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Mit Recht Krieg - eine Rede des Bundespräsidenten zum Unternehmen Barbarossa

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Eine Rede des Bundespräsidenten zum Unternehmen Barbarossa Mit Recht Krieg

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Politik

Anlässlich des 80. Jahrestages des "Unternehmen Barbarossa" getauften Krieges, den Deutschland am 22. Juni 1941 gegen die damalige Sowjetunion begann, hielt der deutsche Bundespräsident qua Amt und Würde am 18. Juni im Deutsch-Russischen Museum Berlin-Karlshorst, eine zentrale Gedenkrede[1], die zugleich die Ausstellung “Dimensionen eines Verbrechens. Sowjetische Kriegsgefangene im Zweiten Weltkrieg” eröffnete.

Deutsche Soldaten marschieren neben einem Panzerspähwagen durch eine Ortschaft im Norden von Russland, Juni 1941.
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Deutsche Soldaten marschieren neben einem Panzerspähwagen durch eine Ortschaft im Norden von Russland, Juni 1941. Foto: image_author

Datum 22. Juni 2021
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1. Eine staatlich inszenierte Rede

Protest gegen diesen Ort der Gedenkrede legte die Ukraine durch ihren Botschafter Andrij Melnyk ein, der verlautbarte, die Entscheidung für diesen Ort stelle für die Ukraine einen befremdlichen Affront dar. Des ungeachtet findet die Gedenkrede sogleich grosse Beachtung und Anerkennung: "Eine ausgesprochen gute, zukunftsweisende Rede... Bitte weitersagen!" Um was für eine Rede es sich näher betrachtet handelt, ist andererseits im Titel der Ausstellung, die die Rede eröffnet, bereits angezeigt.

2. Die Erzählung und Bebilderung des verbrecherisch-unfassbaren Grauens

Über das tatsächliche Warum und Wozu, über Grund, Zweck, Interesse und politische Ziel des Unternehmen Barbarossa klärt die Rede den Leser nicht auf. Auch nicht darüber, warum die damaligen Regierungsverantwortlichen in eins mit der kommandobefugten Generalität und Heeresleitung mehrheitlich der Meinung waren, auf das sogenannte "Humanitäre Völkerrecht" in diesem Krieg explizit zu verzichten, es ausser Kraft zu setzen und das lebendige "arisch-nordisch-germanische" Menschenmaterial in diesem Krieg von jeder moralischen Hemmung zu entbinden.

Vom Zynismus des Humanitären Völkerrechts, demnach im gegenseitigen vernichtenden Abschlachten, Krieg genannt, Humanität walten soll und zwar um "die Leiden des Krieges zu mildern, soweit es die militärischen Interessen gestatten" (Haager Landkriegsordnung 1899 und 1907), sollten auch die zukünftigen Siedler und Wehrbauern im zu annektierenden Eurasischen Raum befreit sein. Dementsprechend sah die Kriegsführung im Osten aus, einschliesslich der Vernichtung der Menschen jüdischer Herkunft.

Anstelle einer irgendwie gearteten Aufklärung über das Warum und Wozu des Unternehmen Barbarossa und der Besonderheit oder "Singularität" dieses Krieges bebildert die Gedenkrede in ihrer Erzählung pathetisch und so hautnah wie möglich die damals erwünschten Folgen dieses Krieges: Bebilderung am Schicksal des russischen 19-jährigen Soldaten, Kriegsgefangenen und 2020 verstorbenen und mit dem Bundesverdienstkreuz geehrten Boris Antonovitsch Popov; Bebilderung an den Hungerplänen gegenüber den Millionen Menschen in der damaligen Sowjetunion; Bebilderung einschliesslich des "Grauen" und "Unvorstellbaren" der 900 Tage anhaltenden Hungerblockade von Leningrad; Bebilderung anhand der heute offensichtlich "unfassbaren" Sortierung der Menschen und Völkerschaften in "Untermenschen"; Bebilderung darin, dass das damalige Deutschland in diesem Krieg allem Anschein nach nichts anderes im Sinn hatte, als zu hassen, als verhungern lassen, erschlagen, töten, morden: "Morden in Etappen" und "totale Vernichtung".

Insgesamt: Das Unternehmen Barbarossa offenbar nichts als ein purer unpolitischer, kollektiv geteilter privater, nicht mehr nachvollziehbarer Wahn. Das "Pathos dieser emotionalen Beeinflussung" (M.Weber, 1921) durch die Rede kulminiert zielstrebig in der politisch beabsichtigten moralischen Verurteilung und Verachtung des damaligen Deutschland und seines politischen Handelns. Vehikel der moralischen Verurteilung und Verachtung ist die Erzeugung gänzlicher Betroffenheit des Gewissens, und zwar des "deutschen (sic!) Gewissens." Das soll sich durch seine Betroffenheit in bestimmter Weise erinnern und sich zu Höherem befreien.

3. Das absolut Andere und das gute Gewissen der absoluten Distanz

Das in der antiaufklärerischen Bilder-Erzählung schaurig-hautnah dargestellte damalige Deutschland oder deutsche Wir ist mit der moralischen Betroffenheit, die verurteilen und verachten soll, heruntergebracht auf eine unbegreifliche, scheusalhafte Mördergesellschaft, die in ihrer zweck- und sinnlosen "mörderischen Barbarei" und mit Plänen wie dem Generalplan Ost anscheinend die "Unmenschlichkeit zum Prinzip" erhob. Das kann nur ein Deutschland gewesen sein als das "schlimmste Regime, das diesen Planeten je geschändet hat".

Ein deutsches Wir, das als blankes Verbrechertum mit seinem "verbrecherischen" Krieg das absolut Andere, die absolute Distanz zum gegenwärtigen deutschen Wir darstellt. So ergibt sich gleichsam wie von selbst, dass alle moralisch bebilderte, absolute Negativität des damaligen deutschen Wir zugleich nichts anderes ist und zu nichts anderem dient als zum grenzenlosen Selbstlob des heutigen deutschen Wir. Einem Wir, in dem alle moralische Negativität auf wundersame Weise in das moralisch Gute verwandelt ist. Ganz gemäss Hegels Einsicht: "Das Gute und das Böse sind untrennbar." (Hegel, 1821) Es bedarf nunmehr noch nur des "deutschen Gewissens" und seiner längst fälligen "Anerkennung durch Erinnerung", dass es nicht zuletzt die Rote Armee war die geholfen hat, alle moralische Negativität des damaligen deutschen Wir in das heutige, moralisch unbestreitbar gute und nur dem Guten verpflichtete deutsche Wir zu verwandeln.

Für diese moralische Distanz, die die Rede feierlich in Szene setzt und öffentlich kultiviert, ist heute sogar der Roten Armee von damals zu danken – und dabei weiss sich die Rede ganz im Einklang mit der gegenwärtigen politischen Realität: Im Einklang mit Sanktionen, mit NATO-Einkreisungsplänen und -taten gegenüber der heutigen Roten Armee und gegenüber der, wie es in NATO-Sprache heisst, "systemischen Herausforderung", die das bedrohliche Russland und das moralisch zu verurteilende und zu verachtende, böse "System Putin" offensichtlich darstellt. Dank der absoluten moralischen Distanz des heutigen deutschen Wir zum Damaligen, ist alles politische Tun des heutigen deutschen Wir im Verbund mit der NATO, einschliesslich kriegsvorbereitender Aufrüstung und Grossmanöver in unmittelbarer Nähe der russischen Grenze und Einflussgebiete je schon mit dem Siegel des Guten und des unerschütterlich guten Gewissens versehen.

4. Mit Recht Krieg - Nie wieder ein solcher Krieg!

Da aber, heute wie damals, an Russland einfach kein Weg vorbeiführt, eine kriegerische Auseinandersetzung mit der heutigen Roten Armee andererseits einige Unwägbarkeiten in sich birgt, empfiehlt sich vorerst und wenn möglich überhaupt das "Geschenk der Versöhnung", das die Austragung der wirklichen Rivalität und Feindschaft im Verbund mit der NATO 2030 hintanstellt: "Lassen Sie und lassen wir nicht zu, dass wir einander von neuem als Feinde begegnen."

Anstatt einer offenbar jederzeit möglichen "neuen Begegnung als Feinde" und einem "Neuen entzweien" eröffnet das "Geschenk der Versöhnung" diese schöne Perspektive: "Aus dem Geschenk der Versöhnung erwächst für Deutschland grosse Verantwortung. Wir wollen und wir müssen alles tun, um Völkerrecht und territoriale Integrität auf diesem Kontinent zu schützen, und für den Frieden mit und zwischen den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion zu arbeiten."

Sollte es Deutschland und dem in der NATO versammelten Westen jedoch nicht gelingen, in ihrer "grossen" Verantwortung für "unseren (sic!) Kontinent" "den Frieden mit und zwischen (sic!) den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion zu bewahren, dann gilt die leider unvermeidbare Konsequenz: "Jeder Krieg bringt Verheerung, Tod und Leid." Allerdings soll dieser zukünftige Krieg sich dann ganz in den Bahnen des Rechts und des Humanitären Völkerrechts bewegen: In Vernichtungsmethoden, die völkerrechtlich anerkannt und erlaubt sind, "soweit es die militärischen Interessen gestatten." (Haager Landkriegsordnung 1899 und 1907)

Ein demgegenüber "verbrecherischer" Krieg, der gleich von Anbeginn an erklärt, sich unerlaubter Vernichtungsmethoden zu bedienen, damit die militärischen Interessen und Handlungen zum Sieg führen, soll der ins Auge gefasste, mögliche neue Krieg mit Russland diesmal nicht sein. Deshalb ganz unmissverständlich und frank und frei: "Nie wieder ein solcher Krieg!"

5. Unternehmen Barbarossa - eine kurze Klarstellung

Um Deutschland zur Weltmacht zu führen, hat Hitler in seiner Funktion als der damalige oberste Regierungsverantwortliche darauf bestanden, das sei nur möglich mittels Ausweitung des eigenen Staatsterroriums im Eurasischen Raum und des zukünftig auch darauf lebenden deutschen Volkes. Dass dieses Unternehmen Krieg bedeutet, hat Hitler in "Mein Kampf" und nicht nur da in aller Offenheit erklärt. Dass dieser Krieg nichts Verbrecherisches an sich hat, da der abstrakte Zweck, nur ganz unbestimmt „Verbrecherisches“ oder das Böse zu wollen gegenüber dem Ziel, Deutschland zur Weltmacht zu führen, lächerlich ist, das war für das damalige deutsche Selbstbewusstsein, von wenigen Ausnahmen abgesehen, keine Frage.

So verstand und empfand das damalige deutsche Wir den ins Auge gefassten Krieg als „gerechten“ Krieg (bellum justum). Unter Inanspruchnahme des völkerrechtlich anerkannten Rechts zum Krieg (jus ad bellum) und im Selbstgefühl, das Gute und nur das Gute für Deutschland zu tun, haben die damaligen Regierungsverantwortlichen und mehrheitlich die kommandobefugte Generalität und Heeresleitung sowie die Ministerien und die Bürokratie mit gutem Gewissen das humanitäre und (Kriegs-) Völkerrecht, das jus in bello, für diesen Krieg einschliesslich der Vernichtung der Menschen jüdischer Herkunft explizit ausser Kraft gesetzt. Denn es hätte womöglich den Erfolg des Unternehmen Barbarossa und damit Deutschlands Weg zur zukünftigen Weltmacht infrage gestellt.

Dieses recht gute Gewissen erklärt auch das bekannte Phänomen, dass die KZ-Schergen tagsüber die Vernichtung und Ausrottung betrieben, um es sich abends mit "Goethe, Schiller, Bach und Beethoven" gemütlich zu machen - ganz im Einklang mit ihrem Selbstbewusstsein, das es weit von sich weisen würde, es "schände alle Zivilisation, alle Grundsätze der Humanität und des Rechts." Die Beantwortung der seit "Generation um Generation aufs Neue" gestellten, angeblich so "quälende(n) Frage: Wie konnte es dazu kommen?" ist also keineswegs so schwierig zu beantworten.

Manfred Henle