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Die USA unter Trump und Musk (Teil 4): Rechtspopulismus in den USA und der BRD

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Die USA unter Trump und Musk (Teil 4) Rechtspopulismus in den USA und der BRD

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Politik

Teil I erschien am 13.02., Teil II am 17.02. und Teil III. am 25.92.

Nettoeinkommen nach Migrationshintergrund.
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Nettoeinkommen nach Migrationshintergrund. Foto: Keine

Datum 3. März 2025
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KorrekturKorrektur


Achim: Ich habe auch noch etwas gelesen: Das tagesschau-Interview von Dienstag, den 11.02.2025 mit dem Historiker Manfred Berg. Er verwendet eine ähnliche Bezeichnung, wie die, über die wir bereits anhand des Brockschmidt-Artikels in Teil II sprachen („administrativer Staatsstreich“). Berg wörtlich: „Es sieht so aus, als handele es sich um eine Art administrativer Putsch. Ob eine neue Regierung so etwas überhaupt darf – ob das nun die Entlassung eines Grossteils von Beamten ist oder die Schliessung von ganzen Behörden –, ist völlig umstritten und wird vor Gericht landen. Aber die Frage ist, ob Trumps Administration überhaupt bereit ist, Gerichtsurteile zu akzeptieren.“ Überzeugt dich das?

dgs: Nö – einerseits zu sagen, dass gar nicht klar, sondern (bloss) umstritten sei, ob die Regierung das, was sie macht, machen darf; aber andererseits schon mal die These vom „administrativer Putsch“ rauszuhauen, scheint mir mehr vom Wunsch in die tagesschau zu kommen, als von dem Anliegen, auf Untersuchungen (Forschung) beruhende Erkenntnisse bekannt zu machen, getragen zu sein. Dass Regierungen Umstrittenes machen und dass der Streit vor Gericht kommt, ist ja nun nichts Ungewöhnliches – unter anderem dafür existieren die Gerichte ja.

Gliederung:
Trump – ein Autokrat von eigenen Gnaden?
Zerschlagung des Zwangs-Apparats
deutsche Grundgesetz-Unfehlbarkeits-Klauseln
Hat die bürgerliche Mitte, dem Rechtspopulismus, wenn nicht gar der Faschisierung, Vorschub geleistet?
Motive von AfD-WählerInnen
Die Landtagswahlen im vergangenen Herbst
+ Brandenburg
+ Thüringen und Sachsen
Hessische Landtagswahl im Oktober 2023
Bundestagswahl am Sonntag (23.12.2025)
Sind „immer mehr Leute i[m] Abseits“?
Die Linke sollte sich an die eigene Nase fassen statt die Gemeinheit des Feindes zu beklagen
Post-Originalismus, Legalität und Legitimität
Ist Trump ein Schmittianer?

Achim: Berg sagt des weiteren: „Die Trump-Administration […] vertraut […] institutionell darauf, dass das System überwältigt wird und paralysiert ist. Die Gerichte entscheiden nicht so schnell, wie Trump Dekrete unterschreibt und wie Musk seine Leute in die Ministerien schickt. Am Ende kann es einfach dazu führen, dass die Administration vollendete Tatsachen schafft. Das gesamte normative System von checks and balances steht damit zur Disposition.“ Steckt in Trumps Vorgehen nicht eine alte linke „Wahrheit“, dass man den Staat nicht einfach für seine Zwecke ummodeln kann, sondern dass er zerschlagen werden muss? Ich glaube zwar nicht, dass Trump Lenin gelesen hat, aber er kann ja trotzdem lernen…

Staatliche Kontinuität versus Zerschlagung des Zwangs-Apparats

dgs: Die These von Marx1 und Lenin2 war ja auf die ArbeiterInnenklasse – als den Teil der Bevölkerung, von dem sie annahmen, dass er ein Interesse habe oder zumindest entwickeln könne, die kapitalistische Produktionsweise zu überwinden – gemünzt. Was inner-kapitalistische politische Richtungswechsel (selbst schon, was den Übergang von Niedergang der feudalen zu Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise) anbelangt, gingen sie wohl von einer grösseren Flexibilität der Verwendbarkeit aus3 – und die (abgesehen von den antisemitischen Säuberungen ab 1933; viel politisch unzuverlässige Leute gab es eh nicht zu entlassen4) grosse personelle Kontinuität des deutschen Staatsapparates in den vierzig oder fünfzig Jahren (sagen wir von 1915/18 bis 1955/58 oder 1965/68) vom Ende des Kaiserreichs über die Weimarer Republik (mit weitgehend parlamentarischer und präsidialdiktatorischer Phase) sowie NS bis zur frühen Bundesrepublik scheint dies zu bestätigen.

Achim: Wenn du eine Kontinuität vom Kaiser bis heute erkennst, dann kann doch der Faschismus nicht wirklich ein historischer Bruch gewesen sein. Gibt es Brüche also wirklich nur mit einer Änderung der Klassenstruktur und ist die Regierungsform innerhalb bürgerlicher Verhältnisse für Linksradikale oder Kommunisten dann nicht egal?

dgs: Ich würde dreierlei antworten wollen:
Erstens: Es war nicht nur Kontinuität; aber die starke personelle Kontinuität des deutschen Staatsapparates war eine Kontinuität im Wandel. (Vielleicht können wir weitergehend die Hypothese aufstellen: Die Kontinuität des Öffentlichen Dienstes ermöglicht und begrenzt reibungslosen Wandel.)
Zweitens: Der Übergang zum NS war in der Tat kein Bruch, sondern zunächst einmal eine Fortschreibung von Dingen, die schon in der Präsidialdiktatur-Phase der Weimarer Republik Staatspraxis (Übergang von parlamentarischer zu reichspräsidialer Gesetzgebung; Ernennung von Kanzlern ohne parlamentarisches Vertrauen bei gleichzeitiger Reichstags-Auflösung; …) bzw. staatlich geduldete Praxis der Nazis waren. Die für (alle gleiche [siehe noch einmal FN 16 in Teil I zum allgemeinen Gleichheitssatz und die Literaturhinweise dazu in Teil II]) Geltung der Gesetze war schon vor Hitlers Ernennung, der Reichstagsbrandverordnung und dem Ermächtigungsgesetz in Frage gestellt.

Drittens: Die Klassenverhältnisse sind nicht alles; und die Ökonomie ist auch nicht alles, was existiert. Die Ausschaltung des Pluralismus bürgerlicher sowie monarchistischer bzw. monarchie-nostalgischer Parteien war ein Bruch mit Verfassung und Staatspraxis sowohl der Weimarer Republik als auch des Kaiserreichs – und der eliminatorische Antisemitismus ohnehin.

Achim: Dann zurück zu dem tagesschau-Interview mit Berg: Eine weitere These von ihm lautet: „Als Folge einer jahrhundertelangen Entwicklung hat das [US-Präsidenten-]Amt inzwischen eine Machtfülle, die nie vorgesehen war. Sie läuft darauf hinaus, dass ein skrupelloser Präsident – und den haben wir gerade im Amt – eine Art Diktaturgewalt für sich reklamiert: Regieren durch Exekutiverlass. Aber diese Exekutiverlasse müssen selbstverständlich eine verfassungsrechtliche und eine gesetzliche Grundlage haben. Sie können Gesetze und vor allem die Verfassung nicht ausser Kraft setzen. Aber das tut Trump. Was Gerichte dagegen machen, wissen wir jetzt noch nicht.“ Sind die US also bereits eine Diktatur?
dgs: Wenn, dann jedenfalls nicht wegen der „Exekutiverlasse“ (Berg) als solches, Rechtsverordnungen der Regierungen und Ministerien gibt es ja hier und in anderen Ländern auch – und auch wenn der präsidiale Spielraum in den USA vielleicht etwas grösser ist als hier (wegen Artikel 80 Absatz 1 Grundgesetz: „Durch Gesetz können die Bundesregierung, ein Bundesminister oder die Landesregierungen ermächtigt werden, Rechtsverordnungen zu erlassen. Dabei müssen Inhalt, Zweck und Ausmass der erteilten Ermächtigung im Gesetze bestimmt werden.“). Und Berg selbst sagt, dass die Executives Orders gesetzes- und insbesondere verfassungsgemäss sein müssen, um gültig zu sein. Ob sie das im grossen und ganzen sind oder systematisch nicht sind, ist die Frage, die jedenfalls ich im Moment nicht in der Lage bin, zu beantworten – und ich habe nicht den Eindruck, dass Berg sie klarer und fundierter beantworten kann.
Ausserdem bin ich mir nicht sicher, ob das mit „eine Machtfülle, die nie vorgesehen war“, stimmt. Jedenfalls hat der/die US-PräsidentIn, schon nach dem, was in der Verfassung drinsteht, eine sehr starke Stellung:
  • Er bedarf keines parlamentarischen Vertrauens, was auch logisch ist, da er selbst (indirekt) vom Volk gewählt wird. Es gibt aber auch keine plebiszitäre Abwahlmöglichkeit, sondern nur die Möglichkeit des impeachment-Verfahrens im Kongress, das aber für eine Amtsenthebung einer 2/3-Mehrheit im Senat bedarf.
  • Das Vorschlagsrecht für die BundesrichterInnen liegt bei dem/der Präsidenten/in. Zwar ist eine Billigung der Vorschläge durch den Senat erforderlich, die aber bisher in der Regel erfolgte, sofern die Partei des Präsidenten im Senat nicht deutlich in der Minderheit ist.
  • Er hat ein Vetorecht gegen Gesetze des Kongresses.
  • Und anders als in der V. Französischen Republik und der Weimarer Republik gibt es keineN Ministerpräsidenten/in unter bzw. neben ihm.
Hinsichtlich der präsidialen Immunität sehe dagegen auch ich eine Ausweitung bzw. überhaupt erst Erfindung über den Verfassungstext hinaus – aber nicht erst seit der Entscheidung zu Trump im vergangenen Jahr, sondern schon in Bezug auf die vorherige Supreme Court-Rechtsprechung zur teilweisen zivilprozessualen Immunität von US-Präsident/inn/en.

Angelsächsische Liberalität contra deutsche Grundgesetz-Unfehlbarkeits-Klauseln

Achim: Trotzdem hast du ja aber eine sehr wohlwollende Beurteilung der angelsächsischen Systeme – also auch des us-amerikanischen… Warum?

dgs: Weil der Kongress nicht machtlos ist; ob er die Macht nutzt, hängt freilich davon ab, ob in zumindest in einer Kammer eine andere Partei (die andere Partei) als die des Präsidenten die Mehrheit hat; weil die RichterInnen ein positivistischeres, weniger aktivistisches Selbstverständnis haben als hier5 (selbst die jetzige ultra-konservative Supreme Court-Mehrheit erlaubt den Bundesstaaten z.B. ‚nur' die Kriminalisierung von Abtreibungen, während das Bundesverfassungsgericht der Ansicht ist, das Grundgesetz schreibe vor, Abtreibungen als strafrechtswidrig zu behandeln6). Weil die Meinungsäusserungsfreiheit deutlich liberaler ausgelegt wird als hier, und es keine Entsprechung zu den Verfassungsschutz-Klauseln (Parteien- und Vereinigungsverbote sowie Grundrechtsverwirkung wegen ideologischer Unbotmässigkeit) im Grundgesetz gibt. (Auch in der McCarthy-Ära war die US-KP nicht verboten, auch wenn sie auch strafrechtlich unter starkem Druck geriet.) Weil die US-Verfassung zwar schwierig zu ändern ist, aber – anders als das Grundgesetz – keine sog. Ewigkeitskausel enthält. Weil das US-System durch alldas prozeduraler und (zukunfts)offener ist als das deutsche, substantialistische Wertordnungs-System. Weil bei der Boston Tea Party im Sinne der Parole „No taxation without representation“ gehandelt wurde; weil im US-amerikanischen BürgerInnenkrieg gegen die Südstaaten (mit Sklaverei) gehandelt wurde – während hier das emanzipatorische Handeln sowohl 1848 als auch 1918 sehr zaghaft ausfiel und 1933 ff. nahezu ganz ausblieb.


Hat die bürgerliche Mitte, dem Rechtspopulismus, wenn nicht gar der Faschisierung, Vorschub geleistet?

Achim: Ein letztes Zitat aus dem tagesschau-Interview mit Berg: „Wir sehen den Versuch einer Gruppe sehr reicher, mächtiger Männer, den Staat so umzugestalten, dass er ihren Interessen entspricht. Und das nennt man gemeinhin Oligarchie. Die Ironie dieser Entwicklung ist, dass der amerikanische Konservatismus in den vergangenen Jahrzehnten systematisch das Vertrauen in die Regierung untergraben hat. Big Government ist dämonisiert worden.“ Glaubst du, der Konservatismus und auch der Neoliberalismus der gemeinhin so genannten bürgerlichen Mitte, dem Rechtspopulismus, wenn nicht gar der Faschisierung, Vorschub geleistet hat? Und was würde das für politische Handlungsoptionen bedeuten? Und auch in Bezug auf Wahlen (in den USA als auch in Deutschland)?

dgs: Ich verstehe gar nicht so genau, was nach Berg die Ironie ist. Der US-Konservatismus ist halt nicht so weitgehend bruchlos am „starken Staat“ interessiert wie – trotz Neoliberalismus – der hiesige Konservatismus, sondern die US-Rechte ist ein Gemenge von Konservativen im deutschen / europäischen Sinne und sog. „Libertären“ (was im US-Fall nichts mit Anarchismus zu tun hat) (siehe den in FN 4 genannten Text von Ptak/Wolf).

Und zu Deiner Frage, ob ich glaube, dass die „so genannte bürgerliche Mitte, dem Rechtspopulismus, wenn nicht gar der Faschisierung, Vorschub geleistet hat“: In welchem Sinne könnte das Deines Erachtens der Fall sein?
Achim: Nun ja, viele Linke in Deutschland argumentieren, erst die Politik der SPD und der Grünen hätte der AfD Auftrieb gegeben. Und dass die CDU quasi von der AfD abschreibt in der Migrationsdeabtte, sei ein Verfall der Brandmauer7. Ich weiss zwar nicht, wie das in den USA ist, aber das amerikanische Zweiparteiensystem wurde von den Linken immer als politische Zwillinge angesehen, die sich bestenfalls in Nuancen unterscheiden, wenn ich das richtig sehe.

dgs: Ja, in Bezug auf die USA würde ich zustimmen, dass sich sehr lange Republikanische und Demokratische Partei noch näher waren als christ- und sozialdemokratische Parteien in Europa. Aber das ist ja nun spätestens seit dem Versuch von Trump, das Wahlergebnis von 2020 zu kippen, vorbei – seitdem werfen sich beide Seiten ständig wechselseitig Verfassungsbruch sowie „MAGA [Make America Great Again]-Extremismus“ (Demokratische Partei über Trump) bzw. „Linksradikalismus und Marxismus/Kommunismus“ (Trump über [Teile der] Demokratischen Partei) vor.

Wenn das nicht nur Kampf um politisch-mediale Aufmerksamkeit ist, sondern halbwegs ernstgemeint ist, müssten sich beide Seiten auf einen BürgerInnenkrieg vorbereiten – was die rechten Milizen vermutlich auch machen.

Nun zu hier: „viele Linke in Deutschland argumentieren, erst die Politik der SPD und der Grünen hätte der AfD Auftrieb gegeben“. Welche Leute sagen, das denn? Und wie und wieso sollen Grüne und SPD das gemacht haben? Absichtlich – mit welcher Absicht? Oder als nicht-intendierter Effekt durch ‚zuviel' Klimaschutz und sog. ‚Identitätspolitik' – weil sie dadurch das ‚deutsche Proletariat' (haha) in die Arme der AfD getrieben hätten? (Und die Grünen waren – vor der jetzigen verkürzten Wahlperiode – die ganze Merkel-Ära über eh nicht an der Bundesregierung beteiligt.)

Achim: Na ja, RIO/RSO, SpAD und SGP vertreten die von mir zitierte These auf alle Fälle. MLPD und DKP verfolge ich nicht so, wird aber vermutlich ähnlich sein. Absicht war das sicher nicht, liegt aber vielleicht in der Logik des Neoliberalismus, der immer mehr Leute ins Abseits drängt. Klimaschutz und Identitätspolitik mögen auch eine Rolle spielen, aber entscheidend scheint mir der Verlust sozialer Sicherheit zu sein (was ja auch ein Faktor beim BSW ist).

Und wieso lachst du beim beim Begriff „deutsches Proletariat“? Gibt's das deines Erachtens nicht mehr?

dgs: Geben tut es die Klasse der Lohnabhängigen schon – nur ist ja keine neue Entwicklung, dass der hierzulande, die Sorge um den Kauf der Bahnsteigkarte8 wichtiger ist, als die Vorbereitung von Fabrik- und Bürobesetzungen.

Motive von AfD-WählerInnen

Und der (bio-)deutsche Teil dieser Klasse ist deren ‚aristokratischer' Teil, wie Lenin gesagt hätte9. Falls sich dieser Teil wegen des Abbaus des Sozialstaates oder gar wegen Ausbeutung und Klassenherrschaft grämt, könnte er sich vertrauensvoll an eine der von Dir genannten Gruppen oder die FAU oder oder wenden, da ist ja nun für jeden Geschmack, was dabei…

Und was die AfD-WählerInnen anbelangt, so sagen die ja sehr klar, warum sie diese Partei wählen: infratest-dimap fragt die WählerInnen an den Wahltagen für die ARD jeweils,
  • sowohl welche Parteien sie für bestimmte Themen für ‚kompetent' halten
  • als auch welche Themen für das Votum der einzelnen WählerInnen wichtig war.
Die Landtagswahlen im vergangenen Herbst

Brandenburg



In Brandenburg bescheinigten
  • jeweils 20 % oder etwas mehr der AfD-WählerInnen der von ihnen gewählten Partei für „Kriminalitätsbekämpfung“, „Asyl- und Flüchtlingspolitik“ und „ostdeutschen Interessen“
  • aber nur 13 % für „soziale Gerechtigkeit“
kompetent zu sein.10
Auf die direkte Frage, „Welches Thema spielt für Ihre Wahlentscheidung die grösste Rolle?“, antworten
  • 41 % „Zuwanderung“ und 23 % „Kriminalität, innere Sicherheit“,
  • aber nur 5 % (auf Platz 6) „soziale Sicherheit“.11

Thüringen und Sachsen

In Thüringen waren alle Werte hinsichtlich der „Kompetenz“ etwas höher, aber der Abstand (13 Prozentpunkte) zwischen „Kriminalitätsbekämpfung“ (31 %) und „soziale Gerechtigkeit“ (18 %) noch grösser als in Brandenburg (dort: 11 Prozentpunkte).12
Direkte Frage: „Welches Thema spielt für Ihre Wahlentscheidung die grösste Rolle?“:
  • „Zuwanderung“ etwas weniger als in Brandenburg (35 %); dafür „Kriminalität, innere Sicherheit“ deutlich mehr (36 %);
  • „soziale Sicherheit“ (8 %) etwas mehr als in Brandenburg.13
Gleiche Scheisse auch in Sachsen.14

Hessische Landtagswahl im Oktober 2023

Nehmen wir – zur Kontrolle – noch ein lange sozialdemokratisch regiertes West-Bundesland: Hessen (Okt. 2023) – hinsichtlich der Kompetenz-Zuschreibung neun Prozentpunkte Abstand zwischen „Asyl- und Flüchtlingspolitik“ und „sozialer Gerechtigkeit“.15 Die zweite Frage wurde anscheinend nicht gestellt.

Bundestagswahl am Sonntag (23.02.2025)

Schliesslich die Bundestagswahl von Sonntag: Hinsichtlich der „Kompetenz“-Zuschreibung an die AfD 12 Prozentpunkte Abstand zwischen „Kriminalitätsbekämpfung“ und „soziale[r] Gerechtigkeit“16; in Bezug auf die Wichtigkeit für die Wahlentscheidung für die AfD schafft es die „soziale Sicherheit“ nicht einmal unter die ersten fünf Themen (Platz 5: gestiegene Preise – 6 %).

Sind „immer mehr Leute i[m] Abseits“?

Selbst „Neoliberalismus, der immer mehr Leute ins Abseits drängt“ stimmt allenfalls halb für die BRD: Die Reallöhne steigen seit über 10 Jahren wieder überwiegend (mit Pandemie- und Ukrainekriegs-bedingten Ausnahmen).17 Wahr ist aber, dass das Haushaltseinkommen der untersten 10 % eher eine Tendenz nach unten als noch oben hat – mehr oder minder stagniert; während das Haushaltseinkommen der obersten 10 % besonders stark steigt.18 Die untersten 10 % – das werden aber zu einem erheblichen Anteil alleinerziehende Mütter und (post-)migrantische Haushalte sein.

Gehen wir nicht vom Haushaltseinkommen, sondern vom individuellen Nettoeinkommen der Erwerbstätigen aus, so liegen folgende Zahlen vor:
  • Es gibt in der BRD circa 43 Mio. Erwerbstätige
  • Daran machen diejenigen mit einem Nettoeinkommen von weniger als 1.000 Euro 14,1 % aus.
  • Von diesen wiederum sind über 35 % Menschen mit sog. „Migrationshintergrund“19, wobei deren Anteil an den Erwerbstätigen mit einem Einkommen von weniger als 500 Euro noch etwas höher ist.
  • Oder anders dargestellt – von den Erwerbstätigen ohne Migrationshintergrund hat mehr als die Hälfte ein Nettoeinkommen von 2.000 Euro oder mehr; dagegen von den Erwerbstätigen mit Migrationshintergrund ein Nettoeinkommen von unter 2.000 Euro (siehe Graphik am Beginn des Artikels; Datenquelle: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Migration-Integration/Publikationen/Downloads-Migration/statistischer-bericht-migrationshintergrund-erst-2010220237005.html, Tabelle 12211-36 [Spalte B, D, R bis Z, Zeile 146 und 166 + eigene Berechnung der Prozentanteile])

    Das heisst: Die ArbeiterInnen, die AfD wählen, was (im Vergleich mit Angestellten, Selbständigen und RentnerInnen) durchaus viele sind20, werden nicht migrantische Niedriglohn-Beschäftigte sein – allein schon, weil viele von denen mangels Staatsangehörigkeit gar nicht wählen dürfen. Und es ist (heutzutage) nicht einmal sicher, sondern eher unwahrscheinlich, dass (Fach)ArbeiterInnen in der stofflichen Produktion schlechter bezahlt werden als Angestellte (in konsum-nahen Dienstleistungsbereichen).21

    Speziell zu letzterem und auch speziell zum Einkommen von alleinerziehenden Frauen im Vergleich zum Rest der Bevölkerung habe ich (noch) keine Zahlen gefunden – aber viererlei ist klar:
    • Es gibt in der BRD weniger als 600.000 alleinerziehende Männer, aber fast 2,4 Mio. alleinerziehende Frauen.22
    • Alleinerziehenden-Haushalt haben ein deutlich geringeres (Nettoäquivalenz)Einkommen sowohl als andere Haushalte mit Kindern als auch Haushalte ohne Kinder.23
    • Frauen haben – (auch) unabhängig vom Kriterium „alleinerziehend oder nicht“ – ein deutlich geringeres Einkommen als Männer.24
    • Aber es wählen deutlich mehr Männer als Frauen die AfD.25
    • Ergo: Es ist jedenfalls unwahrscheinlich, dass viel Leute deshalb die AfD wählen, weil sie am Hungertuch nagen.
    Achim: Wenn du den Rechtspopulismus nicht aus Frustration über den Abbau des Sozialstaates erklärst, was ist dann dein alternativer Erklärungsansatz?

    dgs: Eine Erklärung habe ich ja schon vorschlagen: Rassistische Leute wählen eine rassistische Partei. Das führt allerdings zur Frage: Wie ist es möglich, Leute davon abzubringen, rassistisch zu sein, bzw. was ist mit ihnen zu machen, wenn sie sich nicht davon abbringen lassen?

    Sicherlich lassen sie sich nicht durch mehr Sozialleistungen im allgemeinen oder speziell für sie vom Rassistischsein abbringen (denn „soziale Gerechtigkeit“ geben sie ja kaum als Wahlmotiv an und, soweit sie es machen, verstehen sie auch darunter vielleicht vor allem, dass die vermeintlich falschen Leute Sozialleistungen bekommen und nicht, dass es zu wenig Sozialleistungen gibt). (Dass es als anti-rechtspopulistisches Mittel vermutlich nicht tauglich ist, spricht selbstverständlich nicht gegen mehr Sozialleistungen.)

    Was – angesichts des starken Stadt-/Land-26 / Innenstadt-/Randbezirke27-Wahlgefälles – vielleicht eher helfen könnte, wären bessere öffentliche Verkehrsangebote zwischen Stadt und Land und kulturelle Infrastruktur auf dem Land (sofern diese dann nicht aus völkischer Traditionspflege besteht), da sich das rechtspopulistische WählerInnenpotential zu einem erheblichen Teil an überwiegend grossstädtischen Phänomen, Praktiken und Haltungen (hohe migrantische Bevölkerungsanteile; Fahrrad statt Auto fahren; queer und trans communities; …), die sie kaum unmittelbar, sondern bloss medial vermittelt mitbekommen, stören. Vielleicht würde also ein Abbau des Stadt-/Land-Gefalles die kulturkämpferische Borniertheit der rechtspopulistischen WählerInnen abbauen.

    Eine zweite Erklärung ist damit schon angedeutet: Rechtspopulistischen WählerInnen stören sich an der gegenüber früher (noch Anfang/Mitte der 90er Jahre) stärkeren öffentlichen Sichtbarkeit von früher stärker marginalisierten gesellschaftlichen Gruppen. Der Rechtspopulismus ist also unter anderem eine Abwehrhaltung derjenigen, die sich dadurch in ihren ‚aristokratischen' (vgl. noch mal FN 9) Ansprüchen verletzt fühlen.

    Drittens: Jene (vor allem kulturellen) Veränderungen seit Mitte der 90er Jahre sind weniger Erfolge kämpferische sozialer Bewegungen, sondern gingen mit der NGO-isierung der sog. Neue Sozialen Bewegungen der 1970er und 1980er Jahre sowie die Etablierung (und Neoliberalisierung) der Grünen einher. Ich würde nicht sagen, dass von den NGO oder den Grünen nichts oder nur Schlechtes bewirkt wurde. Aber es wurde – wie gesagt – kaum ‚von unten' durchgesetzt, sondern es lief vor allem über die Staatsapparate, ist entsprechend schlecht gesellschaftlich verankert und daher backlash-anfällig.

    Durch den Anpassungsprozess von sog. Neuen Sozialen Bewegungen und Grünen fiel ausserdem eine bestimmte Protestkultur, die in der Lage war, ein bestimmtes diffuses Unzufriedenheitspotential halbwegs sinnvoll zu absorbieren, weg. Für dieses diffuse Unzufriedenheitspotential sind (wegen dessen Diffusität / Ungefestigkeit) weder die verbliebenen revolutionär-marxistischen Gruppen noch die militante Linke attraktiv. Dieses diffuse Unzufriedenheitspotential und dessen kulturellen Ausdrucksformen waren durch die Proteste gegen die Infektionsschutzmassmassnahmen während der Pandemie28 und sind durch putin-phile ‚FriedensfreundInnen' rechts hegemonialisiert.

    Viertens denke ich, dass an der Selbsterklärung der AfD ist durchaus etwas dran ist: Die CDU war unter Merkel liberaler als unter Kohl und Adenauer. Dadurch wurde politischer Raum rechts von der CDU frei. Dies wirft drei Fragen auf: Ist die Erklärung auch für andere Ländern mit rechtspopulistischen Erfolgen tragfähig? Ist es unter dem Strich besser oder schlechter als früher (als die CDU weiter rechts als unter Merkel stand)? Und warum gelingt Merz' Strategie nicht, den Raum rechts von der Union für diese wieder zurückzuerobern? (Vielleicht allein schon deshalb, weil sich dieses Spektrum als allein parlamentsfähig erwiesen hat und deshalb keinen Grund sieht, sich wieder in den Unions-Pluralismus einzuordnen. Darüber hinaus, was einen Teil des rechtspopulistischen Spektrums anbelangt, wegen des Widerspruchs zwischen transatlantischer und putin-philer Orientierung, was sich vielleicht mit Trump und Merz einebnet.)

    Fünftens, was speziell die AfD-Zuwächse seit der letzten Bundestagswahl und die Entstehung des BSW anbelangt, so dürfte
    • – in Bezug auf beides – der Wegfall einer sozialdemokratischen oder neu-sozialbewegten Position der „Entspannungspolitik“29, 30 und
    • speziell in Bezug auf die AfD, dass die FDP in der Koalition mit SPD und Grünen nur teilweise das durchsetzen konnte, was sich insbesondere der rechtspopulistische Kubicki-Fanclub erhoffte,
    von Bedeutung sein. (Durch ersteres werden diejenigen, die Unbehagen an der Konfrontation mit Russland verspüren, aber die Konfrontation nicht als Produkt kapitalistischer Staatenkonkurrenz analysieren, sondern ‚versöhnen', ‚vermitteln', ‚deskalieren' wollen, von rechts hegemonialisiert. Denn rechts von einem kleinen links-aussen-Spektrum, das versucht, sich gegen beide Seiten der Konfrontation zu stellen [statt mit beiden Seiten den Frieden zu wollen], gibt es fast nur noch [neo]liberale BellizistInnen und rechtspopulistische Putin-FreundInnen.)

    Achim: Ich habe einen weiteren Text gelesen – den Artikel „Der Neofaschismus als Produkt des Neoliberalismus“ im untergrundblättle, der ebenfalls am 11.02. erschienen war. Haben wir es nicht vielmehr gerade in den US mit einem Kampf zwischen der neoliberalen Demokratischen Partei und der rechtspopulistischen (oder nach Artikel-Ansicht vielleicht: „neofaschistischen“) Republikanischen Partei zu tun – und ähnlich in der EU zwischen der BRD und den nordwestlichen Staaten einerseits und der Orban-Regierung in Ungarn und – bis zum Regierungswechsel Ende 2023 – der PIS-Regierung in Polen andererseits?

    dgs: Die Produkt-These in dem Artikel wird ja folgendermassen begründet:

    „Die aufkommende neofaschistische Gesellschaftsform ist ein Produkt des Neoliberalismus. In jenem wurden öffentliche Güter privatisiert, gibt es im Durchschnitt für die meisten keine effektiv inflationsausgleichende Lohnerhöhung und wird der gewerkschaftliche Organisationsgrad vermindert. Im Neoliberalismus wird politischer Opposition ebenso mit Repression begegnet, während oppositionelle Forderungen durch technokratische Vermittlungsgremien entpolitisiert und von der Regierungspolitik adaptiert und als Innovation verwertet werden. Der neoliberale Hyperkapitalismus atomisierte und ent-sinnlichte die Einzelnen durch seine Selbstverwirklichungsnarrative und -mechanismen soweit, dass sie ihre Erlösung aus Vereinzelung und Sinnlosigkeit in den Konstrukten von faschistischer Volksgemeinschaft und Nationalstaat suchen.“

    Diese Argumentation scheint mir mit mehreren Problemen behaftet zu sein:
    • „gibt es […] für die meisten keine effektiv inflationsausgleichende Lohnerhöhung“ ist halt nicht wahr, wie gerade schon gezeigt – für 90 % der Bevölkerung in der BRD gibt es die Reallohnsteigerungen sehr wohl.
    • „wird der gewerkschaftliche Organisationsgrad vermindert“. Was heisst „wird […] vermindert“?! Das geschieht hier ja nun nicht durch Regierungseingriff, sondern, weil ältere Gewerkschaftsmitglieder sterben oder bei Verrentung austreten und jüngere weniger als früher eintreten.
    • „Im Neoliberalismus wird politischer Opposition ebenso mit Repression begegnet, während oppositionelle Forderungen durch technokratische Vermittlungsgremien entpolitisiert und von der Regierungspolitik adaptiert und als Innovation verwertet werden.“
      • Am ehesten teile ich das mit den „technokratische[n] Vermittlungsgremien“ – aber nicht nur in Bezug auf Vereinnahmung oppositioneller Forderungen, sondern auch in Bezug auf die Darstellung herrschender Politik als „Sachzwang“.
      • „Im Neoliberalismus wird politischer Opposition ebenso mit Repression begegnet“. Was heisst „ebenso“? „Ebenso“ wie wann oder wo (also: an welchem anderen Ort oder zu welchem anderem Zeitpunkt)? Und welches Spektrum ist mit „politischer Opposition“ gemeint?
    Die Linke sollte sich an die eigene Nase fassen statt die Gemeinheit des Feindes zu beklagen

    Mao wusste: „Die Grundursache der Entwicklung eines Dinges liegt nicht ausserhalb, sondern innerhalb desselben; sie liegt in seiner inneren Widersprüchlichkeit.“ (MAW I, 365 - 408 [367] – Über den Widerspruch) Die heutige Linke ist dagegen gut darin, den Griff an die eigene Nase zu vermeiden, und die Ursache der eigenen Schwäche vor allem bei der Stärke und Gemeinheit der Gegenseite zu suchen.

    Achim: Der Neoliberalismus/Neofaschismus-Artikel kritisiert eine Sichtweise, die wie folgt beschrieben wird: „Nun kann man sagen: ‚Nichts wird so heiss gegessen, wie es gekocht wird'. Vielleicht ist es sinnvoll, heute vehement vor den kommenden Bedrohungen zu warnen, um dadurch entsprechende Korrekturmechanismen in Gang zu bringen. Doch in Panik brauche niemand zu verfallen, denn die Menschheit wäre schon immer erfinderisch gewesen und verfüge heutzutage sie über so viel Wissen und Ressourcen, dass sich das Ganze schon neu arrangieren liesse.“ Dem wird entgegengesetzt, diese Denkweise impliziere, „dass gesellschaftlicher Wandel ein quasi-natürlicher Vorgang wäre, auf den lediglich reagiert werden könne, weil er sich zwangsläufig vollziehen würde. Tatsächlich geschieht der Umbau der bestehenden Gesellschaftsform aber systematisch, umfangreich und nach dem Willen der Reichen und Mächtigen.“ Siehst du das ähnlich oder denkst du, dass sich linke Alternativen herausbilden können? Ich sage ehrlich, dass ich da sehr skeptisch bin. Die deutsche Linke ist heillos zerstritten und ich denke nicht, dass es in den USA viel besser aussieht, auch wenn einzelne Organisationen vielleicht grösser sind.

    dgs: Sagen wir mal so: Ich traue der kapitalistischen Produktionsweise schon sehr viel Flexibilität und Krisenmanagement- und auch -bewältigungs-Fähigkeit zu. Insofern liegt mir die These „in Panik brauche niemand zu verfallen“ schon nicht ganz fern. Was deine Frage nach Herausbildung linker Alternativen anbelangt: Die Black Live Matters-Bewegung entstand in Trumps erster Amtszeit, und die Zwischenwahlen zur Hälfte seiner eigenen (ersten) Amtszeit nahmen ihm die republikanische Mehrheit im RepräsentantInnenhaus. Und der jetzige Angriff von Trump und Musk auf den Öffentlichen Dienst in den USA hat vielleicht zumindest den positiven Nebeneffekt, mit der Legende von BSW und anderen aufzuräumen, Trump sei der grosser Freund der US-ArbeiterInnenklasse und die woke Demokratische Partei die Partei privilegierter, lebensfremder Intellektueller.

    Achim: Eine weitere These in dem Artikel lautet: „Das neoliberale ökonomisch-politische Gesellschaftsarrangement wird durch eine andere Form abgelöst. In jener treten die Härten des Kapitalismus unvermittelter zu Tage. Darin werden demokratische Rechte, Freiheiten und Institutionen abgebaut, da sie gesteigerten Interessen nach Kapitalverwertung und Herrschaftsausübung im Weg stehen. Mit der Auflösung des Sozialstaates wird das untere Viertel oder Drittel der Bevölkerung europäischer Nationalstaaten in neofeudale Abhängigkeitsverhältnisse gezwungen.“ Was hältst du von der These?

    dgs: Auch das ist mir alles nicht konkret (präzise) genug:
    • „neofeudale Abhängigkeitsverhältnisse“: Was ist gemeint? Die Plattform-Ökonomie und andere Formen von (Para-)Schein-Selbständigkeit? Inwiefern „neofeudal“? Wo ist da die persönliche Abhängigkeit, die für den historischen Feudalismus charakteristisch war? Da die Plattformen keine Monopole sind, können die Leute die Plattform wechseln; sie dürfen auch streiken.
    • „Darin werden demokratische Rechte, Freiheiten und Institutionen abgebaut, da sie gesteigerten Interessen nach Kapitalverwertung und Herrschaftsausübung im Weg stehen.“ Wo? In welchen Ländern? Welche demokratischen Rechte? Welche Freiheiten? Welche Institutionen? Inwiefern stehen diese „gesteigerten Interessen nach Kapitalverwertung und Herrschaftsausübung im Weg“?
    • „Auflösung des Sozialstaates wird das untere Viertel oder Drittel der Bevölkerung“: Siehe oben zur Reallohn- und Haushaltseinkommens-Entwicklung in der BRD.
    Achim: Letzte Frage zu dem Neoliberalismus/Neofaschismus-Artikel – zu folgender Stelle in dem Artikel: „Das neue Herrschaftsarrangement wird keine durch und durch faschistische Gesellschaft sein. Sie wird nicht im Sinne einer totalitären Gesellschaftsform funktionieren, wie sie im historischen Nationalsozialismus aufgebaut wurde. Beziehungsweise wird die Totalität unscheinbarer daherkommen – und sich auf Datenmaterial stützen. Der NS wäre früher oder später an seinem eigenen Totalitarismus erstickt, hätten die alliierten Armeen schliesslich nicht der Verlängerung des Wahnsinnsprojekts Einhalt geboten. Und dennoch wird die entstehende Herrschaftsordnung grundlegend auf faschistische Elemente und Methoden zurückgreifen.“ Was sagst du zu dieser Analyse?

    dgs: Zu, „Der NS wäre früher oder später an seinem eigenen Totalitarismus erstickt“, sage ich: „Weiss ich nicht.“
    Zu dem Anfang sage ich: „Dann vielleicht besser nicht mit den historischen Begriffen operieren, sondern die neue Sache auf einen ihr angemessenen neuen Begriff bringen.“

    Post-Originalismus, Legalität und Legitimität

    Achim: Ich würde jetzt gerne noch über einen Artikel in der New York Times von Samstag, den 15.02.2025 mit der Überschrift The Radical Legal Theories That Could Fuel a Constitutional Crisis. An increasingly influential group of conservative scholars has some drastic ideas about the president's power mit dir sprechen. In dem Artikel geht es viel um „originalism“. Was ist das überhaupt?

    dgs: „Originalismus“ ist die Bezeichnung für einen methologischen Ansatz in der US-Rechtswissenschaft, der ein naher Verwandter oder ein Unterfall des „Textualismus“ ist. Und „Textualismus“ ist – auch wenn er bei einigen Leuten als politisch konservativ verschrien ist – meines Erachtens das A und O jeder Rechtswissenschaft und für die Berechenbarkeit des Handelns der Staatsgewalt – die Anerkennung, dass der Wortlaut (der Text) Ausgangspunkt und Grenze der Auslegung der jeweils zu interpretierenden Norm sein muss.

    Der Orginalismus setzt da noch ein i-Tüpfelchen drauf und sagt, der Wortlaut müsse wiederum so verstanden werden, wie er zum Zeitpunkt des Erlasses der Norm verstanden wurde.31 Auch dieser Auffassung stimme ich unter demokratietheoretischen Erwägungen zu: Die Bewertung von gesellschaftlichen, technischen etc. Veränderungen und Möglichkeiten sowie die Reaktion darauf, ist nicht Rechtsanwendung (also nicht Sache der Gerichte), sondern Politik (also Sache der möglichst direkt-demokratisch und wenig expertokratisch legitimierten Instanzen).
    Allerdings sehe ich zwei Probleme:
    • Zum einen gerade unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit: Wenn es sich um einen sehr alten, heute nicht mehr eingängigen Sprachgebrauch handelt, kann es für die BürgerInnen gerade überraschend sein, wenn auf das historische Begriffsverständnis abgestellt wird. Das heisst: Die Berechenbarkeit der Staatsgewalt ist futsch.
    • Zum anderen: Wenn wir eine Norm wie Artikel 5 Absatz 1 Satz 2 Grundgesetz („Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet.“) nehmen, dann hatte sich der Parlamentarische Rat unter „Presse“, „Rundfunk“ und „Film“ definitiv nicht das Internet vorgestellt – aber heisst das deshalb, dass die Freiheit der Berichterstattung im Internet nicht grundgesetzlich geschützt ist – oder dürfen wir sagen, dass das Internet (da die Datenflüsse genauso unkörperlich sind, wie Radiowellen) „Rundfunk“ ist oder dass jedenfalls ein Teil des Internets – wenn auch nicht aus der Druckerpresse kommende – ‚elektronische Presse' ist?32
    Eine Lösung für dieses Problem habe ich nicht; TextualistIn bin ich auf alle Fälle; den Originalismus finde ich jedenfalls nicht so furchtbar wie ihn – insbesondere hierzulande – viele Linksliberale und Linke finden mögen.

    Achim: Und was ist Post-Originalismus?

    dgs: Mir war der Begriff bisher auch nicht untergekommen. Deshalb kann ich dazu nicht mehr sagen als in dem Artikel steht: Der Post-Originalismus habe sich als Antwort darauf herausgebildet, dass sich Originalismus und Textualismus „have proven impotent in opposing the liberal concept“ / „sich als unfähig erwiesen hat, der liberale Idee entgegenzuwirken“. Das würde ich wie folgt paraphrasieren: Der Originalismus war in erster Linie ein methodologisches Konzept, das – unabhängig von den konkreten Ergebnissen und politischen Implikationen – für wissenschaftstheoretisch richtig gehalten werden kann (siehe das Kagan-Zitat in FN 31 und meine eigene Zuneigung) und der Post-Originalismus ist in erster Linie ein anti-liberales politisches Programm, das anscheinend noch weit hinter die Zeit der Erarbeitung und Verabschiedung der US-Verfassung (und deren späteren Änderungen) in die Zeit des Römischen Kaiserreichs zurückgreift – der NYT-Artikel zitiert einen Harvard-Jura-Prof. (Adrian Vermeule) mit den Worten: Die US-Verfassung sei „to a large degree what the President and the agencies say it is,“ / „im grosse Masse das, von dem Präsident und die [im hiesigen Kontext vielleicht besser: seine] Behörden sagen, dass es die Verfassung sei“, und die Macht des/der Präsidenten/in sei „roughly comparable to the aggregate of powers held by Augustus and his successors“ / „ungefähr vergleichbar mit der Gesamtheit der Befugnisse von Augustus und seinen Nachfolgern“.

    Achim: In dem NYT-Artikel heisst es ausserdem: „Mit der Entscheidung Trump v. United States aus dem Jahr 2024 stellte der Oberste Gerichtshof fest, dass die Gerichte keinen Präsidenten für die Erfüllung seiner verfassungsmässigen Pflichten strafrechtlich verantwortlich machen können.“33 Ist damit nicht eigentlich schon die Rechtsbindung des Amtes des Präsidenten faktisch aufgehoben worden?

    dgs: Nein, das Strafrecht ist nicht das einzige Recht und die Strafgerichtsbarkeit ist nicht die einzige Gerichtsbarkeit. Eine verfassungsrechtliche und – nach hiesigem Sprachgebrauch: verwaltungsrechtliche – nach US-Sprachgebrauch zivilrechtliche Exekutive-Kontrolle findet ja weiterhin statt. Das sehen wir ja gerade.

    Achim: Eine weitere These aus dem NYT-Artikel lautet: „früheren Fälle präsidialer Widerspenstigkeit [gegenüber den Gerichten] – nur zwei, verteilt über 248 Jahre – waren gering. Herr [Vize-Präsident] Vance deutet etwas ganz anderes an:weitreichende Straffreiheit für kompetenz-überschreitendes (ultra34 vires35) Handeln der Exekutive. Diese Idee ist zunehmend Teil des republikanischen mainstream.“36 Ist der Trumpismus eine Art neuer Cäsarismus?

    dgs: Wie so oft bei rechtspopulistischen Äusserungen ist nicht ganz klar, was Vance überhaupt gemeint hat. Wörtlich geschrieben hat er, wie vorhin schon zitiert: „judges aren't allowed to control the executive's legitimate power / „RichterInnen ist nicht erlaubt, die legitime Macht der Exekutive zu kontrollieren“.
    Es kommt also alles auf den Unterschied zwischen „legal“ und „legitim“ an – falls Trump und Konsorten einen Carl Schmitt-Leskreise haben und Schmitts Schrift Legalität und Legitimität gelesen haben, kann davon ausgegangen werden, dass Vance „legitim“ im Gegensatz zu (und nicht als laxes Synonym von) „legal“ gemeint hat.

    Achim: Was ist denn bei Carl Schmitt mit „legal“ und „legitim“ gemeint?

    dgs: Ungefähr das Folgende:
    legitim – legal
    ‚materiell' (substantiell) – formell
    in der Sache (nach Ansicht der sprechenden Person) richtig – objektiv gesetzmässig (wenn auch vielleicht politisch falsch oder störend).37

    Ist Trump ein Schmittianer?

    Diese Entgegensetzungen sind bei Schmitt aber nichts, um Revolutionen ‚von unten' zu rechtfertigen, sondern um den staatlichen Gesetzesbruch ‚von oben' zu rechtfertigen – noch mal die Schmitt-Zitate aus dem ersten Teil: „Der Führer schützt das Recht“; nicht der Satz nullum poena sine lege, sondern der Satz nullum crimen sine poena solle gelten. Und noch ein Schmitt-Zitat:

    „Der Führer der Deutschen Rechtsfront und des BNSDJ [Bund Nationalsozialistischer Deutscher Juristen; ab 1936: Nationalsozialistischer Rechtswahrerbund], Reichsjustizkommissar Minister Dr. Frank, hat gesagt, wir seien Diener des Rechts und Diener des Staates. Wir sind in der Tat beides. In der Einheit und Doppelheit von Recht und Staat ist die Frage enthalten, die das Doppelwort ‚Rechtsstaat' uns allen stellt. Wir sind im Rechtsleben verwurzelt; das ist Recht ist unser Lebenselement. Wir sind zugleich dem Staat verpflichtet.“

    (Carl Schmitt, Nationalsozialismus und Rechtsstaat, in: Juristische Wochenschrift 1934, 713 - 718 [713])

    Die Bindung des Staates zumindest an seine eigenen Gesetze; gar die Determination des Staates mittels in demokratischen Verfahren beschlossenen Gesetzen durch die Gesellschaft kommen nicht vor.
    Trump hat am 15. Febuar – nach der vagen Äusserung von Vance vom 9. Februar – in diese Richtung noch eins draufgesetzt: „He who saves his country can not violate any law.“ (https://truthsocial.com/@realDonaldTrump/posts/114009179225169296) – was allerdings kein Schmitt-, sondern anscheinend ein – von Trump aber nicht als solches gekennzeichnetes – Napoleon-Zitat ist38. Insofern wäre Cäsarismus, was ja als Synonym zu Bonapartismus verwendet wird, schon passend.

    Zutreffend ist allerdings, dass es in der Tat Regierungsentscheidungen gibt, die nicht der gerichtlichen Kontrolle unterliegen: Zum Beispiele, welche Leute der/die BundeskanzlerIn dem/der Bundespräsidenten/in als MinisterInnen vorschlägt / welche Leute der/die US-PräsidentIn dem Senat als secretaries und RichterInnen vorschlägt, unterliegt keiner gerichtlichen Kontrolle. Das können KanzlerIn / PräsidentIn nach politischem Belieben entscheiden – und die Kontrolle wird politisch vom Bundestag (der dem/der KanzlerIn das Misstrauen aussprechen kann) bzw. vom US-Senat (von dem die Berufung der/die von dem/der PräsidentIn vorgeschlagenen Personen abhängt) ausgeübt. Eine andere Frage ist, ob es verfassungsgemäss wäre, wenn einfach-gesetzliche Kriterien dafür, welche Personen vorgeschlagen werden dürfen, festgelegt würden. Falls ein solches Gesetz verfassungsgemäss wäre, hätte eine gerichtliche Kontrolle genau im Hinblick auf diese Kriterien (aber nicht darüber hinaus) zu erfolgen.

    Achim: Mit dem Trump-Satz, He who saves his country can not violate any law, befasste sich auch Leon Holly in der taz vom 18.02.:

    „Der starke Mann, der eine vermeintlich kränkelnde Nation wieder zu alter Glorie bringen will. Der sich nicht nur gegen Feinde im Ausland, sondern auch gegen solche im Inneren wehrt. Und dem unabhängige Gerichte oder parlamentarische Kontrolle dabei lästig sind. So machte auch Schmitt seinerzeit den Parlamentarismus des Rechtsstaats Weimarer Republik verächtlich. […]. wissen wir, dass die neurechten Vordenker in den USA ihren Schmitt sehr wohl gelesen haben.

    So etwa der Philosoph Curtis Yarvin. In einem Interview zieht Yarvin Schmitt heran, um zu einer Kritik des Rechtsstaats auszuholen: ‚Wenn man sich mit der Frage der Rechtsstaatlichkeit beschäftigt, stellt man fest, dass es sich immer um die Herrschaft eines Menschen handelt, der behauptet, das Recht auslegen zu können'. Mit anderen Worten: Es braucht immer einen Richter, der Recht spricht.“

    (https://taz.de/Donald-Trump-gegen-den-Rechtsstaat/!6066964/)

    Weisst du Genaueres darüber?

    dgs: Nein, der Name „Yarvin“ war mir noch nicht untergekommen. Aber wenn wir dem Link beim Namen folgen, dann gelangen wir zu einem weiteren taz-Artikel:

    Jung, urban, antiwoke und rechts

    https://taz.de/Hippe-Neoreaktionaere-in-New-York-City/!5939891/ (25.06.2023)

    von Sebastian Moll. Dort wiederum heisst es: „Ein weiterer Protegé von [Tech-Milliardär Peter] Thiel ist der Blogger und Buchautor Curtis Yarvin, den das linke Magazin Jacobin als den ‚Hausphilosophen' der Bewegung bezeichnet, die Thiel gerade aufzubauen versucht.“
    Der gemeinte Artikel im Jacobin-Magazin scheint dieser zu sein

    Right-Wing Blogger Curtis Yarvin Is Wrong. Democracy Is Good.
    https://jacobin.com/2022/12/curtis-yarvin-right-wing-blogger-democracy-monarchism (21.12.2022)

    von Ben Burgis. Dort ist Schmitt aber nicht erwähnt.

    Wenn wir jetzt noch dem taz-Link beim Wort „Interview“ folgen, dann sehen wir, dass Yarvin nicht von „Rechtsstaatlichkeit“ und auch nicht von so etwas Kuriosem wie „*right-state-ly-ness“ sprach, sondern von rule of law: „When you examine the issue of the rule of law, you see that it's always ultimately the rule of someone who claims to know how to interpret the law.“
    Worauf er damit hinaus will, sagt er nicht so ganz deutlich, aber mir scheint, er will uns sagen: Die Herrschaft der Gesetze sei eine Illusion, die sich letztlich als Herrschaft der GesetzesinterpretInnen erweise:

    There's this very English and American idea of ‚the rule of law, not men.' […]. In a place like Iran, they would talk about ‚the rule of God, not men,' or rather ‚the rule of Allah, not men.' But it's always a person deciding what God thinks. When you examine the issue of the rule of law, you see that it's always ultimately the rule of someone who claims to know how to interpret the law. […]. Carlyle observes: 'We automate everything, we power everything – what we're really trying to have is a government that runs on steam.' He sees that we are attempting to get a government that runs itself, an automated government running on steam.' But there will always be humans in the equation.

    (https://rage-culture.com/en/conversation-with-curtis-yarvin/)


    Es gibt diese sehr englische und amerikanische Idee von ‚the rule of law, not men'. [...]. In einem Land wie dem Iran würde man von der ‚Herrschaft Gottes, nicht der Menschen' sprechen, oder eher von der ‚Herrschaft Allahs, nicht der Menschen'. Aber es ist immer ein Mensch, der entscheidet, was Gott denkt. Wenn das Problem der rule of law untersucht wird, ist zu erkennen, dass es letztlich immer die Herrschaft einer Person (someone) ist, die beansprucht, zu wissen, wie das Gesetz auszulegen ist. [...]. Carlyle39 stellt fest: ‚Wir automatisieren alles, wir treiben alles an – was wir wirklich versuchen zu bekommen, ist eine Regierung, die mit Dampfkraft läuft.' Er sieht, dass wir versuchen, eine Regierung zu bekommen, die von selbst läuft [runs itself], eine automatisierte Regierung, die ‚mit Dampfkraft' läuft. Aber es wird immer Menschen in der Gleichung geben [freier: Aber es werden immer Menschen dazwischen kommen.].“

    In der Tat sagte Schmitt etwas sehr ähnliches:

    „Jede konkrete juristische Entscheidung enthält ein Moment inhaltlicher Indifferenz, weil der juristische Schluss nicht bis zum letzten Rest aus seinen Prämissen ableitbar ist, […].“

    (Carl Schmitt, Politische Theologie, Berlin, 19221, 19905, 41).


    „Die Entscheidung ist, normativ betrachtet, aus dem Nichts geboren.“

    (ebd., 42).

    Das ist aber – jedenfalls bei Schmitt; vermutlich auch bei Yarvin –
    • keine Kritik des interpretatorischen Voluntarismus bzw. des Antipositivismus, sondern dessen Apologie als unvermeidlich oder sogar wünschenswert
      und
    • keine Kritik des deutschen Rechtsstaats mit seiner Skepsis gegenüber den Gesetzen, sondern eine Kritik der angelsächsischen rule of law und des Positivismus.
    Allerdings war Schmitt skeptisch (und ist vermutlich auch Yarvin skeptisch), ob diese Entscheidungsmacht bei den RichterInnen gut aufgehoben ist; ob sie genug Macht haben, die von ihm als nötig angesehenen energischen Entscheidung auch durchzu setzen. Deshalb präferierte Schmitt – gegenüber der justizstaatlichen Lösung, die sich dann in der BRD durchsetzte – die exekutivstaatliche Lösung: Nicht die Gerichte, sondern zunächst der Reichspräsident und dann der „Führer“ sei der „Hüter der Verfassung“, der nicht die tatsächliche Verfassung anwendet und einhält, sondern überhaupt erst entscheidet, was drinsteht – also im Ausnahmezustand „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“40) – halb versteckt, halb offen – den Akt der Verfassungsgebung revidiert.

    Meine dritte Position – als Alternative (unterhalb einer sozialistischen Revolution) sowohl zu der integrationistischen ‚Bonn/Berliner' justizstaatlichen als auch der ‚Spät-Weimarer' exekutivstaatlichen Variante des Antipositivismus sowie der Parlaments- und Gesetzesskepsis – ist nun die Kritik der voluntaristischer Interpretationen und die Kritik der Verlagerung der Souveränität von der Bevölkerung zu den Staatsapparaten (sei es die Exekutive oder sei es die Justiz) und ein gleichermassen materialistisches (= positivistisches) [nicht: ‚materielles' = substantialistisches = antipositivistisches] wie demokratisches Ethos einer Justiz, die akzeptiert, dass sie nicht souverän ist; dass ihre Entscheidungen nicht „aus dem Nichts geboren“ sein dürfen, sondern aus den Gesetzen zu begründen sind und die sich auch gegen eine Exekutive stellt, die beansprucht souverän zu sein.

    Achim: Ist das nicht – auch gemessen an den Auffassungen einiger Autoren, auf die du dich beziehst41 – eine anachronistische, frühbürgerliche Position, die im Spätkapitalismus nicht mehr funktioniert und nicht mehr funktionieren kann?

    dgs: Ich würde ohne weiteres zustimmen, dass das von mir für das Kleinste aller bürgerlichen Übel gehaltene Modell (demokratische Gesetzlichkeit mit posivistischer Justiz) nicht immer und nicht überall funktioniert und nicht immer und überall funktionieren kann. Aber ich würde – damit sind wir wieder ziemlich am Anfang unseres Gesprächs – daraus trotzdem keine geschichtsdeterministische Stadientheorie machen, sondern auf der „konkrete[n] Analyse […] konkrete[r] Situation[en]“ (LW 31, 153 - 155 [154]) beharren wollen.

    Aber in der Tat hat Carl Schmitt Recht – und insoweit spricht er nicht als Jurist, sondern als historischer Materialist (ohne sich als solcher zu verstehen) –, dass die gesellschaftlichen Widersprüche sich manchmal so weit zu spitzen können, dass der „Ernstfall“42 eintritt – dass die „im Bereich des Realen liegende Eventualität“ eines Kampfes auf Leben und Tod43 Wirklichkeit wird.

    Zum Weiterlesen:

    Adrian Vermeule, Confusion About the Separation Of Powers. No, There is No „Constitutional Crisis“

    https://thenewdigest.substack.com/p/confusion-about-the-separation-of (vom 10.02.2025)

    Steve Vladeck, What Vice President Vance Did – and Didn't – Say About Judicial Power. A weekend tweet provides a useful opportunity for articulating some nuance in understanding what federal courts can – and can't – do when reviewing the executive branch

    https://www.stevevladeck.com/p/123-what-vice-president-vance-didand (vom 11.02.2025)

    Mattathias Schwartz, The Radical Legal Theories That Could Fuel a Constitutional Crisis. An increasingly influential group of conservative scholars has some drastic ideas about the president's power

    https://www.nytimes.com/2025/02/15/us/constitution-crisis-trump-judges-legal.html (vom 15.02.2025)

    Carl Schmitt, Legalität und Legitimität, Duncker & Humblot: Berlin, 20128.

    Otto Kirchheimer, Bemerkungen zu Carl Schmitts „Legalität und Legitimität“, in: ders., Gesammelte Schriften. Bd. 1: Recht und Politik in der Weimarer Republik hrsg. von Hubertus Buchstein, Nomos: Baden-Baden, 2017, 376 - 395 = Die Gesellschaft. Internationale Revue für Sozialismus und Politik, Jg. 9, Heft 7, 1932, 8 - 20.

Achim Schill


1 „This [Der 4. September 1871] was, therefore, a Revolution not against this or that, legitimate, constitutional, republican or Imperialist form of State Power. It was a Revolution against the State itself, of this supernaturalist abortion of society, a resumption by the people for the people, of its own social life. It was not a revolution to transfer it from one fraction of the ruling classes to the other, but a Revolution to break down this horrid machinery of Classdomination itself. […]. Only the Proletarians […] to do away with all classes and class rule, were the men to break the instrument of that class rule – the State, the centralized and organized governmental power usurping to be the master“ (MEGA I/22, 55 [Zeile 23 - 29] und 56 [Zeile 11, 12 - 14] Hv. i.O.; MEW 17, 541, 542)

„Having once got rid of the standing army and the police, the physical force elements of the old Government, the Commune was anxious to break the spiritual force of repression, the ‚parson-power,' by the disestablishment and disendowment of all churches as proprietary bodies. The priests were sent back to the recesses of private life, there to feed upon the alms of the faithful in imitation of their predecessors, the Apostles.“ (MEGA I/22, 140 [Zeile 5 - 11] / 202 [Zeile 13 - 19]; vgl. MEW 17, 339)

„new Commune, which breaks the modern State power“ (MEGA I/22, 141 [Zeile 15 f.]) / „neue Kommune, die die moderne Staatsmacht bricht“ (MEGA I/22, 203 [Zeile 29]; MEW 17, 341).

Das Vorstehende auf Englisch Zitierte wurde von Marx auf Englisch geschrieben. – Vgl. auch


MEW 17, 205: „Wenn Du das letzte Kapitel meines ‚Achtzehnten Brumaire' nachsiehst, wirst Du finden, dass ich als nächsten Versuch der französischen Revolution ausspreche, nicht mehr wie bisher die bürokratisch-militärische Maschinerie aus einer Hand in die andre zu übertragen, sondern sie zu zerbrechen, und dies ist die Vorbedingung jeder wirklichen Volksrevolution auf dem Kontinent. Dies ist auch der Versuch unsrer heroischen Pariser Parteigenossen.“ (Hv. i.O.; siehe demnächst als Teil der MEGA dort: https://megadigital.bbaw.de/briefe/index.xql)
und

dazu das hier in FN 75 angeführte Zitat aus dem letzten (= VII.) Kapitel des 18. Brumaire.


2 „Alle früheren Revolutionen haben die Staatsmaschinerie vervollkommnet, man muss sie aber zerschlagen, zerbrechen. […]. Der Marxsche Gedanke besteht darin, dass die Arbeiterklasse ‚die fertige Staatsmaschine' zerschlagen, zerbrechen muss und sich nicht einfach auf ihre Besitzergreifung beschränken darf.“ (LW 25, 418, 417; Hv. i.O.)

3 „Exekutivgewalt mit ihrer ungeheuren bureaukratischen und militärischen Organisation, mit ihrer weitschichtigen und künstlichen Staatsmaschinerie, ein Beamtenheer von einer halben Million neben einer Armee von einer andern halben Million, dieser fürchterliche Parasitenkörper, der sich wie eine Netzhaut um den Leib der französischen Gesellschaft schlingt und ihr alle Poren verstopft, entstand in der Zeit der absoluten Monarchie, beim Verfall des Feudalwesens, den er beschleunigen half. […]. “ (MEGA I/11, 178 [Zeile 18 - 24] und 179 [Zeile 6 - 7]; vgl. MEW 11, 196, 197)

„This state power forms in fact the creation of the middleclass, first a means to break down feudalism, then a means to crush the emancipatory aspirations of the producers, of the working class. All reactions and all revolutions had only served to transfer that organized power – that organized force of the slavery of labour – from one hand to the other, from one fraction of the ruling classes to the other. It had served the ruling classes as a means of subjugation and of pelf. It had sucked new forces from every new change. It had served as the instrument of breaking down every popular rise and served it to crush the working classes after they had fought and been ordered to secure its transfer from one part of its oppressors to the others.“ (MEGA I/22, 55 [Zeile 13 - 23]; vgl. MEW 17, 341)

4 SozialdemokratInnen und zumal KommunistInnen gab es kaum im BeamtInnenapparat und vom deutschen Linksliberalismus war beim Übergang von der Weimarer Republik zum NS nichts mehr übrig (die Deutsche Demokratische Partei [DDP] war marginalisiert, löste sich auf und gründete sich 1930 – nach einer gemeinsamen Kandidatur mit der Volksnationalen Reichsvereinigung [VR] bereits unter diesem Namen – unter dem passenden Namen Deutschen Staatspartei neu:

„Following the national election of May 1928 and the communal and Länder elections in the autumn of 1929, the DDP was no longer a viable political organization.“ (Bruce B. Frye, Liberal Democrats in the Weimar Republic. The History of the German Democratic Party and the German State Party, Southern Illinois University Press: Carbondale / Edwardsville, 1985, 155)


„The VR was the political wing of the Jungdo [Jungdeutscher Orden], a right-wing, paramilitary bündische organization with medieval trappings. It seemed to have little in common with the DDP, but the Democrats as well as Stresemann had watched it carefully for several years. Its youthful character and its alleged large membership were attractive smaller parties with youthful members. These assets overcame whatever doubts many in the DDP had about the nature of the VR, some of whose characteristics seemed bizarre to the urban sophisticates of the DDP. The Jungdo dressed its members in distinctive uniforms, sported a Teutonic cross as its emblem, and called its leader, Mahraun, führer or Meister. It had a strong Prussian and Christian character and its bylaws included an ‚Aryan paragraph' which excluded Jews from membership. Many of its members were war veterans who had had Free Corps experience, and, until 1924, it was indistinguishable from several other such groups.“ (ebd., 158)


„The DDP terminated itself and officially founded the DStP on 8 November 1930 at the Party Congress in Hannover.“ (ebd., 176)

„‚democracy' as well as ‚liberalism' were largely omitted from the DStP's statements and to learn that the VR's scorn for the Weimar system rivaled the Nazis“ (ebd., 168)

„der neue Vorsitzende Hermann Dietrich [verkündete] in seiner Rede am 9. November 1930 […], dass die Partei ‚auf dem Staatsgedanken aufgebaut wird'. Dietrich ging davon aus, ‚dass das Zeitalter des Liberalismus hinter uns liegt', und beklagte ‚die völlige Entartung der Meinungs- und Pressefreiheit, in der die Seele des Volkes immer mehr verwirrt wird“ (Jens Hacke, Existenzkrise der Demokratie. Zur politischen Theorie des Liberalismus in der Zwischenkriegszeit, Suhrkamp: Berlin, 2018, 358, FN 223)

„die Gründung der Deutschen Staatspartei, die dem grassierenden neuliberalen Etatismus Rechnung trug,“ war symptomatisch „für die zeitgenössische Debatte im politischen Liberalismus“. „Dass das Wirtschaftssystem in eine staatliche Ordnung eingebettet sein musste und also auch der Kapitalismus den Staat brauchte, war eine Einsicht, die [Walter] Eucken, [Wilhelm] Röpke und [Alexander] Rüstow in ihr Denken integrieren versuchten und jeweils unterschiedlich akzentuierten.“ (ebd., 358 [Haupttext])

Euken & Co. waren Ideologen des frühen deutschen Neo- bzw. Ordoliberalimus (siehe zu diesem und dessen Verhältnis zum us-amerkanischen Neoliberalismus: Ralf Ptak / Frieder Otto Wolf, Autoritärer und libertärer Neoliberalismus, in: dgs / Sabine Berghahn / Frieder Otto Wolf [Hg.], Rechtsstaat statt Revolution, Verrechtlichung statt Demokratie? Bd. 1: Die historischen Voraussetzungen; Westfälisches Dampfboot: Münster, 2010, 381 - 394).

Während die DDP bei der Nationalversammlungswahl 1918 5,6 Mio. Stimmen bzw. 18,5 % erhielt, erhielt sie 1928 nur noch 1,5 Mio. Stimmen bzw. 4,9 % und 1930 (zusammen mit der RV) 1,3 Mio. bzw. 3,7 %. 1932 und 1933 waren es dann weniger als 350.000 Stimmen bzw. 1 % oder noch weniger (Frye, a.a.O. 223).

5 Selbst wenn die RichterInnen in ihrer Rechtsprechung politisch aktivistischer wären, würde ins Gewicht fallen, dass die BundesrichterInnen auf Lebenszeit ernannt werden und durch den Wechsel des Präsidenten/in-Amtes zwischen den Parteien eine politisch pluralistische Zusammensetzung der RichterInnenschaft zustandekommt, also nicht nach jeder Präsidentschaftswahl ein Austausch der RichterInnen stattfindet.

6 Siehe meinen in FN 25 von Teil I genannten Text, S. 71 unten - 72 Mitte sowie Sabine Berghahn, Zwei Texte zur Lebensschutz-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Zum Geist des Absoluten und Der Fluch des statuierten Dogmas; http://dx.doi.org/10.17169/refubium-21839 / https://refubium.fu-berlin.de/bitstream/handle/fub188/18128/wp9_SB_Lebensschutz.pdf?sequence=1&isAllowed=y.

7 Zum Begriff „Brandmauer“ siehe auch: https://www.youtube.com/watch?v=2H1-F3WrSWQ.

8 Schon Lenin soll gestöhnt haben: „Wenn diese Deutschen einen Bahnhof stürmen wollen, kaufen die sich noch eine Bahnsteigkarte!“

9 „Diese Schicht der verbürgerten Arbeiter oder der ‚Arbeiteraristokratie', in ihrer Lebensweise, nach ihrem Einkommen, durch ihre ganze Weltanschauung vollkommen verspiessert, ist die Hauptstütze der II. Internationale und in unseren Tagen die soziale (nicht militärische) Hauptstütze der Bourgeoisie.“ (LW 22, 198; Hv. hinzugefügt; Original-Hv. getilgt)

10 https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2024-09-22-LT-DE-BB/charts/umfrage-afd/chart_1763923.jpg.

11 https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2024-09-22-LT-DE-BB/charts/umfrage-afd/chart_1763933.jpg.

12 https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2024-09-01-LT-DE-TH/charts/umfrage-afd/chart_1733396.jpg.

13 https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2024-09-01-LT-DE-TH/charts/umfrage-afd/chart_1733402.jpg.

14 https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2024-09-01-LT-DE-SN/charts/umfrage-afd/chart_1733202.jpg und https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2024-09-01-LT-DE-SN/charts/umfrage-afd/chart_1733210.jpg.

15 https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2023-10-08-LT-DE-HE/charts/umfrage-afd/chart_1422323.jpg.

16 https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2025-02-23-BT-DE/charts/umfrage-afd/chart_1874749.jpg.

17 https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2024/11/PD24_449_62321.html. Vgl. speziell für die tarifvertraglich vereinbarten Löhne: https://www.boeckler.de/pdf/pm_ta_2024_12_06.pdf, S. 3.

18 https://www.diw.de/de/diw_01.c.842375.de/publikationen/wochenberichte/2022_23_1/loehne__renten_und_haushaltseinkommen_sind_in_den_vergangenen_25_jahren_real_gestiegen.html und https://www.diw.de/de/diw_01.c.937313.de/publikationen/wochenberichte/2025_08_1/einkommensverteilung__anzeichen_fuer_trendbruch_beim_armutsrisiko_____alleinerziehende_seltener_von_armut_bedroht.html.

19 „Die Definition des Migrationshintergrunds lautet wie folgt: ‚Eine Person hat einen Migrationshintergrund, wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit nicht durch Geburt besitzt.'

Die Definition umfasst im Einzelnen folgende Personen:
1. zugewanderte und nicht zugewanderte Ausländer/-innen
2. zugewanderte und nicht zugewanderte Eingebürgerte
3. (Spät-)Aussiedler/-innen
4. Personen, die die deutsche Staatsangehörigkeit durch Adoption durch einen deutschen Elternteil erhalten haben
5. mit deutscher Staatsangehörigkeit geborene Kinder der vier zuvor genannten Gruppen
Die Vertriebenen des Zweiten Weltkrieges haben (gemäss Bundesvertriebenengesetz) einen gesonderten Status; sie und ihre Nachkommen zählen daher nicht zur Bevölkerung mit Migrationshintergrund. Daneben gibt es noch eine Gruppe von Personen, die mit deutscher Staatsangehörigkeit im Ausland geboren sind und deren beide Eltern mit deutscher Staatsbürgerschaft geboren sind und somit keinen Migrationshintergrund haben.“ (https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Migration-Integration/Publikationen/Downloads-Migration/statistischer-bericht-migrationshintergrund-erst-2010220237005.html, Tabelle 5 „Informationen zur Statistik“)

20 Siehe z.B. für die Bundestagswahl am Sonntag, den 23.02.2025: https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2025-02-23-BT-DE/charts/umfrage-job/chart_1874809.jpg.

21 Allerdings ist auch die AfD-Anteil unter den Arbeitslosen hoch; aber 34 % AfD-Stimmen unter den Arbeitslosen (ebd.) können nicht die Haupterklärung für den 21 %-Anteil der AfD an allen WählerInnen sein.

22 https://www-genesis.destatis.de/datenbank/online/url/98003769 (Zeile: „Alleinerziehende: Elternteile“).

23 https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Einkommen-Konsum-Lebensbedingungen/Lebensbedingungen-Armutsgefaehrdung/Publikationen/Downloads-Lebensbedingungen/statistischer-bericht-einkommen-lebensbedingungen-erstergebnisse-2150300247005.xlsx?__blob=publicationFile&v=2, Tabelle „12241-12“.

Die Hälfte der Alleinerziehenden-Haushalte (Median) hat ein Nettoäquivalenzeinkommen von weniger als 21.250 Euro/Jahr. Aber die Hälfte sowohl aller Haushalte mit als auch ohne Kindern hat ein Nettoäquivalenzeinkommen von mehr als 27.000 Euro/Jahr (Spalte 6). Oder dasselbe als Durchschnitt ausgedrückt (der allgemein-verständlicher, aber für Verzerrungen durch wenige sehr hohe Einkommen anfälliger ist): Durchschnitts-Nettoäquivalenzeinkommen der Alleinerziehenden-Haushalte: knapp 24.000 Euro/Jahr; Durchschnitts-Nettoäquivalenzeinkommen aller Haushalte sowohl mit als auch ohne Kinder: über 31.000 Euro/Jahr.

24 ebd., Tabelle „12241-07“, Spalte B und C, Zeile 45 und 54. Die BRD hat ca. 85 Mio. EinwohnerInnen; von diesen haben ca. 65 Mio. Person ab 16 Jahren ein Einkommen. Dies sind ungefähr je zur Hälfte Männer und Frauen (Spalte B; etwas weniger Frauen als Männer, obwohl der Frauenanteil an der Gesamtbevölkerung grösser ist als der der Männer). Diese ca. 33 Mio. Männer haben ein durchschnittliches Personenbrutto-Einkommen von 36.575 Euro/Jahr; jene ca. 32,5 Mio. Frauen ein durchschnittliches Personenbrutto-Einkommen von 23.363 Euro/Jahr.

25 Zum Beispiel bei der Bundestagswahl am Sonntag laut infratest-dimap: 24 % : 18 % (https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2025-02-23-BT-DE/charts/umfrage-werwas/chart_1874847.jpg / https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2025-02-23-BT-DE/charts/umfrage-werwas/chart_1874849.jpg) und bei der EU-Parlamentswahl 2024 laut der gleichen Quellen: 19 % : 12 % (https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2024-06-09-EP-DE/charts/umfrage-werwas/chart_1680865.jpg). Letzteres wird von der gerade (im Januar 2025) erschienenen Repräsentativen Wahlstatistik bestätigt (https://bundeswahlleiterin.de/dam/jcr/10169898-ce10-4535-9f13-9985664dd1f6/ew24_heft4-rws.pdf, S. 15 Mitte / 16 oben; vgl. auch die Graphik auf S. 91 unten [„Schaubild 6“]).

26 Hessen 2023: Grossstädte – 9 %; Kleinstädte und kleine Gemeinden – 23 bzw. 22 % (https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2023-10-08-LT-DE-HE/charts/umfrage-afd/chart_1422331.jpg).

Sachsen 2024: Grossstädte – 21 %; Kleinstädte und kleine Gemeinden – 35 bzw. 36 % (https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2024-09-01-LT-DE-SN/charts/umfrage-afd/chart_1733224.jpg).

Thüringen 2024: grosse Städte – 22 %; Kleinstädte und kleine Gemeinden – 36 bzw. 37 % (https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2024-09-01-LT-DE-TH/charts/umfrage-afd/chart_1733420.jpg)

Brandenburg 2024: grosse Städte – 22 %; Kleinstädte und kleine Gemeinden – 29 bzw. 34 % (https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2024-09-22-LT-DE-BB/charts/umfrage-afd/chart_1763949.jpg)

Bundestag 2025: https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2025-02-23-BT-DE/charts/umfrage-werwas/chart_1874855.jpg (Wohnort und Geschlecht kombiniert).

27 https://www.wahlen-berlin.de/wahlen/BE2023/AFSPRAES/agh/ergebnisse.html (siehe Karte „Erststimmenmehrheit in den Wahlkreisen“).

28 Das heisst nicht, dass sich noch mehr Linke als ohnehin die – inhaltlich-falsche – Infektionsschutz-Kritik hätten zu eigen machen sollen, um jenes „diffuse Unzufriedenheitspotential“ bei antifaschistischer Laune zu halten.

Aber es war falsch, die Infektionsmassnahmen bloss vom Standpunkt der Rationalität – gegen den Standpunkt der Irrationalität – zu verteidigen statt stärker die Inkonsequenz der Infektionsschutzmassnahmen zu kritisieren sowie den Klassencharakter der Auseinandersetzung „Infektionsschutz oder möglichst optimale Aufrechterhaltung der Kapitalakkumulation“ herauszuarbeiten.

29 Auf einem anderen Blatt steht, dass sich die sozialdemokratische „Entspannungspolitik“ – entgegen der Unions-Skepsis – als genau das erwies, als was sie von Egon Bahr („Wandel durch Annäherung“) konzeptioniert worden war: als Zersetzung des ‚real'sozialistischen Lagers.

Auf einem dritten Blatt steht, dass die sozialdemokratische „Entspannungspolitik“ als Gegenstück der ‚real'sozialistischen Politik der „friedlichen Koexistenz“ bedurfte, während es sich jetzt bei der Konfrontation NATO/EU-Russland mit einen innerkapitalistischen Konkurrenzkampf handelt.

30 Die von infratest-diamap zur Wahl am 23.02.2025 ermittelten Zahlen zu den ehemaligen und verbliebenen SPD-WählerInnen bestätigt diese Vermutung aber nicht: Für die SPD-WählerInnen spielte „Friedenssicherung“ eine wichtige Rolle; für die ehemaligen SPD-WählerInnen dagegen nicht (siehe: https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2025-02-23-BT-DE/charts/umfrage-wahlentscheidend/chart_1875245.shtml und https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2025-02-23-BT-DE/charts/umfrage-wahlentscheidend/chart_1875247.jpg). Aber vielleicht wäre letzterer Befund zu modifizieren, wenn die Zahlen danach differenziert würden, zu welcher Partei die ehemaligen SPD-WählerInnen wechselten.

31 Auch eine der von Biden ernannten Supreme Court-Richterin, Elena Kagan, sagte bei ihrer Nominierungsanhörung vor dem Senat laut dem New York Times-Artikel: „we are all originalists“.

32 Wurde vielleicht schon 1948/49 von „Pressekonferenz“ (und nicht von „Presse- und Rundfunk-“ oder „Medienkonferenz“) gesprochen, wenn nicht nur die gedruckte Presse, sondern auch der Rundfunk da war. Falls ja könnte das ein Argument dafür sein, den Begriff „Presse“ nicht auf die gedruckte Presse zu beschränken, sondern auf die massenmediale Funktion abzustellen und die drei Medienfreiheiten in Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 Grundgesetz zu einer technik-offenen umfassenden Medienfreiheit zusammenzufassen.

33 „With the 2024 Trump v. U.S. decision, the Supreme Court held that the courts could not find any president criminally liable for performing his constitutional duties.“

34 = jenseits (http://www.zeno.org/nid/20002709333).

35 Plural zu lat. vīs (Plural: vīrēs) = Kraft, Gewalt (http://www.zeno.org/nid/20002726033); hier i.S.v. Amtsgewalt, Zuständigkeit.

36 „Presidents Jackson and Lincoln both ignored important court rulings, according to the Federal Judicial Center. But those prior instances of presidential recalcitrance — just two, spread out over 248 years — were narrow. Mr. Vance hints at something very different: wholesale ultra vires executive-branch impunity. That idea is increasingly part of the Republican mainstream.“

37 Gleich auf der ersten Textseite seines 1932 erstmals erschienen Büchleins Legalität und Legitimität (Duncker & Humblot: Berlin, 20128, 7 f.) legt Schmitt die Begriffe dar:
„Wenn zu Beginn dieser Darlegungen über ‚Legalität' und ‚Legitimität' die heutige innerstaatliche Lage Deutschlands staats- und verfassungsrechtlich als ‚Zusammenbruch des parlamentarischen Gesetzgebungsstaates' gekennzeichnet wird, so ist das nur als eine zusammenfassende, kurze, fachwissenschaftliche Formel gemeint. [...]. Als 'Gesetzgebungsstaat' wird hier eine bestimmte Art politischen Gemeinwesens bezeichnet, dessen Besonderheit darin besteht, dass es den höchsten und entscheidenden Ausdruck des Gemeinwillens in Normierungen sieht, die Recht sein wollen, daher bestimmte Qualitäten beanspruchen müssen, und denen deshalb alle andern öffentlichen Funktionen, Angelegenheiten und Sachgebiete untergeordnet werden können. Was man in den Staaten des europäischen Kontinents seit dem 19. Jahrhundert unter ‚Rechtsstaat' verstand, war in Wirklichkeit nur ein Gesetzgebungsstaat, und zwar der parlamentarische Gesetzgebungsstaat. Die überragende und zentrale Stellung des Parlaments beruhte darauf, dass es als ‚gesetzgebende Körperschaft' diese Normierungen mit der ganzen Würde des Gesetzgebers, des ‚législateur', aufstellte.“
Anmerkungen:
1. M.E. lässt sich zeigen, dass Schmitt diese Entwicklung durchaus nicht nur wissenschaftlich analysiert, sondern auch politisch begrüsst hat.
2. Es tritt Anfang der 30er Jahre an die Stelle der Legalität des Gesetzgebungsstaates die Legitimität des Reichspräsidenten und schon ein paar Monate nach Erscheinen von Legalität und Legitimität (S. 6: „Diese Abhandlung lag am 10. Juli 1932 abgeschlossen vor.“) die des „Führers“. – Diese Beobachtung Schmitts ist analytisch zutreffend.
3. Schmitt lehnt den „‚Rechtsstaat'“ in Anführungszeichen, der „nur ein Gesetzgebungsstaat“ (Hv. hinzugefügt) gewesen sei, ab und möchte einen ‚richtigen' Rechtsstaat.
4. Dabei ebnet er den Unterschied – vermutlich um dem deutschen Liberalismus seine objektiv bestehende Staatstragenheit abzusprechen – zwischen Deutschland und Westeuropa ein, indem er ignoriert, dass Deutschland bis 1918 nicht parlamentarisch, sondern konstitutionell war und in der Weimarer Verfassung von Anfang ein Dualismus von Parlament und Reichspräsidenten angelegt war.
5. In Wirklichkeit waren nur die westeuropäischen Staaten États légales bzw. states under the rule of law, während der deutsche Rechtsstaat nicht ohne Grund „Rechtsstaat“ und nicht „Gesetzesstaat“ hiess.
6. Dieser spezifische deutsche Charakter des Rechtsstaats wurde ab 1933 bis zum Exzess gesteigert.

38 „The quote, as internet sleuths soon discovered, is a version of a phrase attributed to NapoleonCelui qui sauve sa patrie ne viole aucune loi,' translated as: who saves his country violates no law'. Another version appeared in the 1970 movie Waterloo, starring Rod Steiger as the dictator who rode roughshod over the French constitution to declare himself emperor and pursue world domination before his comeuppance at the pivotal 1815 battle from which the film's title is derived.“ (https://www.theguardian.com/us-news/2025/feb/16/trump-napoleon-judges-government-firings)

39 Siehe zu diesem https://en.wikipedia.org/w/index.php?title=Thomas_Carlyle&oldid=1275770611#Racism_and_antisemitism und den folgenden Abschnitt.

40 Carl Schmitt, Politische Theologie, Berlin, 19221, 19905, 11.

41 „Wo dem Staat nur ein oder einige wenige Monopole gegenüberstehen, beschäftigt sich das Gesetz mit diesen individuellen Tatbeständen, anstatt allgemeine Normen zu geben, und zerstört damit den Begriff des Gesetzes.“ (Franz L. Neumann, Rechtsstaat, Gewaltenteilung und Sozialismus [Anfang der 1930er], in: Mehdi Tohidipur [Hg.], Der bürgerliche Rechtsstaat, Suhrkamp: Frankfurt am Main, 1978, 118 - 126 [122 f.])

„Schliesslich ändert sich in der Massendemokratie und in der Monopolwirtschaft die Funktion des Richters. War der Richter im gewaltenteilenden Rechtsstaat [dg würde hier Gesetzesstaat schreiben] dem allgemeinen rationalen Gesetz unterworfen, so muss er nunmehr in einem immer steigenden Masse individuelle Anordnungen des Gesetzgebers und Recht, das von der Verwaltung geschaffen worden ist, anwenden. Zu gleicher Zeit zerstört die Monopolwirtschaft den rationalen Charakter des Rechts überhaupt. Rechtsinstitute wie ‚Treu und Glauben', ‚Gute Sitten', ‚Gesamtwirtschaft', ‚Gemeinwohl' und zahllose andere Generalklauseln treten in den Mittelpunkt der Rechtsanwendung, die sich damit naturgemäss in eine Verwaltungstätigkeit verwandelt. Aber diese Verwaltung wird ausgeübt von unabhängigen und unabsetzbaren Richtern. Sie erklären Gesetze für verfassungswidrig, die ihrer kapitalistischen Auffassung von der Verfassung widersprechen, sie hindern die Exekutive der Ausführung ihrer Tätigkeit, soweit es sich um Intervention in Freiheit und Eigentum handelt, und bilden doch zusammen mit der Bürokratie einen Gegenstaat, um das Wort von Sorel zu gebrauchen, der das Übergewicht des Parlaments endgültig zerstört und Verwaltung und Justiz ein entscheidendes Übergewicht über ein Parlament gibt, in welchem die Arbeiterbewegung massgeblichen Einfluss hat.“ (ebd., 123 f.)

42 Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, in: ders., Der Begriff des Politischen. Mit einer Rede über das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen, Duncker & Humblot: München/Leipzig, 1932, Berlin, 20159 mit Korr. aus C.S.s Handexemplar und einem Personenverzeichnis, 7 - 65

(33): „Auch heute noch ist der Kriegsfall der ‚Ernstfall'. Man kann sagen, dass hier, wie auch sonst, gerade der Ausnahmefall eine besonders entscheidende und den Kern der Dinge enthüllende Bedeutung hat.“


Fassungen von 1927 und 1933: „Auch heute noch ist der Kriegsfall der ‚Ernstfall'. Man kann sagen, dass hier, wie auch sonst, gerade der Ausnahmefall eine besonders entscheidende Bedeutung erhält.“ / „Auch heute noch ist der Kriegsfall der ‚Ernstfall'. Man kann sagen, dass hier, wie auch sonst, gerade der Ausnahmefall eine besonders entscheidende Bedeutung hat und den Kern der Dinge enthüllt.“ (ders., Der Begriff des Politischen. Synoptische Darstellung der Texte. Im Auftrag der Carl Schmitt-Gesellschaft herausgegeben von Marco Walter, Duncker & Humblot: Berlin, 2018, 55 - 242 [108 , 109 )

43 Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, in: ders., Der Begriff des Politischen. Mit einer Rede über das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen, Duncker & Humblot: München/Leipzig, 1932, Berlin, 20159 mit Korr. aus C.S.s Handexemplar und einem Personenverzeichnis, 7 - 65

(31): „zum Begriff des Feindes gehört die im Bereich des Realen liegende Eventualität des Kampfes. […].“

Fassungen von 1927 und 1933: „Zum echten Begriff des Feindes gehört die reale Eventualität des Kampfes.“ / „Zum Begriff des Feindes gehört die im Bereich des Realen liegende Eventualität des Kampfes, das bedeutet eines Krieges.“ (ders., Der Begriff des Politischen. Synoptische Darstellung der Texte. Im Auftrag der Carl Schmitt-Gesellschaft herausgegeben von Marco Walter, Duncker & Humblot: Berlin, 2018, 55 - 242 [98 , 99 )

2015, 31: „Die Begriffe, Freund, Feind und Kampf erhalten ihren realen Sinn dadurch, dass sie insbesondere auf die reale Möglichkeit der physischen Tötung Bezug haben und behalten.“

2018, 100 (li. Sp., Z. 11 - 15), 101 (li. Sp., Z. 20 - 24): Die Fassungen von 1927 und 1933 stimmen mit der von 1932 überein.


Vgl. dazu

2015, 26: „Die Unterscheidung von Freund und Feind hat den Sinn den äussersten Intensitivitätsgrad einer Verbindung oder Trennung, einer Assoziation oder Dissoziation zu bezeichnen; […].“

2018, 78 (li.), 79 (li. Sp.): --- (Fassung von 1927) / „Die Unterscheidung von Freund und Feind bezeichnet die äusserste Intensität einer Verbindung oder Trennung.“ (Fassung von 1933)


2015, 28: „Der politische Gegensatz ist der intensivste und äusserste Gegensatz […].“

2018, 88: --- (Fassung von 1927) / „Der politische Gegensatz ist der intensivste und äusserste Gegensatz […].“ (Fassung von 1933)