Frage: Laut TSP wurden die Ermittlungen gegen den Betreiberkeis von linksunten wieder neu aufgenommen. Steht das im Zusammenhang mit dem Verfahren gegen Fabian Kienert von Radio Dreyeckland?
Linksunten und Radio Dreyeckland
Antwort: Das scheint in einem doppelten Zusammenhang mit dem Verfahren gegen Kienert zu stehen. Zum einen berichtet Radio Dreyeckland: „Am 12. Juni veröffentlichte das Oberlandesgericht Stuttgart […] den überraschenden Beschluss die Anklage [gegen Fabian Kienert] doch zuzulassen. Genau diesen Beschluss nahm die Karlsruher Staatsanwaltschaft nun zum Anlass, die erneuten Hausdurchsuchungen zu veranlassen. […]. Die Hausdurchsuchungen an diesem Mittwoch, den 2. August, fanden nun explizit mit Verweis auf den Beschluss des Oberlandesgerichts statt.“ (Hv. hinzugefügt) Ob dies zutreffend ist (wahrscheinlich erscheint es mir allerdings), konnte ich noch nicht überprüfen – ich habe zwar beim Amtsgericht Karlsruhe anonymisierte Abschriften der Durchsuchungsbeschlüsse angefordert, aber von dort noch keine Antwort erhalten. Zum anderen ist möglich, dass das jetzige Ermittlungsverfahren – je nachdem, wie es ausgeht – seinerseits Auswirkungen auf das Verfahren gegen Kienert hat:
- Sollte die Staatsanwaltschaft die Gerichte überzeugen können, dass der alte BetreiberInnenkreis weiterhin existiert und sich jedenfalls durch Hochladen des Archivs betätigt hat, denn wäre ein Einwand gegen die Anklage gegen Kienert weitgehend hinfällig – nämlich der Einwand, der BetreiberInnenkreis habe zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Fabian Kienerts Artikel nicht mehr existiert und habe daher auch nicht mehr unterstützt werden können. – Dann könnte dieser Einwand allenfalls noch in der Form vorgebracht werden, dass der alte BetreiberInnenkreis zwar in einem einmaligen Akt der Wiederbetätigung das Archiv hochgeladen habe, aber ca. 1 ½ Jahre später – zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Kienerts Artikel – trotzdem nicht mehr existierte und folglich nicht (mehr) unterstützt werden konnte.
- Sollte dagegen die Staatsanwaltschaft nicht beweisen können, dass die jetzt Beschuldigten bzw. (andere) Mitglieder des alten BetreiberInnenkreises das Archiv hochgeladen haben (also das Verfahren eingestellt werden bzw. mit Freisprüchen enden), dann würde es auch in Fabians Verfahren an der Fortexistenz eines ‚Unterstützungsobjekts' (= weiterhin existierenden Vereins) fehlen. Die Verteidigung von Fabian sollte daher meines Erachtens prüfen, ob es sinnvoll und aussichtsreich ist, eine Aussetzung des Verfahrens gegen Fabian zu beantragen, bis das neue Ermittlungsverfahren abgeschlossen ist.
Frage: Sollen denn die jetzigen Beschuldigten überhaupt Mitglieder des alten BetreiberInnenkreises gewesen sein?
Identischer BetreiberInnenkreis von alter open posting-Plattform und jetzigem Archiv?
Antwort: Radio Dreyeckland und die Autonome Antifa Freiburg berichten übereinstimmend, dass die jetzigen Betroffenen die Personen seien, deren Wohnungen schon 2017 im Zusammenhang mit der Bekanntmachung des linksunten-Verbotes durchsucht worden waren. Auch die Staatsanwaltschaft Karlsruhe antwortete auf meine Frage, „Sind die jetzigen Beschuldigten identisch mit den seinerzeitigen AdressatInnen der Verbotsverfügung, den KlägerInnen gegen das Verbot und den Beschuldigten des eingestellten § 129-Verfahrens?“, Folgendes: „Es handelt sich um ein neu eingeleitetes Verfahren gegen insgesamt fünf Beschuldigte. Es handelt sich hierbei um die damaligen Adressaten der Verbotsverfügung.“
Frage: Ist der Verdacht, dass die 5 Beschuldigten des neuen Verfahrens das Archiv hochgeladen haben, durch irgendwas untermauert?
Antwort: Diese Frage stellte ich der Staatsanwaltschaft Karlsruhe auch; diese drückte sich aber um eine Antwort. Im einzelnen fragte ich: „Aufgrund welcher Umstände gehen Sie davon aus, dass gerade die jetzigen Beschuldigten verdächtig sind, das Archiv online gestellt zu haben?
Insbesondere:
a) Ist Ihnen die IP-Adresse bekannt, von der aus der Upload erfolgt?
b) Verfügten Sie vor den Durchsuchungen über Erkenntnisse über ein – (abgesehen von den rechtlichen Schritten gegen das Verbot und die seinerzeitgen Durchsuchungen etc.) wie auch immer geartetes – weiteres Zusammenwirken der Beschuldigten?
aa) Falls ja: Wie wurden diese Erkenntnisse erlangt (ZeugInnenaussagen, Observationen, TKÜ1 etc.)?
bb) Falls nein: Haben Sie solche Erkenntnisse aufgrund der Durchsuchungen erlangt?
c) Oder beruht Ihr ‚Verdacht' allein auf der Vermutung (!), dass das Schreiben des Vorwortes und der Upload des Archivs wohl durch Mitglieder der alten Vereinigung erfolgt seien, weil Ihnen andere etwaig verdächtige Personen nicht bekannt sind?“ Darauf erhielt ich folgende Antwort: „Zu Ihren weiteren Fragen – etwa nach einzelnen Beweismitteln – können zum gegenwärtigen Zeitpunkt der andauernden Ermittlungen keine Angaben erfolgen, wofür ich um Verständnis bitte.“
Frage: Wenn die alten BetreiberInnen das Archiv hochgeladen haben, würde das als „organisatorischer Zusammenhalt“ ausreichen?
Wurde der organisatorische Zusammenhalt aufrechterhalten?
Antwort: Es muss sich weiterhin um einen „Verein“ im – weiten – Sinne des § 2 Vereinsgesetz der Bundesrepublik handeln – also um irgendeine Art von Vereinigung – „ohne Rücksicht auf die Rechtsform“ –, „zu der sich eine Mehrheit [= Mehrzahl] natürlicher oder juristischer Personen für längere Zeit zu einem gemeinsamen Zweck freiwillig zusammengeschlossen und einer organisierten Willensbildung unterworfen hat“.
- Ein einzelnes früheres Mitglied, das sich – hinsichtlich des Hochladens des Archivs (sofern es denn überhaupt ein Mitglied des früheren BetreiberInnenkreises war) – mit anderen früheren Mitgliedern nicht abgesprochen hat, wäre also kein (fortbestehender) Verein.
- Zwei Leute wären eine „Mehrheit“, aber es würde – so jedenfalls der Bundesgerichtshof in anderem Zusammenhang2 – an einer Möglichkeit der ‚Unterwerfung' unter eine organisierte Willensbildung fehlen: 1:1 Stimmen wären ein Patt und keine Unterwerfung.
- Bei drei Mitgliedern wäre dagegen eine organisierte Willensbildung mit ‚Unterwerfung' möglich: Zwei Mitglieder könnten das dritte überstimmen – und letzteres könnte sich fügen. – Und organisierte Willensbildung mit ‚Unterwerfung' wäre dann sicherlich auch schon der „organisatorische Zusammenhalt“.
- Fraglich ist
aber, ob noch ein Zusammenschluss „für längere Zeit“
bestand – und zwar dann, wenn es so wäre, dass
- die Vereinsmitglieder seit dem Verbot zunächst nichts anderes gemacht haben, als rechtliche Schritte gegen das Verbot und die damit verbundenen Durchsuchungen zu ergreifen (dies zu tun, ist legal) und
- dann in einem einmaligen Akt beschlossen haben, das Archiv wieder hochzuladen. –
- Der „gemeinsame Zweck“ wäre dagegen offensichtlich: nämlich das Archiv zur Verfügung zu stellen.
- Dass ein etwaig erfolgter Zusammenschluss „freiwillig“ erfolgt ist (und es keine erzwungenen Mitgliedschaften gibt), ist auch sehr wahrscheinlich.
Frage: In dem Artikel bei netzpolitik zu den jüngsten Durchsuchungen heisst es: „Dass hinter Linksunten Indymedia ein Verein stecken soll, bestritten die Betroffenen immer wieder.“ Es ist angesichts dessen nicht falsch (opportunistisch), sich auf den – wie Du selbst sagst: weiten – Vereinsbegriff des Vereinsgesetzes zu beziehen?
Antirepression, Gesetzesreform und/oder „Revolution“?
Antwort: Klar – statt sich auf die geltenden Gesetze zu beziehen, kann auch einfach Revolution gemacht werden. Nur gibt es zur Zeit nicht gerade lange Schlangen von Leuten, die die erste Reihe beim Barrikadenkampf übernehmen wollen – und die netzpolitik.org würde ich im Fall der Fälle allenfalls in der zweiten Reihe oder gar bloss bei den BürgerInnenkriegs-BerichterstatterInnen vermuten. Mit anderen Worten: Es lässt sich bezweifeln, dass der BetreiberInnenkreis von linksunten tatsächlich vereinsförmig organisiert war. (Das habe ich ja auch schon mehrfach getan – und zwar insbesondere unter Hinweis darauf, dass dort – nach Selbstdarstellung des BetreiberInnenkreises und vom BRD-Innenministerium unbestritten – nach Konsensprinzip entschieden wurde und mir dies nicht zum Begriff der ‚Unterwerfung' zu passen scheint.) Aber die Vereinsförmigkeit zu bestreiten, ohne sich auf die gesetzlichen Definitionsmerkmale des Vereins-Begriff im Vereinsgesetz zu beziehen, ist juristisch hohl – also beim gegebenen gesellschaftlichen und politischen Kräfteverhältnis fruchtlos. Es kann sich zwar (auch) mit braveren Mitteln als dem des Barrikadenkampfes für andere Gesetze / Gesetzesänderungen eingesetzt werden. Aber wenn die braveren Mittel Früchte tragen sollen, ist das Mindeste den geltenden Gesetzesinhalt zur Kenntnis zu nehmen und sich zu überlegen, inwiefern Änderungen erfolgen sollen, um die unerwünschten Effekte zu vermeiden.
Frage: An sich war ja das Verfahren gegen den Betreiberkreis schon abgeschlossen. Kann die Staatsanwaltschaft nun einfach ein neues Verfahren einleiten?
Antwort: Das ist kein Problem: Zum einen ging es in dem alten Verfahren um § 129 BRD-StGB – also um die Frage, ob der alte BetreiberInnenkreis ([auch] vor / unabhängig von dem Verbot) eine Kriminelle Vereinigung war. Jetzt geht es dagegen (jedenfalls vor allem) um § 85 StGB – also um die Frage, ob ein vereinsrechtlich verbotener Verein trotz des Verbots weiterhin existiert.4 Beide Arten von Vereinen/Vereinigungen sind zu unterscheiden. Zum anderen ist es – sofern keine Verjährungsfristen eingreifen – generell kein Problem, ein eingestelltes Ermittlungsverfahren bei neuen Erkenntnissen wiederaufleben zu lassen.
Frage: Worin besteht der Unterschied zwischen den beiden von Dir gerade genannten Vereinigungen?
Antwort: Die mitgliedschaftliche Betätigung in einer sog. Kriminellen Vereinigung, deren Unterstützung usw. ist auch ohne vereinsrechtliches Verbot strafbar. Die Strafbarkeit der mitgliedschaftlichen Betätigung in vereinsrechtlich verbotenen Vereinigungen setzt dagegen ein vorheriges Vereinsverbot voraus. Das vereinsrechtliche Verbot hat insofern Klarstellungs- bzw. Warnungs-Funktion. Eine solche vorhergehende Warnung wird für überflüssig gehalten, wenn es sich um Kriminelle Vereinigungen handelt.
Frage: Aber auch vereinsrechtliche Vereinsverbote können wegen Strafgesetz-Widerläufigkeit verfügt werden.5 – Wie passt das zusammen?
Antwort: Das passt insofern zusammen bzw. es besteht trotzdem insofern ein Unterschied, als nicht jede den Strafgesetzen zuwiderlaufenden Vereinigung auch eine Kriminelle Vereinigung ist. Kriminelle Vereinigungen sind nämlich gemäss der heutigen Fassung des § 129 Absatz 1 Satz 1 Strafgesetzbuch der BRD ausschliesslich solche Vereinigungen, „deren Zweck oder Tätigkeit auf die Begehung von Straftaten gerichtet ist, die im Höchstmass mit Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren bedroht sind“; und in § 129 Absatz 3 BRD-StGB finden sich drei weitere Einschränkungen: „Absatz 1 ist nicht anzuwenden,
1. wenn die Vereinigung eine politische Partei ist, die das Bundesverfassungsgericht nicht für verfassungswidrig erklärt hat,
2. wenn die Begehung von Straftaten nur ein Zweck oder eine Tätigkeit von untergeordneter Bedeutung ist oder
3. soweit die Zwecke oder die Tätigkeit der Vereinigung Straftaten nach den §§ 84 bis 87 betreffen.“ (https://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__129.html)
Frage: Was sagst Du dazu, dass in dem Artikel bei netzpolitik.org betont wird, dass ein statisches Archiv etwas anderes ist als ein dynamisches Nachrichtenportal, was im Prinzip von beliebigen Leuten benutzt werden konnte?
Antwort: Ja, da gibt es in der Tat einen Unterschied. Aber beides kann von den gleichen Leuten hochgeladen bzw. betrieben worden sein. Ob dem so ist und sich das beweisen lässt, ist der entscheidende Punkt für die Frage, ob der alte BetreiberInnenkreis noch existiert und sich weiterhin betätigt (hat) – von anderen Tätigkeiten des „Vereins“ ist ja eh nichts bekannt.
Frage: In dem Artikel von Christian Rath in der taz heisst es zu dem neuen Ermittlungsverfahren: „Das Ermittlungsverfahren ist einigermassen kurios, da das monierte Archiv schon seit April 2020 im Netz zugänglich ist. Und nachdem das letzte Ermittlungsverfahren gegen die fünf Personen erst vor einem Jahr ohne Ergebnis eingestellt wurde, ist unklar, warum die Beweislage nun zwölf Monate später besser sein soll.“ – Im gleichen Sinne wird David Werdermann von der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) in dem Artikel bei netzpolitik.org zitiert: „Nachdem das Oberlandesgericht die Anklage gegen den RDL-Journalisten doch noch zugelassen hat, ist die Staatsanwaltschaft anscheinend verzweifelt auf der Suche nach weiteren Beweismitteln für die Fortexistenz des verbotenen Vereins […]. Jedoch wurde schon das Verfahren wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung eingestellt, weil keine Beweise gefunden wurden. Warum sollte das jetzt anders sein?“ Nun wird auf rhetorische Fragen zwar keine Antwort erwartet – aber bist Du trotzdem in der Lage, eine Antwort auf die aufgeworfene Frage geben?
Antwort: Auch auf die Gefahr hin, mich unbeliebt zu machen, wage ich es, die zutreffende Antwort auszusprechen: Die Staatsanwaltschaft fand ja – nach eigener Darstellung – nicht keine Beweise für die Existenz einer Vereinigung. Die Staatsanwaltschaft meinte sehr wohl, ausreichende Beweis für die Existenz der Vereinigung und auch für eine Mitgliedschaft der Beschuldigten gefunden zu haben. Die Staatsanwaltschaft sah aber ein, dass kein hinreichender Tatverdacht bestand, dass es sich gerade um eine Kriminelle Vereinigung handelt6 (aber um diese Frage geht es in dem jetzigen Verfahren nicht! – oder nur als hypothetische Möglichkeit7). Bestand also jedenfalls bis zum Verbot eine Vereinigung (wenn auch keine Kriminelle), so ist zumindest möglich, dass sie sich ihrer Auflösung erfolgreich widersetzte und weiterbestand (und -besteht). Die alte Einstellung ist also durchaus nicht präjudiziell in Bezug auf das neue Ermittlungsverfahren.
Frage: Ein letztes Zitat aus den anderen Artikeln zu den neuen Durchsuchung – die Autonome Antifa Freiburg schreibt: „Nun hat der Staat fast genau sechs Jahre nach den ersten die zweiten linksunten-Razzien durchgeführt. Aber dieses Mal kamen sie nicht, um eine aktive Open Posting-Seite abzuschalten, sondern um die vermeintlichen ErstellerInnen eines Archivs der Bewegungen zu verfolgen, das von den Bewegungen gespiegelt wird – ganz sicher nicht nur von fünf Menschen. […]. Repression gegen Archive ist nicht nur verwerflich, sie ist auch ahistorisch. Das linksunten-Archiv dokumentiert beispielsweise die Anfangsjahre der AfD wie kein Zweites. Wer den Aufstieg der AfD verstehen will, muss linksunten lesen.“ Teilst Du das?
Archiv als „historisches Gedächtnis“?
Antwort: Ja, im Prinzip ist das zutreffend; ich hatte ja in Bezug auf das Verfahren gegen Fabian Kienert auch schon von einem „Ein Versuch, historisches Gedächtnis zu beseitigen“ gesprochen. Allerdings sollten gewisse Unterschiede beachtet werden:
- In dem Verfahren gegen Fabian geht es um eine blosse Verlinkung des Archivs – also eine blosse Quellenangabe bzw. einen blossen „elektronische[n] Querverweis“ (wie das OLG Stuttgart sagt; siehe FN 3).
- Im neuen Verfahren geht es weder darum, noch um eine Spiegelung (wovon in dem Artikel der Autonomen Antifa die Rede ist), sondern um die neu-bevorwortete (Wieder-)Veröffentlichung des Archivs angeblich durch den alten BetreiberInnenkreis.
- Das heisst: Das neue Verfahren richtet sich nicht gegen das Archiv als solches, sondern dagegen, dass der alte BetreiberInnenkreis (= „Verein“) angeblich weiterexistiert, sich angeblich weiterhin betätigt und angeblich weiterhin organisatorischen Zusammenhalt hat: Ein verbotener Verein darf halt gar nichts mehr – nicht nur keine Archive veröffentlichen, sondern nicht einmal existieren. Eben das bedeutet „Verbot“.
- Was die Spiegelung des Archives anbelangt, so ist aus dem gegen mich selbst deswegen geführten Ermittlungsverfahren immer noch keine Anklage geworden – bis Ende April 2025 hat die Staatsanwaltschaft noch Zeit; dann läuft die drei-jährige Verjährungsfrist (seitdem ich im April 2022 über das Ermittlungsverfahren informiert wurde) ab.
Frage: Und wie verhält es sich mit der Verjährung bei dem neuen Ermittlungsverfahren?
Antwort: Uneindeutig – da der (beweisbare) Sachverhalt unklar ist:
- Wurde das Archiv von anderen als dem alten BetreiberInnenkreis veröffentlicht, dann handelt es sich m.E. um gar keine Straftat, sondern um eine Dokumentation – so, wie die Veröffentlichung des Buches „das info“, der Broschüre „RAF – BRD“ und der Broschüre „Schwarze Texte“ keine Straftat darstellen8.
- Hinzukommt: Weder § 85 (Verstoss gegen ein Vereinigungsverbot) noch § 86 BRD-StGB (Verbreiten von Propagandamitteln verfassungswidriger und terroristischer Organisationen) kommt in Bezug auf die blosse Veröffentlichung des Archives in Betracht. Denn beide Paragraphen setzen eine bereits „unanfechtbar“ verbotene Vereinigung voraus; „unanfechtbar“ wurde das linksunten-Verbot aber erst durch das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 29.01.2020, das Archiv wurde aber einige Tage vorher veröffentlicht9. Es bedürfte also einer späteren Fortexistenz des „Vereins“ (mit organisatorischem Zusammenhalt / Betätigung); dafür kommt eventuell die Bezahlung von Webspace für das Archiv (siehe dazu meine obigen Ausführungen) in Betracht, sofern denn Archiv und Geld von dem alten BetreiberInnenkreis herrühren.
- Für die Zeit vor dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts kommt also – wenn überhaupt – allenfalls § 20 Vereinsgesetz in Betracht; dort beträgt die Höchststrafe aber ein Jahr. Daraus ergibt sich gemäss § 78 Absatz 3 Nr. 5 BRD-StGB eine Verjährungsfrist von drei Jahren. Wenn wir davon ausgehen, dass das neue Ermittlungsverfahren erst nach dem Beschluss des OLG Stuttgart vom 12.06.2023 eingeleitet wurde, dann war zu diesem Zeitpunkt die dreijährige Verjährungsfrist ab Veröffentlichung des Archivs Mitte Januar 2020 (und auch ab April 2020 – seitdem wird die alte linksunten-Adresse wieder genutzt) also schon abgelaufen.
- Gehen wir dagegen davon aus, dass der alte BetreiberInnenkreis auch noch nach dem 29.01.2020 existierte, organisatorischen Zusammenhalt hatte und sich betätigte (Beweis?), dann kommen die § 85 und 86 BRD-StGB prinzipiell in Betracht. Je nach Tatvarianten gelten dort Höchststrafen von drei bzw. fünf Jahren, woraus sich in beiden Fällen eine § 78 Absatz 3 Nr. 4 BRD-StGB eine Verjährungsfrist von fünf Jahren ergibt – die läuft also in jedem Fall noch.
Frage: Du hattest in dem letzten Interview von uns im ug-blättle ein Zitat von einem Juristen gebracht, wo Du im nachhinein einen Fehler von uns festgestellt hattest. Kannst Du das hier richtigstellen?
Antwort: Ja, es ging um folgendes Zitat von Steinsiek: „Im Rahmen von § 86 bedeutet ‚Verbreiten' – im Gegensatz zu den §§ 186, 187 […] – nicht jede Weitergabe oder Mitteilung eines Propagandamittels an einen anderen, sondern die mit der körperlichen Weitergabe der Schrift verbundene Tätigkeit, die darauf gerichtet ist, die Schrift ihrer Substanz nach einem grösseren Personenkreis zugänglich zu machen, wobei dieser nach Zahl und Individualität so gross sein muss, dass er für den Täter nicht mehr kontrollierbar ist.“
In der – veröffentlichten – Quellenangabe dazu hiess es unter anderem: „Berlin/Boston, 202313“. Dabei ging zum einen die Hochstellung der letzten beiden Ziffern verloren (es handelt es sich also um die 13. Auflage des fraglichen StGB-Kommentars). Zum anderen – und wichtiger – habe ich mich auch bei der vorstehenden Jahreszahl vertan: Der zitierte Band des Kommentars (es handelt es um einen umfangreichen Kommentar zum Strafgesetzbuch mit vielen Bänden) war nicht erst „2023“, sondern schon „2021“ erschienen. Dies ist nun deshalb wichtig, weil es Anfang 2021 auch zu einer Gesetzesänderung kam. Dadurch, dass ich mich mit dem Erscheinungsjahr vertan hatte, hatte ich auch nicht bemerkt, dass in der Auflage von 2021 die Gesetzesänderung noch nicht berücksichtigt ist.
Frage: Um was für eine Gesetzesänderung handelt es sich?
Antwort: Wichtig sind vor allem eine Änderung in Bezug auf dem Begriff „Propagandamittel“:
- § 86 Absatz 2 Strafgesetzbuch lautete bis dahin: „Propagandamittel im Sinne des Absatzes 1 sind nur solche Schriften (§ 11 Abs. 3), deren Inhalt gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung oder den Gedanken der Völkerverständigung gerichtet ist.“ Seit der Änderung lautete der Absatz (der inzwischen zu Absatz 3 geworden ist): „Propagandamittel im Sinne des Absatzes 1 ist nur ein solcher Inhalt (§ 11 Absatz 3), der gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung oder den Gedanken der Völkerverständigung gerichtet ist.“ (Siehe: https://web.archive.org/web/20230715121422/https://lexetius.de/StGB/86,3.)
- § 11 Absatz 3 Strafgesetzbuch lautete vor der Änderung: „Den Schriften stehen Ton- und Bildträger, Datenspeicher, Abbildungen und andere Darstellungen in denjenigen Vorschriften gleich, die auf diesen Absatz verweisen.“ Seitdem lautet der Absatz: „Inhalte im Sinne der Vorschriften, die auf diesen Absatz verweisen, sind solche, die in Schriften, auf Ton- oder Bildträgern, in Datenspeichern, Abbildungen oder anderen Verkörperungen enthalten sind oder auch unabhängig von einer Speicherung mittels Informations- oder Kommunikationstechnik übertragen werden.“ (Siehe: https://web.archive.org/web/20230713090919/https://lexetius.de/StGB/11,2)
Frage: Was folgt daraus – insbesondere in Bezug auf den Inhalt des Steinsiek-Zitates?
Verlinkung und Verbreitung im juristischen Sinne
Antwort: Daraus folgt zunächst einmal, dass „Propagandamittel“ nunmehr nicht mehr – wie Steinsiek aber zur alten Gesetzeslage noch zutreffend sagte – notwendigerweise verkörpert (gegenständlich) sein müssen. Trotzdem besteht weiterhin ein Unterschied zwischen § 86 BRD-StGB (Verbreiten von Propagandamitteln verfassungswidriger und terroristischer Organisationen) einerseits und §§ 186 (Üble Nachrede) und 187 (Verleumdung) BRD-StGB anderseits, worauf Steinsiek vor allem abstellte – und es hat sich auch nichts daran geändert, dass es nur in § 86 StGB um Propagandamittel mit gewissem Organisationsbezug10 geht.
Frage: Worin besteht der weiterhin bestehende Unterschied zwischen § 86 StGB einerseits und §§ 186, 187 StGB andererseits?
Antwort: Üble Nachreden und Verleumdungen können (unverändert) auch durch mündliche vis-a-vis-Äusserungen verbreitet werden. Speziell „Propagandamittel“ i.S.v. § 86 StGB und allgemeiner sog. „Inhalte“ i.S.v. § 11 Absatz 3 StGB können dagegen durch unverkörperte mündliche Äusserungen nur dadurch verbreitet werden, dass sie „mittels Informations- oder Kommunikationstechnik übertragen werden“. (Aus dem alten Schriften-Begriff waren unverkörperte Inhalte dagegen völlig ausgeschlossen.11)
Frage: Du hattest in unserem letzteren Gespräch erklärt, dass Verlinkung keine „Verbreitung“ sei. Im Kontext der Entdeckung der gerade besprochenen Fehldatierung (und der damit im Zusammenhang stehenden Gesetzesänderung) kamst Du ins Zweifeln, was das Verhältnis von Verlinkung und Verbreitung anbelangt. Kannst Du uns da den neuesten Stand der Dinge darlegen? Soweit ich weiss, hast du Dich sogar an die Autoren eines weiteren StGB-Kommentars gewandt. Ist da was bei rausgekommen?
Antwort: Zu letzterem: Erst einmal nur eine Nachricht aus dem Sommerurlaub, dass er sich nach seinem Urlaub um unser Problem kümmern wird. Zu ersterem: Ich habe die Sache noch nicht abschliessend durchdacht; jedenfalls ist die Sache (aufgrund der Ersetzung des Schriften- durch den Inhalts-Begriff und die damit verbundene Aufgabe [oder Relativierung] des Verkörperungs-Kriteriums) nicht mehr so eindeutig wie sie bis 2021 war. Trotzdem unterscheidet das Gesetz weiterhin zwischen „verbreiten“ und „zugänglich machen“. Ich tendiere daher weiterhin dazu zu sagen:
- Leute, die bestimmte „Inhalte“ ins internet stellen, machen sie zwar „zugänglich“, aber „verbreiten“ sie nicht (aktiv – vielmehr müssen Interessierte diese Inhalte erst selbst suchen bzw. sich ‚holen').
- Verlinken nun wiederum Dritte irgendwelche im internet vorhandenen Inhalte, so ist dies erst recht keine Verbreitung, sondern allenfalls Beihilfe zur Zugänglichmachung (genau genommen vielmehr: eine Beihilfe zum Finden) – wobei die Beihilfe zur Zugänglichmachung (bzw. zum Finden) selbstverständlich nur strafbar ist, wenn schon die Zugänglichmachung (bzw. das Finden) strafbar ist. Aber jedenfalls das Finden und Lesen ist nicht strafbar.
Fragen: Kommen wir noch mal zurück zu den Durchsuchungen am Mittwoch: Dass diese aktuellen Durchsuchungen aus dem Verfahren gegen Kienert herausgewachsen sind, dürfte ziemlich offensichtlich sein. Aber siehst Du darin auch eine Bestätigung der These von RDL, dass die Staatsanwaltschaft Karlsruhe eine „antilinke Agenda“13 verfolgt? Oder siehst Du darin einen ganz „normalen“ juristischen Vorgang, der eben bemüht ist, der geltenden Rechtslage Geltung zu verschaffen? Vielleicht ist das ja gerade das Perfide am bürgerlichen System – falls mir diese persönliche Bemerkung gestattet ist –, dass das Systemnotwendige wie der ‚Normalvollzug' erscheint und dadurch [ideologisch] nicht mehr (für die Masse) offensichtlich ist.
„Antilinke Agenda“ und/oder „konkrete Analyse der konkreten Situation“?
Antwort: Die These von der „antilinken Agenda“ der Staatsanwaltschaft scheint mir vom vorliegenden Beispiel gerade nicht bestätigt zu werden. Denn es kam ja nicht die Staatsanwaltschaft Karlsruhe auf die Idee, dass die (Wieder-)Veröffentlichung des Archivs auf einen Fortbestand des alten BetreiberInnenkreises hindeute, sondern sie wurde erst vom Oberlandesgericht Stuttgart mit der Nase auf diese Möglichkeit gestossen. Dies scheint mir auch der wahre Kern der vorhin besprochenen Frage von David Werdemann und Christian Rath zu sein, was denn aus dem jetzigen Verfahren gross anderes herauskommen soll, als aus dem alten Verfahren gegen dieselben fünf Beschuldigten: Das alte Verfahren wurde ja eingestellt, als das Archiv längst schon veröffentlicht war. Ausgehend von der Prämisse der Staatsanwaltschaft, dass die Beschuldigten zu dem alten BetreiberInnenkreis gehörten, hätte also schon damals nahegelegen zu untersuchen, ob, wenn denn schon nicht der Tatbestand des § 129 BRD-StGB (Kriminelle Vereinigung) verwirklicht wurde, nach dem Verbot zunächst der Tatbestand des § 20 Vereinsgesetz und dann – ab dem BVerwG-Urteil – der Tatbestand des § 85 StGB verwirklicht wurde. Dass Staatsanwaltschaft Graulich diese Möglichkeit übersah und allein auf § 129 StGB fixiert war und die Verwirklichung dessen Tatbestandes verneinte, scheint mir nun nicht gerade auf besonderen Verfolgungseifer hinzudeuten. Zu Deiner zweiten Frage („Oder siehst du darin einen ganz ‚normalen' juristischen Vorgang, der eben bemüht ist, der geltenden Rechtslage Geltung zu verschaffen?“): Zumindest mal die Frage aufzuwerfen, welche Person(en) das Archiv (wieder-)veröffentlicht haben und darin – je nachdem, welche Person(en) es waren – eventuell eine mitgliedschaftliche Betätigung im Rahmen des alten BetreiberInnenkreises zu sehen, scheint mir in der Tat ein normaler juristischer Vorgang zu sein. („Eventuell“ wegen der vorhin angesprochenen Feinheiten: Einzelaktion eines ehemaligen Mitgliedes [oder gar Aussenstehenden] versus Entscheidung des eventuell fortbestehenden Kollektivs; einmaliger Akt versus Fortbestand „auf längere Zeit“ usw.) Eine andere Frage ist allerdings, ob wirklich „zureichende tatsächliche Anhaltspunkte“ (§ 152 StPO14) dafür vorliegenden, dass die jetzt Beschuldigten und von den Durchsuchungen Betroffenen das Archiv hochgeladen haben. Dazu lässt sich wenig sagen, da wir die Durchsuchungsbeschlüsse (noch) nicht kennen. Und schliesslich zu Deinem dritten Punkt („das Systemnotwendige“): ‚Das System' wäre nun nicht gleich ins Schwanken geraten, wenn es das linksunten-Verbot nicht gegeben hätte, und es würde auch nicht ins Wanken geraten, wenn das Archiv und dessen Verlinkung geduldet würden. Auch stellt sich die Frage, was ‚das System' ist – Linke stellen sich darunter in der Regel irgendwie ‚den Kapitalismus' vor (ohne klare Vorstellungen vom Unterschied zwischen
- kapitalistischer Produktionsweise und
- räumlich-historisch konkreten Gesellschaftsformationen
Friedhelm Hase, „Bonn“ und „Weimar“ Bemerkungen zu der Entwicklung vom „okkasionellen“ zum „ideologischen“ Staatsschutz, in: Dieter Deiseroth / Friedhelm Hase / Karl-Heinz Ladeur (Hg.), Ordnungsmacht? Über das Verhältnis von Legalität, Konsens und Herrschaft, EVA: Frankfurt am Main, 1981, 69 - 84
sowie
Hartmut Geil, Berufsverbote und Staatsschutz oder: Wie das Bundesverfassungsgericht das Grundgesetz mit Leben erfüllt und die freiheitliche Ordnung aufrichtet, in: Das Argument H. 109, Mai/Juni 1978, 380 - 393.
Auch hier gilt also die ‚postmoderne' Einsicht Lenins, dass nicht die ‚grossen Erzählungen', sondern die „konkrete Analyse ganz bestimmter historischer Situationen“ das „Allerwichtigste“ am Marxismus ist (LW 31, 153 - 155 [153, 154]).