubauen versucht.“
Der gemeinte Artikel im Jacobin-Magazin scheint dieser zu sein
Right-Wing Blogger Curtis Yarvin Is Wrong. Democracy Is Good.
https://jacobin.com/2022/12/curtis-yarvin-right-wing-blogger-democracy-monarchism (21.12.2022)
von Ben Burgis. Dort ist Schmitt aber nicht erwähnt.
Wenn wir jetzt noch dem taz-Link beim Wort „Interview“ folgen, dann sehen wir, dass Yarvin nicht von „Rechtsstaatlichkeit“ und auch nicht von so etwas Kuriosem wie „*right-state-ly-ness“ sprach, sondern von rule of law: „When you examine the issue of the rule of law, you see that it's always ultimately the rule of someone who claims to know how to interpret the law.“
Worauf er damit hinaus will, sagt er nicht so ganz deutlich, aber mir scheint, er will uns sagen: Die Herrschaft der Gesetze sei eine Illusion, die sich letztlich als Herrschaft der GesetzesinterpretInnen erweise:
„There's this very English and American idea of ‚the rule of law, not men.' […]. In a place like Iran, they would talk about ‚the rule of God, not men,' or rather ‚the rule of Allah, not men.' But it's always a person deciding what God thinks. When you examine the issue of the rule of law, you see that it's always ultimately the rule of someone who claims to know how to interpret the law. […]. Carlyle observes: 'We automate everything, we power everything – what we're really trying to have is a government that runs on steam.' He sees that we are attempting to get a government that runs itself, an automated government running ‚on steam.' But there will always be humans in the equation.“
(https://rage-culture.com/en/conversation-with-curtis-yarvin/)
„Es gibt diese sehr englische und amerikanische Idee von ‚the rule of law, not men'. [...]. In einem Land wie dem Iran würde man von der ‚Herrschaft Gottes, nicht der Menschen' sprechen, oder eher von der ‚Herrschaft Allahs, nicht der Menschen'. Aber es ist immer ein Mensch, der entscheidet, was Gott denkt. Wenn das Problem der rule of law untersucht wird, ist zu erkennen, dass es letztlich immer die Herrschaft einer Person (someone) ist, die beansprucht, zu wissen, wie das Gesetz auszulegen ist. [...]. Carlyle39 stellt fest: ‚Wir automatisieren alles, wir treiben alles an – was wir wirklich versuchen zu bekommen, ist eine Regierung, die mit Dampfkraft läuft.' Er sieht, dass wir versuchen, eine Regierung zu bekommen, die von selbst läuft [runs itself], eine automatisierte Regierung, die ‚mit Dampfkraft' läuft. Aber es wird immer Menschen in der Gleichung geben [freier: Aber es werden immer Menschen dazwischen kommen.].“
In der Tat sagte Schmitt etwas sehr ähnliches:
„Jede konkrete juristische Entscheidung enthält ein Moment inhaltlicher Indifferenz, weil der juristische Schluss nicht bis zum letzten Rest aus seinen Prämissen ableitbar ist, […].“
(Carl Schmitt, Politische Theologie, Berlin, 19221, 19905, 41).
„Die Entscheidung ist, normativ betrachtet, aus dem Nichts geboren.“
(ebd., 42).
Das ist aber – jedenfalls bei Schmitt; vermutlich auch bei Yarvin –-
keine Kritik des interpretatorischen Voluntarismus bzw. des Antipositivismus, sondern dessen Apologie als unvermeidlich oder sogar wünschenswert
und - keine Kritik des deutschen Rechtsstaats mit seiner Skepsis gegenüber den Gesetzen, sondern eine Kritik der angelsächsischen rule of law und des Positivismus.
Meine dritte Position – als Alternative (unterhalb einer sozialistischen Revolution) sowohl zu der integrationistischen ‚Bonn/Berliner' justizstaatlichen als auch der ‚Spät-Weimarer' exekutivstaatlichen Variante des Antipositivismus sowie der Parlaments- und Gesetzesskepsis – ist nun die Kritik der voluntaristischer Interpretationen und die Kritik der Verlagerung der Souveränität von der Bevölkerung zu den Staatsapparaten (sei es die Exekutive oder sei es die Justiz) und ein gleichermassen materialistisches (= positivistisches) [nicht: ‚materielles' = substantialistisches = antipositivistisches] wie demokratisches Ethos einer Justiz, die akzeptiert, dass sie nicht souverän ist; dass ihre Entscheidungen nicht „aus dem Nichts geboren“ sein dürfen, sondern aus den Gesetzen zu begründen sind und die sich auch gegen eine Exekutive stellt, die beansprucht souverän zu sein.
Achim: Ist das nicht – auch gemessen an den Auffassungen einiger Autoren, auf die du dich beziehst41 – eine anachronistische, frühbürgerliche Position, die im Spätkapitalismus nicht mehr funktioniert und nicht mehr funktionieren kann?
dgs: Ich würde ohne weiteres zustimmen, dass das von mir für das Kleinste aller bürgerlichen Übel gehaltene Modell (demokratische Gesetzlichkeit mit posivistischer Justiz) nicht immer und nicht überall funktioniert und nicht immer und überall funktionieren kann. Aber ich würde – damit sind wir wieder ziemlich am Anfang unseres Gesprächs – daraus trotzdem keine geschichtsdeterministische Stadientheorie machen, sondern auf der „konkrete[n] Analyse […] konkrete[r] Situation[en]“ (LW 31, 153 - 155 [154]) beharren wollen.
Aber in der Tat hat Carl Schmitt Recht – und insoweit spricht er nicht als Jurist, sondern als historischer Materialist (ohne sich als solcher zu verstehen) –, dass die gesellschaftlichen Widersprüche sich manchmal so weit zu spitzen können, dass der „Ernstfall“42 eintritt – dass die „im Bereich des Realen liegende Eventualität“ eines Kampfes auf Leben und Tod43 Wirklichkeit wird.
Zum Weiterlesen:
Adrian Vermeule, Confusion About the Separation Of Powers. No, There is No „Constitutional Crisis“
https://thenewdigest.substack.com/p/confusion-about-the-separation-of (vom 10.02.2025)
Steve Vladeck, What Vice President Vance Did – and Didn't – Say About Judicial Power. A weekend tweet provides a useful opportunity for articulating some nuance in understanding what federal courts can – and can't – do when reviewing the executive branch
https://www.stevevladeck.com/p/123-what-vice-president-vance-didand (vom 11.02.2025)
Mattathias Schwartz, The Radical Legal Theories That Could Fuel a Constitutional Crisis. An increasingly influential group of conservative scholars has some drastic ideas about the president's power
https://www.nytimes.com/2025/02/15/us/constitution-crisis-trump-judges-legal.html (vom 15.02.2025)
Carl Schmitt, Legalität und Legitimität, Duncker & Humblot: Berlin, 20128.
Otto Kirchheimer, Bemerkungen zu Carl Schmitts „Legalität und Legitimität“, in: ders., Gesammelte Schriften. Bd. 1: Recht und Politik in der Weimarer Republik hrsg. von Hubertus Buchstein, Nomos: Baden-Baden, 2017, 376 - 395 = Die Gesellschaft. Internationale Revue für Sozialismus und Politik, Jg. 9, Heft 7, 1932, 8 - 20.