1. Heute
Inmitten des Corona-pandemisch verseuchten Standort Deutschland; inmitten der durch das Virus ausgelösten Bedrohung oder Zerstörung der Existenz von Tausenden und Abertausenden, vornehmlich des Heeres der Mittel- und Eigentumslosen, deren Leben und Überleben davon abhängt, sich ihr tägliches Brot durch lohnabhängigen Dienst an gewinnträchtigem, fremden Eigentum zu sichern; inmitten derer, die im breitgefächerten Niedrigstlohnsektor sich verdingen, in trostlos-ghettoähnlichen Wohnbezirken hausen oder in den Flüchtlingslagern zusammengepfercht in besonderer Weise der Pandemie schutzlos ausgeliefert sind; inmitten jener, die im durchseuchten Standort Deutschland bereits zu Tausenden einem dem Standortinteresse subsumierten Gesundheitssystem zum Opfer gefallen sind; inmitten einer von Verschwörungsgläubigen unterstützten, um sich greifenden Protestbewegung, die vom politischen Verwalter des Ganzen die Rückkehr zu den vorpandemischen Standortbedingungen fordert, die erste Ursache dafür sind, dass Sars-CoV2 mit seiner infektiösen Unparteilichkeit in seinen Wirkungen äussert parteiisch zu Werke geht und jenseits irgendeiner Voreingenommenheit dies offenlegt: Dass all diese Bewohner des Standort Deutschland den Folgen der Infektion in ganz anderer Weise ausgeliefert sind, als die ökonomisch und politisch privilegierten Mitbewohner dieses Standortes; dass Sars-CoV2 in seiner infektiösen Unparteilichkeit vor aller Augen darlegt, wie es bestellt ist um Reichtum, Armut, Krankheit und Tod im Standort Deutschland.Inmitten all dessen ist der Bundespräsident hingegen so frei, sich am 8. Mai 2020 in einer Rede an alle Infizierte und Nichtinfizierte quer durch alle Lager und gesellschaftliche Klassen im Standort Deutschland, als Land, als Nation gefasst, zu wenden. Es muss sich um etwas Grosses, etwas ganz Bedeutsames handeln, dass der gegenwärtige Bundespräsident an diesem so besonders ausgewählten Tag sich mit einer Rede an alle Mitglieder der virusdurchseuchte Nation richtet.
Was ist es, dass der 8. Mai seit 76 Jahren einer solch öffentlich inszenierten Anteilnahme und offenbar unerschütterlichen, sogenannten "Erinnerungskultur" für würdig befunden wird? Es lohnt sich, diese Rede und die Reden seiner Vorgänger an diesem so bedeutungsschwangeren Tag einer Untersuchung zu unterziehen.
2. Die lange kurze Geschichte eines Weckrufs
In seiner am 8. Mai 2020 vorgetragenen Rede ruft der Bundespräsident alle zur Erinnerung an ein als geschichtsträchtig gehandeltes Kalenderdatum auf: "Heute vor 75 Jahren ist in Europa der Zweite Weltkrieg zu Ende gegangen."1 Er ist nicht der Erste, der die als Volk zusammengefassten Bewohner des Landes zur Erinnerung an den 8. Mai 1945 aufruft. Vor ihm die ganze Ahnenreihe von Bundespräsidenten, Bundeskanzlern und der Bundeskanzlerin bis hin zum Bundespräsidenten der heute virusverseuchten Nation. Den richtungsweisenden Grundstein zu diesem Erinnerungsweckruf hat Theodor Heuss als Mitglied des Parlamentarischen Rates am 8. Mai 1949 bei der Verkündung des Grundgesetzes gelegt mit den Worten:Im Grunde genommen bleibt dieser 8. Mai 1945 die tragischste und fragwürdigste Paradoxie der Geschichte für jeden von uns. Warum denn? Weil wir erlöst und vernichtet in einem gewesen sind.2
In souveräner Selbstermächtigung nimmt der erste Bundespräsident des Nachkriegsdeutschlands (West), Theodor Heuss, in Anspruch, "für jeden von uns" zu sprechen, gleichgültig demgegenüber, ob "jeder von uns" seine Einwilligung dazu gegeben hat, der spätere Bundespräsident möge für "jeden von uns" am 8. Mai 1949 sprechen. In dieser anspruchsvollen Selbstermächtigung ist jeder Einzelne als Mitglied eines Kollektivs gedacht, eines "Wir"-Kollektivs, wo immer der Einzelne sich innerhalb der gesellschaftlichen Hierarchie befindet. Es soll jeder Einzelne und das Kollektiv als Ganzes sich an das Datum des 8. Mai 1945 erinnern. Sich erinnern in einer bestimmten Weise des Sich-Erinnerns - in
der von Theodor Heuss konstruierten Weise des Sich-Erinnerns: Paradoxie-Tragik-Erlösung-Vernichtung, und das alles "in einem". So sollen der Einzelne und das Kollektiv den 8. Mai 1945, sowie die Geschichte, die " Vergangenheit" die ihm vorherging, erinnern und im individuellen wie im kollektiven Gedächtnis gegen das Vergessen dieser Sichtweise aufbewahren und weitergeben.
Diese mit der Antike, mit entsprechender Literatur, mit jüdisch-christlicher Erlösungsreligion und mit dem Vaterunser konstruierte Sichtweise des 8. Mai 1945 will mit der schlichten Rekonstruktion und Darlegung der historischen Wirklichkeit und Vergangenheit, wie sie war, nichts zu tun haben. Geltend macht sie vielmehr, sie sei die wahre Erinnerung und Betrachtungsweise. Eine Konstruktion und Rekonstruktion die beansprucht, die einzig authentische, legitime und für alle verbindliche historische Erinnerung eines vergangenen Zeitabschnittes in der jüngeren Geschichte zu sein.
Das Pathos und die verklärende Unbestimmtheit, mit denen sich diese Erinnerung umgibt, erweist, dass sie denn auch nicht den Einzelnen am 8.Mai 1945 im Auge hat, genauso wenig irgendeinen der 50 Millionen Toten, die die sogenannte "Vergangenheit" zwischen 1933-1945 auf den Schlachtfeldern, in den Trümmerwüsten und in den Konzentrationslagern aufgehäuft hat. Dem grossen Ganzen gilt das Pathos, das den Einzelnen und die Toten in den Dienst nimmt, sich auf sie beruft, um das grosse Ganze und seine "tragische" Geschichte zu würdigen und über die Schlachtfelder, Trümmer und Gräber hinaus zu erheben. So musste Theodor Heuss das grosse Ganze, dem in offenbar schicksalhafter, unschuldiger oder schuldiger Weise Paradoxie, Tragik, Vernichtung und Erlösung widerfuhr, gar nicht explizit erwähnen. "Für jeden von uns" soll von nun an gelten, dass am 8. Mai 1945 das grosse Ganze auf paradoxe und tragische Weise das bedeutsamste Opfer der Vergangenheit zwischen 1933-1945 ist und sich im selben Atemzug die offenbar ebenso bedeutsame Frage aufdrängt, was mit dem grossen Ganzen in Zukunft denn geschehen soll.
Über alle politische Stimmungslagen, Parteigrenzen und Regierungswechsel hinweg hat sich dieser eine, dieser mit sich ganz identische, pathetische Erinnerungsweckruf erhalten. So scheint dieser Erinnerungsweckruf bis auf den heutigen Tag wider und wider in allen Erinnerungsreden: in der Erinnerungsrede etwa eines Richard von Weizsäcker 1985 gleichermassen, wie in der Rede des gegenwärtigen Bundespräsidenten vom 8. Mai 2020.
Das im Erinnerungsweckruf durch Theodor Heuss dem Vaterunser entlehnte, auf die Vergangenheit zwischen 1933-1945 und auf den 8. Mai 1945 übertragene Wort von der Erlösung des grossen Ganzen, ist richtungsweisend für das Selbstverständnis, für das Selbstbild und für die Selbstdarstellung des grossen Ganzen: Zunächst im Nachkriegsdeutschland (West) geltend, schliesslich im Gesamtdeutschland bis auf heute. Die beanspruchte Erlösungsidee ist dabei sprichwörtlichen gemeint: "erlöse uns von dem Bösen".3
Diese von Theodor Heuss ins Leben gerufene Erlösungsidee kennzeichnet die "Erinnerungskultur"4, die das grosse Ganze von der Vergangenheit zwischen 1933-1945 frei machen will. Denn offenbar hat diese Vergangenheit im 8. Mai 1945, in der angeblichen "Vernichtung" des grossen Ganzen gemündet. Doch glücklicherweise wohnt der Erlösungsidee die Vorstellung inne, dass die Erlösung des grossen Ganzen vom "Bösen", dem das grosse Ganze schicksalhaft unschuldig oder schuldig verfiel, in die Zukunft blickend einen Abschluss, ein Ende des Bösen findet, finden muss: Ein Akt der Befreiung, den die Erlösung des grossen Ganzen und "für jeden von uns" verlangt. So ist die pathetische Erinnerung Sorge um das zukünftige Wohl und Wehe des grossen Ganzen; und, kaum geäussert, ist sie schon über den 8. Mai 1945 und über die Zeit zwischen 1933-1945 längst hinaus. Andererseits: Eine offenbar gestern, wie heute und morgen kaum endende Aufgabe, Forderung und Herausforderung - nach Innen wie nach Aussen.
Dass sich auch die AfD diesem gleichsam zeitlosen Erinnerungsweckruf an den 8.Mai 1945 anschliessen kann, ohne seinen höheren Sinn, ohne seine höhere Weihe zu verletzten, das ist dem Erinnerungsweckruf in seiner Sorge um das zukünftige Wohl und Wehe des grossen Ganzen von Anbeginn eingegraben. Selbst dann, da die AfD diesem Erinnerungsweckruf eine andere Nuance verleiht: In kongenialer Einmütigkeit mit dem Erinnerungsweckruf und seiner Erzählung von der "Tragik" des grossen Ganzen und seiner "Erlösung" vom Bösen, rechtfertigt die Erlösung es aber für die AfD, wie für ihre geistesverwandten Vorgänger nach 1945 nicht, den 8.Mai 1945 als einen Tag der "Befreiung" zu feiern.5
Der von Theodor Heuss ins Leben gerufene Erinnerungsweckruf blickt auf eine lange, auf eine über nunmehr 76-jährige Geschichte zurück, die bis auf den heutigen Tag immer und immer wieder in den 8.Mai-Reden fortgeschrieben wird. Dem Geist, der sinngebenden Idee nach, hat dieser Erinnerungsweckruf eine ungemein kurze Geschichte. Es ist ein einziges Wort, ein einziger Gedanke, eine einfache, pur national-moralische Erzählung über "Paradoxie und Tragödie" des unglücklichen grossen Ganzen. Unter geschulter Anleitung und Einübung durch dazu Berufene hat sich dieser Erinnerungsweckruf mit seiner eigentümlichen Betrachtungsweise der "unseligen" Vergangenheit in das individuelle und kollektive Gedächtnis des Standort Deutschland eingegraben, wo nicht eingebrannt.
Etwas anderes ist es, die zutage liegende Vergangenheit zwischen 1933-1945, die nichts als "das Böse" sein soll, schlicht historisch zu betrachten und in Erinnerung zu rufen. Eine historisch-rekonstruktive Gegen-Erinnerung, Gegen-Erzählung oder Gegen-Geschichte, die möglicherweise auch die Frage klären kann, warum der von Theodor Heuss ins Leben gerufene Erinnerungsweckruf mit der Idee der erlösenden Befreiung des grossen Ganzen, erfolgreich die verbindlichen Leitlinie der Selbstbetrachtung und Selbstdarstellung des offenbar absolut "neuen" Deutschland ab 8. Mai 1945 bis auf heute bildet. Wie also kam es zum 8. Mai 1945 und zum Bösen, von dem die Nation sich zu erlösen hat?
3. Kein deutscher Platz an der Sonne - eine andere Erinnerung
Aber allerdings sind wir der Ansicht, dass es sich nicht empfiehlt, Deutschland in zukunftsreichen Ländern von vornherein auszuschliessen vom Mitbewerb anderer Völker. (Bravo!)... Die Zeiten, wo der Deutsche dem einen seiner Nachbarn die Erde überliess, dem anderen das Meer und sich selbst den Himmel reservierte, wo die reine Doktrin thront (Heiterkeit – Bravo!) – diese Zeiten sind vorüber...(Bravo!)Mit einem Worte: wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne...(Bravo!) ...werden wir bestrebt sein, getreu den Überlieferungen der deutschen Politik, ohne unnötige Schärfe, aber auch ohne Schwäche unsere Rechte und unsere Interessen zu wahren. (Lebhafter Beifall.) (Bernhard Freiherr von Bülow, 6.Dezember 1897)6
Diese Überzeugung war bei den Regierungsverantwortlichen des wilhelminisch-kaiserlich geführten und verwalteten Deutschland längst herangereift: Mit allen zu Gebote stehenden Mitteln haben die kaiserlichen Reichs- und Staatsführer das deutsche grosse Ganze zu einem weltmarktkonkurrenzfähigen Kapitalstandort hergerichtet, dessen Reichtumsakkumulation gebietet, dass seinem Zugriff auf die Reichtumsquellen und Bevölkerungen fremder, "zukunftsreicher Länder" (von Bülow) freie Bahn geschaffen wird. Aus dieser Überzeugung heraus haben die berufenen politischen Sachwalter des wilhelminisch-kaiserlichen Kapitalstandortes die daraus erwachsenen Ansprüche an die eigene Nation zugleich an die Verwalter und Souveräne anderer Nationen adressiert als "unsere Rechte und Interessen".
Diese unsere Rechte und Interessen sind "ohne unnötige (sic!) Schärfe", das heisst: "ohne Schwäche" geltend zu machen. Dass diesem Geltendmachen "unserer Rechte und Interessen" andere Nationen im Wege stehen, die längst den Globus erobert haben und weltumspannend ihre Interessen als Hausherren-Rechte auf alles und über jeden Erdenbewohner praktizieren, nährte und beförderte die Unzufriedenheit und Kritik der Regierungsverantwortlichen des wilhelminisch-kaiserlichen Standort Deutschland.
Denn nach ökonomischem Reichtum und militärischen Gewaltmitteln bemessen, war das deutsche grosse Ganze ja längst zu einer politischen Macht herangewachsen, die es sich leisten konnte und leisten wollte, ihre in Rechte und Rechtsansprüche übersetzten ökonomischen und politischen Interessen gegenüber den damaligen Hausherren der Welt in Anschlag zu bringen. Ihnen gegenüber war in aller Deutlichkeit klar zu machen, dass sie der Forderung, dem "Verlangen" (von Bülow) nach einem deutschen "Platz an der Sonne" in der Ausübung des Hausherren-Rechtes über die Kontinente samt Völkerschaften nachzugeben hatten.
Ihre selbstbewusste Entschlossenheit, ein von den damaligen Hausherren der Welt anerkanntes und respektiertes Mitspracherecht in der Ausübung der Hausherrengewalt über den Globus nicht nur zu fordern, sondern auch durchzusetzen, kleideten die wilhelminisch-kaiserlichen Regierungsverantwortlichen in die unmissverständliche Rede:
"Die Zeiten", da dem deutschen grossen Ganzen kein nach eigenem Urteil geo- und weltpolitisch massgebliches Mitspracherecht in der Ausübung globaler, ökonomischer, militärischer und politischer Hausherrengewalt von den herrschenden Weltmächte zuerkannt wird, "diese Zeiten sind vorüber" (von Bülow).
Die politischen Entscheidungsträger des deutschen Standortes der damaligen Zeit trugen den Anspruch auf ein geo- und weltpolitisches Mitspracherecht auf der höchsten Ebene des "Mitbewerbs anderer Völker" (von Bülow) vor: auf der Ebene der Staatenkonkurrenz von Welt-Mächten, die keine Grossmacht-, sondern Welt-Politik, Weltpolitik als globales Hausherrenrecht betrieben, weil ihre Reichtumsakkumulation und ihre darauf gegründeten Gewaltmittel ihnen das erlaubten. Eingedenk dessen und im Anspruch, "unsere Interessen und Rechte" (von Bülow) auf der Ebene konkurrierender Weltmächte geltend zu machen, ist ein deutscher "Griff nach der Weltmacht"7 keine Frage. Nur dann ist dem wilhelminisch-kaiserlichen Kapitalstandort Deutschland eine gewinnbringende Zukunft gesichert, wenn ihm eine deutschfarbene Weltmacht, die über ein geo- und weltpolitisches Mitspracherecht in der Ausübung weltweiter Hausherrengewalt verfügt, den Weg gegen alle Konkurrenten bahnt.
4. Krieg - was denn sonst?
Dass die Konkurrenten, denen die deutsche Herausforderung galt, von sich aus keinen Anlass sehen, einem ihnen womöglich ebenbürtigen oder in naher Zukunft gar überlegenen Konkurrenten Raum zu geben, davon gingen die politischen Sachwalter des seit Bismarck zu einem grossen Ganzen vereinigten Deutschland aus. Im Bewusstsein dessen, was Konkurrenz ist und was es heisst, konkurrierende Weltmächte herauszufordern, sowie in der Klarheit darüber, dass die Gewalt Wesensmoment der Politik ist, zumal einer Politik als Weltpolitik, haben die politischen Entscheidungsträger des damaligen Deutschland ihre nationalen Gewaltmittel dem hohen Zweck entsprechend vorbereitet und geschärft.In allerlei generalstabsmässigen und strategischen Vorüberlegungen, Texten und Reden zum in jedem Fall anvisierten "kommenden Krieg"8, dokumentierten die politischen Sachwalter des deutschen grossen Ganzen dies: "ohne Schwäche" (von Bülow) auf den als Rechte und Rechtsansprüche formulierten deutschen Interessen, die auch die Idee eines unter deutscher Führung stehendes (Mittel-) Europa nach dem Sieg einschloss, gegen die damaligen Weltmachtkonkurrenten so lange zu bestehen, bis diese in zufriedenstellender Weise dem deutschen Weltmachtkonkurrenten einen Platz an der Sonne in der Ausübung des Hausherrenrechts über den Rest der Welt samt Völkerschaften zuerkennen und faktisch auch einräumen. Die Weltmachtkonkurrenten ihrerseits kannten keinen vernünftigen Grund, ein deutsches Recht auf Erfolg in der Standort-, Weltmarkt- und Weltmachtkonkurrenz widerspruchslos hinzunehmen und schärften ebenfalls die ihnen zur Verfügung stehenden Zerstörungs- und Vernichtungsmittel, die sie zum Zweck ihres Hausherrenrechts über die Welt samt Völkerschaften schon hatten. Und alle politischen Souveräne taten das ihre, um in der Zeit des Friedens die Zustimmung derer zu gewinnen, die in den "kommenden Krieg" (Fritz Fischer) geschickt, das heisst befohlen werden, um den Sieg des eigenen grossen Ganzen zu erringen - koste es was es wolle.
Diese im Frieden bewerkstelligte Mobilisierung ihrer staatsbürgerlichen Massen ist allen politischen Souveränen so glänzend gelungen, dass die Staatsbürgermassen in ihrem falschen, das heisst staatsbürgerlichen, also staatstreuen Bewusstsein, das kommende Gemetzel, das ihre Regierungsverantwortlichen für sie vorsahen, als notwendig und richtig betrachteten.
So bedurfte es für das wilhelminisch-kaiserliche grosse Ganze, wie immer, wenn Staaten zum politischen Mittel der maximalen Gewaltaustragung greifen, nur eines zufälligen, herbeigeführten oder erdichteten Anlasses, um den präemptiv-antizipatorischen Verteidigungskrieg der eigenen Interessen und des durch die Konkurrenten nicht zuerkannten, damit verletzten Rechts auf Mitsprache und Erfolg des deutschen grossen Ganzen zu beginnen.
Die um ein zufriedenstellendes deutsches Mitspracherecht bei der Ausübung des Hausherrenrechts über den Globus und seinen Völkerschaften geführte, 4 Jahre andauernde, staatlich inszenierte und geforderte Schlächterei, Weltkrieg genannt, kostete neben 21 Millionen Verletzten 20 Millionen in die Schlacht Geschickten und Daheimgebliebenen das Leben.9
Allerdings zeitigte das von den staatsbürgerlichen Massen vollbrachte und erlittene Gemetzel für das deutsche grosse Ganze dieses Ergebnis: Die Zerstörungs- und Vernichtungsgewalt der Konkurrenten hat sich als überlegen erwiesen, der "Griff nach der Weltmacht" (Fritz Fischer) war misslungen. Statt eines deutschen Platzes an der Sonne in Sachen Mitspracherecht bei der Beherrschung der Welt, auferlegten die siegreichen Konkurrenten dem deutschen grossen Ganzen einige harte Bedingungen, die diesen Konkurrenten für die mindestens absehbar nächste Zeit ausser Gefecht und ausserhalb jeder geo- und weltpolitischer Wirkung setzen sollten.
Über diese Schmach hinaus lösten die siegreichen Konkurrenten beim unterlegenen Gegner eine nicht geringe Empörung zudem mit dem vertraglich in Brief und Siegel gegossenen Argument aus, der deutsche Griff nach der Weltmacht trage die "Schuld" an der 4 Jahre anhaltenden Schlächterei. Dass eine solche, das hohe, nationale Ehrgefühl verletzende Herabwürdigung des deutschen grossen Ganzen einhergehend mit dem verletzten Rechtsanspruch eines deutschen Platzes an der Sonne früher oder später seiner praktischen Korrektur und Richtigstellung bedarf, stand bei einer Nation, die von den etablierten Weltmächten Anerkennung und Respekt auf gleicher Augenhöhe verlangte, ohnehin ausser Frage.
5. Das Heraufkommen des Bösen
So fand Hitler, fanden seine Anhänger, fand die nationalsozialistische Bewegung, fand die Weimarer Bevölkerung das Ergebnis des ersten deutschen Griffs nach der Weltmacht vor. Weit davon entfernt, die durch den deutschen Griff nach der Weltmacht ausgelöste zwischenstaatliche Schlächterei als die "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" (G.F.Kennan) zu betrachten, die offensichtlich niemand wollte und die deshalb wie ein schicksalhaftes Naturereignis "ausbrach", zogen Hitler und die Seinen eine recht nüchterne, geo- und weltpolitische Bilanz.Für sie bedeutete der misslungene deutsche Griff nach der Weltmacht eine "Urkatastrophe" nicht wegen der für die Schlächterei Dahingerafften, Verletzten, Verstümmelten und (Kriegs-) Traumatisierten. Nachfolgende Generationen werden an ihre Stelle treten und die in der lebendigen, menschlichen Säule des Staats gerissenen Lücken wieder auffüllen. Das Volk soll und wird Bestand haben, so oder so. Darauf zu achten, im Krieg wie im Frieden, auch und gerade in pandemischen Zeiten, weiss jedes staatliche Gebilde als eine seiner obersten Pflichten, das dem Volke dient, um sich seiner zu bedienen. Zumal wenn die neue Riege der Regierungsverantwortlichen mit entsprechend geeigneten bevölkerungspolitischen Massnahmen die Geburtenrate des ihr unterstehenden Volk zu befördern weiss. Auch Trümmerwüsten müssen keine bleiben, sogar Autobahnen sind machbar, Niederlage hin oder her.
Mögen die siegreichen Konkurrenten des soeben begangenen, zwischenstaatlichen Waffengangs der unterlegenen deutschen Nation einige harte Bedingungen hinsichtlich ihres staatlichen Territoriums, ihrer kapitalistischen Reichtumsproduktion und ihres militärischen Gewealtapparates diktiert haben: Nichts hindert die neuen politischen Entscheidungsträger daran, die ihnen belassene Souveränität über das verbleibende Territorium mitsamt kapitalkräftigem Wirtschaftswachstum und einer gewiss wieder anwachsenden Bevölkerung für einen neuen Aufbruch zu Höherem, auch unter bewusster Umgehung diktierter Auflagen und Beschränkungen, in Dienst und in die Pflicht zu nehmen. So lautet die ganz gewöhnliche staatsmännische Folgerung aus einer erlittenen Niederlage des eigenen grossen Ganzen.
Die wirkliche "Urkatastrophe" für Hitler und die Seinen ist denn auch, dass das grosse deutsche Ganze nicht als Sieger, sondern als Verlierer das Schlachtfeld, das der Griff nach der Weltmacht erfolgreich verwirklichen sollte, verlassen musste. Mit der unschönen Konsequenz: Deutschlands Anspruch, seine Interessen und Rechte "ohne Schwäche" (von Bülow) auf der höchsten Ebene geo- und weltpolitischer Staatenkonkurrenz geltend zu machen, ein gewichtiges Mitspracherecht in der Ausübung des globalen Hausherren- und Benutzungsrecht über fremde Souveräne, staatliche Gebilde, Kontinente samt Völkerschaften, ist vorerst dahin. Statt eines wohlverdienten deutschen "Platz an der Sonne" im erlauchten Kreis der herrschenden Weltmächte, hat "das gigantische Völkerringen 1914-1918"10 im Ergebnis Deutschland zurückgestuft in ein Gebilde minderer Macht und Möglichkeiten.
Diese, staatsmännisch gesehen, absolut unbefriedigende weltpolitische Lage verdient und rechtfertigt unbedingte politische Kritik: Kritik von Standpunkt eines grossen Ganzen aus, das sich zu Höherem als nur zu einer nach- oder zweitrangigen Macht berufen fühlt. Gemessen am Anspruch einer gewichtigen Teilhabe am globalen Hausherren- und Benutzungsrecht über den Rest der Welt erscheint der gegenwärtige Status der Nation als Abhängigkeit und Unfreiheit, weil andere Souveräne, nicht die eigene politische Souveränität, das Gesetz des geo- und weltpolitischen Handelns in der Hand haben. Mehr noch: Höchst- und Endziel des zweiten, des kommenden Griffs nach der Weltmacht sollte sein, dass das grosse deutsche Ganze die führende Weltmacht überhaupt werde: Eine Weltmacht, die nicht mehr innerhalb der Konkurrenz von Weltmächten steht, sondern über diese gebietet, soll der zukünftige Platz an der Sonne überhaupt Bestand haben. So gesehen gilt das ernüchternde Urteil, das zugleich ein Aufruf ist: "Deutschland ist keine Weltmacht mehr, gleichgültig, ob es militärisch stark oder schwach dasteht."11
Dieser minderwertige Status einer nachgeordneten Macht gebietet Befreiung, nicht einen Tag der Befreiung, sondern die Tat der Befreiung, die Erlösung (Theodor Heuss) des grossen Ganzen von einem Zustand, der nicht hinnehmbar ist.12 Als diese politische Alternative, die die Erlösung vom Zustand der Niederlage, die Erlösung vom Zustand einer geo- und weltpolitisch nachgeordneten Macht, wie die Erlösung vom Zustand einer jede nationale Ehre verletzenden Anschuldigung verspricht, hat sich der damals eine Zeit lang auch international anerkannte und legitime (Reichs-) Kanzler Hitler auf den Weg gemacht: und mit seiner politischen Kritik am Zustand der Nation und Anhänger um Anhänger für sich und seine Bewegung gewonnen. Das aller Welt verkündete und erklärte weltpolitische Ziel war, "... die Voraussetzung zum äusseren Freiheitskampf zu schaffen."13
Ganz Staatsmann, betrachtet er die Niederlage im "Völkerringen 1914-1918" als eine Urkatastrophe, als das absolut Böse, das über das eigene grosse Ganze hereingebrochen ist. Andererseits als ein Geschenk, als eine Aufgabe und Herausforderung, als eine Lehre der Vergangenheit, als einen Erweckungsruf, einen Schlussstrich zu ziehen und das grosse Ganze durch die Tat der Befreiung zu erlösen. Dieses Programm entlang der alten staatsmännischen Weisheit: "Jede Niederlage kann zum Vater eines späteren Sieges werden".14
Die Tat der Befreiung verlangt zum einen Klarheit darüber zu gewinnen, wer die Urheber des absolut Bösen sind, die den deutschen Griff zur Weltmacht so schuldhaft wie kläglich haben scheitern lassen. Zum einen, so die staatsmännische und staatsmoralische Kritik, war der wilhelminisch-kaiserliche Griff nach der Weltmacht wegen seiner kolonialpolitischen Zielsetzung ohnehin ein geo- und weltpolitischer Fehler. Stattdessen ist mittels einer "Bodenpolitik der Zukunft"15 das grosse deutsche Ganze zur auch autarkiefähigen, tonangebenden Macht in Europa zu machen. Mit dieser neuen geopolitischen Grundlage kann die Weltmarkt- und Weltmachtkonkurrenz auf höchster Ebene der Staatenhierarchie nochmals in Angriff genommen werden, so die neue, aussen-und weltpolitische Devise.
Wesentlich aber fanden Hitler und die Seinen ihrem Urteil nach Innen, neben den Menschen jüdischer Herkunft und jüdischen Glaubens, noch allerlei andere fragwürdigste "Elemente", die der Vernichtung zuzuführen waren, weil sie in ihrem undeutschen, patriotismusfeindlichen, also bösartigen Willen und von ihrer charakterlichen "Natur" her alles zur Niederlage beim deutschen Griff nach der Weltmacht beitrugen; und überhaupt nur darauf sinnen, dem grossen deutschen Ganzen jeden erdenklichen Schaden zuzufügen. Körperlich und geistig als hinderlich und untauglich für den deutschen Griff zur Weltmacht Erachtete, waren als "Ballastexistenzen"16, als "halbe, Viertels- und Achtelskräfte"17 gleichfalls zu eliminieren.
Und darüber hinaus ragte im Osten, ein mächtiges, ein gewaltiges, ein bis in den unendlichen Weiten der Taiga hausendes Reich des Bösen empor, das auch seine Fäden zieht und, solange es existiert, auf ewig eine Bedrohung darstellen und jeglichem deutschen Griff nach der Weltmacht im Wege stehen wird. Hand in Hand mit dieser staatsmännisch-moralischen Diagnose des Bösen gebot die Tat der Befreiung, die Bevölkerung für die Tat der Befreiung zu gewinnen; was den ab 1933 regierenden politischen Entscheidungsträgern wie ihren Vorgängern vor 1914 denn auch recht zufriedenstellend gelang.
Eine Bevölkerung, die auch nach der Schlächterei von 194-1918, mehrheitlich davon überzeugt war, dass Krieg sein soll, wenn die Regierungsverantwortlichen meinen, Krieg müsse eben sein, erteilte den Regierenden wiederum alle erdenkliche Freiheit, ihrer staatsmännischen Pflicht nach zu handeln und dem Anspruch, "ohne Schwäche unsere Rechte und unsere Interessen zu wahren" (von Bülow), allerhöchste Geltung zu verschaffen. So konnte zum zweiten Mal der Griff nach der Weltmacht, der dem deutschen grossen Ganzen den ihm gebührenden Platz an der Sonne zubilligen sollte, in Angriff genommen werden - und zwar auf diese Weise:
Deutschland wird entweder Weltmacht oder überhaupt nicht sein. Zur Weltmacht aber braucht es jene Grösse, die ihm in der heutigen Zeit die notwendige Bedeutung und seinen Bürgern das Leben gibt.18
Wenngleich Hitler und die Seinen in Erinnerung an die Geschichte, als Lehre aus der Vergangenheit und angesichts "der heutigen Zeit" ganz staatsmännisch alles für den erfolgreichen deutschen Griff zur Weltmacht Notwendige beherzigt und das für den Erfolg der Nation Notwendige und "Gute" von ihren Vorgängern übernommen haben: den unbedingten Willen, die in Rechte und Rechtsansprüche verwandelten Interessen gegenüber den herrschenden Weltmächten "ohne Schwäche" geltend zu machen; den jederzeit gewaltbereiten, staatsmännischen Willen zum Krieg; dies unter Einbeziehung eines Europas, das Deutschlands Führungsrolle anerkennt, anerkennen muss; Förderung und Indienstnahme der kapitalkräftigen Wirtschaft in Friedens- wie in Kriegszeiten; schliesslich, und das vor allem: die immer abrufbare Liebe zum eigenen Land der zum Volk zusammengewachsenen Bevölkerung; eine so schön benutzbare Liebe, ohne die weder im Frieden, noch weniger im Krieg Grosses zu machen ist.
Trotz der Berücksichtigung und Indienstnahme all dessen: Wiederum hat der bereits auf Seite Eins von "Mein Kampf" der deutschen und der gesamten Weltöffentlichkeit in Worten des Alten Testamentes angekündigte Krieg19, ein böses Ende für Deutschland gefunden. Die Zerstörungs- und Vernichtungsgewalt der gegnerischen Konkurrenten war der eigenen Zerstörungs-und Vernichtungsgewalt im zweiten, diesmal 6 Jahre andauernden präemptiv-antizipatorischen Verteidigungskrieg "unserer Rechte und Interessen" (von Bülow) mit Abermillionen von Toten, Verletzten, Verstümmelten und (Kriegs-) Traumatisierten überlegen: Mit 50 bis 60 Millionen Getöteten, zig Millionen Verletzten, ein kaum bezifferbares Millionenheer von (Kriegs-, Flucht-, und Vertreibungs-) Traumatisierten20 bezahlte das falsche, das staatstreue Bewusstsein der staatsbürgerlichen Massen, dafür, dass es auftragsgemäss wiederum seine ganz gewöhnliche staatsbürgerliche (Kriegs-) Pflicht erfüllte.
6. Die anspruchsvolle Erinnerung
Am 8. Mai 1945 war der zweite Griff nach der Weltmacht endgültig misslungen. Der 8. Mai 1945 erbrachte für das grosse deutsche Ganze wieder keinen Platz an der Sonne in der ehrenwerten Gesellschaft von Weltmächten. Die damals weitgehend anerkannten Regierungsverantwortlichen, Militärs und der Reichskanzler haben in ihrer Bemühung, im zweiten staatsmännische Griff nach der Weltmacht um einen würdigen deutschen Platz an der Sonne zu erreichen, nach neuer Sichtweise Schuld auf sich geladen. Nunmehr hat, so die seit 76 Jahre anhaltende Erinnerungskultur, das absolut Böse gesiegt und dem grossen Ganzen eine weitere Niederlage zugefügt. Dass es, staatsmännisch gesehen, aber dabei nicht bleiben kann, hat schon der erste Bundespräsident am 8. Mai 1949 in seinem Erinnerungsweckruf dargelegt.Dieser Weckruf ist von nun an wach zu halten und fort zu schreiben, mögen auch auch Jahre und Jahrzehnte vergehen nach der neuen "Urkatastrophe" einer deutschen Niederlage im Ringen um einen Platz an der Sonne im ehrenwerten Kreis von Weltmächten. Für das deutsche grosse Ganze und an seine zukünftige Aufgabe ist all dem zum Trotz weiterhin zu erinnern und hervorzuheben: "Der 8. Mai 1945 ist ein Datum von entscheidender historischer Bedeutung in Europa."21 Zum Einen ist sich zu erinnern in der von Theodor Heuss konstruierten Weise des Sich-Erinnerns der Vergangenheit: Im gut bewährten Pathos von Paradoxie-Tragik-Erlösung-Vernichtung, und das alles "in einem". Das "Pathos dieser emotionalen Beeinflussung"22, ist von den Gestaltern und Mahnern des Erinnerungsweckrufs "für jeden von uns" (Theodor Heuss) erdacht und in seiner langen kurzen Geschichte immer deutlicher und anspruchsvoller ausformuliert:
"Der 8. Mai ist ein Tag der Erinnerung. Erinnern heisst, eines Geschehens so ehrlich und rein zu gedenken, dass es zu einem Teil des eigenen Innern wird. Für uns kommt es auf ein Mahnmal des Denkens und Fühlens in unserem eigenen Inneren an." (Richard von Weizsäcker)
Zum anderen ist das politische Ziel des Erinnerungsweckrufes der jeweils veränderten geo- und weltpolitischen Lage anzupassen. Das macht den 8. Mai 1945 zu einem "Datum von entscheidender Bedeutung für Europa" (Richard von Weizsäcker). Denn die Stellung des deutschen grossen Ganzen in Europa und in der Welt bleibt, weiterhin in staatsmännischer Manier betrachtet, nach wie vor alles andere als zufriedenstellend. Als dieses "Mahnmals des Denkens und Fühlens" darf es indes nicht im "eigenen Inneren" der neuen Regierungsverantwortlichen und politischen Entscheidungsträger ab dem 8. Mai 1945 verbleiben.
Der Erinnerungsweckruf soll das gleichermassen alle Zeiten überdauernde politische Ziel des deutschen grossen Ganzen in das Denken und Fühlen eines "jeden von uns" unauslöschlich eingraben; und zwar so eingegraben im individuellen und kollektiven Gedächtnis, dass der nunmehr dritte Griff zur Weltmacht politisch allgemeine Anerkennung und Geltung geniesst, ohne in die ungeschminkten und offenherzigen Töne zu verfallen, derer sich Hitler und die Seinen bedienten. Ansonsten geniesst dieser nüchterne, staatsmännisch-weltpolitische Anspruch für jeden politischen Souverän, der auf sich hält in der Welt der Staaten-Konkurrenz, ohnehin allgemeine Geltung: " Deutschland wird entweder Weltmacht oder überhaupt nicht sein." (Mein Kampf, 1936: 742)
7. Die Erinnerung als Werkzeug und Pflicht
Die Erinnerung ist die Erfahrung vom Wirken Gottes in der Geschichte. Sie ist die Quelle des Glaubens an die Erlösung. Diese Erfahrung schafft Hoffnung, sie schafft Glauben an Erlösung, an Wiedervereinigung des Getrennten, an Versöhnung. Wer sie vergisst, verliert den Glauben...Es lastet, es blutet, dass zwei deutsche Staaten entstanden sind mit ihrer schweren Grenze. Es lastet und blutet die Fülle der Grenzen überhaupt [...] Das trostlose Ergebnis der Sünde ist immer die Trennung.23 (von Weizsäcker, 8.Mai 1985)In die Worte des Alten Testaments gekleidet, mit allem jüdischen, christlichen und modernen, aufgeklärten moralischen Gewicht und Anspruch versehen, teilt die Erinnerung der deutschen, der europäischen und der Weltöffentlichkeit unmissverständlich mit, dass sie nicht nur an die Hoffnung und Erlösung von der Sünde der Trennung, derer sich Hitler und die Seinen schuldig gemacht haben, glaubt. Vielmehr ist die alttestamentarisch beglaubigte Wiedervereinigung des Getrennten, kaum dass der Kapitulationsvertrag am 8. Mai 1945 unterschrieben war, oberstes Gebot der alten Staatsräson unter neuer, gegebener, weltpolitischer Lage: nur ein vergrössertes, wiedervereinigtes Deutschland hat je Aussicht, in einem neu zu schaffenden Europa eine Führungsrolle zu übernehmen und darüber "unseren Rechten und Interessen" geo- und weltpolitisches Gewicht und Geltung zu verschaffen.
Ein Schritt auf dem langen Weg zu neuer Grösse, den sich die deutsche Staatsräson ab 8. Mai 1945 in Auftrag gegeben hat, sollte bald getan sein: Das am 8.Mai 1949 in die Präambel des Grundgesetzes eingeschriebene gleichsam "alttestamentarische" Gebot der Wiederherstellung eines neuen grossen Ganzen hat sich am 3. Oktober 1990 erfüllt. Diese offensichtlich historisch wirklich bedeutsame, "belastende und blutende Wunde", die der zweite Versuch eines deutschen Griffs nach der Weltmacht durch seine Niederlage schuldhaft gerissen hat, war geheilt. Geheilt gemäss der "[...] Zuversicht, dass der 8. Mai nicht das letzte Datum unserer Geschichte bleibt, das für alle Deutschen verbindlich ist" (von Weizsäcker) und gemäss den "Lehren aus der Vergangenheit" (W. Steinmeier), die besagen:
Für uns gilt es, die Chance des Schlussstrichs unter eine lange Periode europäischer Geschichte zu nutzen, in der jedem Staat Frieden nur denkbar und sicher schien als Ergebnis eigener Überlegenheit und in der Frieden eine Zeit der Vorbereitung des nächsten Krieges bedeutete. (von Weizsäcker, 8.Mai 1985)
Eingedenk dessen und angesichts einer Vergangenheit, von der "das eigene historische Gedächtnis" (von Weizsäcker) zu berichten weiss: "Neben dem unübersehbar grossen Heer der Toten erhebt sich ein Gebirge menschlichen Leids" (von Weizsäcker), verlangt der Schlussstrich, dass kein Staat mehr auf Erden nach "eigener Überlegenheit" strebt und "im Frieden" den "nächsten Krieg" vorbereitet (von Weizsäcker). Damit dieser Schlussstrich möglich wird und sich nie mehr "neben dem unübersehbar grossem Heer von Toten ein Gebirge menschlichen Leids" (von Weizsäcker) erheben kann, bedarf es allerdings eines Deutschlands, das auch in der Lage ist, dieser seiner immensen Verantwortung, die es als Lehre aus der Vergangenheit für sich gefolgert hat, gerecht zu werden. Wie aber soll ein ohne alle Macht darnieder liegendes Deutschland dieser immensen historischen Verantwortung gerecht werden und andere Staaten, gar existierende oder zukünftige Weltmächte daran hindern, eigene Überlegenheit anzusteuern und womöglich mitten im blühenden Weltfrieden Krieg vorzubereiten und durchzuführen?
Es gibt es eine Lösung oder Erlösung aus diesem unbefriedigenden Dilemma und zwar: "... wenn wir das eigene historische Gedächtnis als Leitlinie für unser Verhalten in der Gegenwart und für die ungelösten Aufgaben, die auf uns warten, nutzen." (von Weizsäcker). Die eingangs gestellte Frage, warum der von Theodor Heuss ins Leben gerufene Erinnerungsweckruf mit der Idee der erlösenden Befreiung des grossen Ganzen erfolgreich die verbindlichen Leitlinie der Selbstbetrachtung und Selbstdarstellung des offenbar absolut "neuen" Deutschland ab 8. Mai 1945 bis auf heute bildet ist damit geklärt: Es sind die anerkantermassen "ungelösten Aufgaben, die auf uns warten": Die immense aussen-, geo- und weltpolitische Aufgaben, zukünftig ein "unübersehbares Heer von Toten" und ein weiteres "Gebirge menschlichen Leids" zu verhindern; und das weitab von dieser geheuchelten Sichtweise: "Das Grauen überfordert uns bis heute [...]".24
Nur dann kann das neue Deutschland den Schlussstrich ziehen, um sich erlöst von der Last der Vergangenheit, den ungelösten Aufgaben, die Gegenwart und Zukunft so bereit halten, zuwenden: Wenn es als mitbestimmende Weltfriedens-Macht dem Weltfrieden und der Weltfriedensordnung machtvoll zu dienen in der Lage ist. Sei es mit, sei es gegen alle gegenwärtigen oder zukünftigen Weltmacht-Konkurrenten. Diese Tat der Befreiung von der Vergangenheit hat der 8. Mai 1945 eingeleitet.
Allerdings ist zu bedenken: "Die Befreiung war 1945 von aussen gekommen. Sie musste von aussen kommen – so tief war dieses Land verstrickt in sein eigenes Unheil, in seine Schuld." (W. Steinmeier, 8.Mai 2020)25 Doch die Erlösung von der offensichtlichen Verstricktheit des deutschen grossen Ganzen in sein eigenes Unheil und in seine eigene Schuld, in das absolut Böse, wie es auch diese alttestamentarisch-theologische Betrachtung der Vergangenheit dem Publikum nahebringen und ans Herz legen will, ist auch durch eine eigene Tat der Befreiung zum benannten Höherem möglich: "Befreiung ist nämlich niemals abgeschlossen, und sie ist nichts, was wir nur passiv erfahren, sondern sie fordert uns aktiv, jeden Tag aufs Neue." (W. Steinmeier)
Das ist so, weil der Weg zu einer globalen, mitbestimmenden Weltfriedensmacht ein langer ist; zudem eine Aufgabe, die in der geltenden Weltfriedensordnung "jeden Tag aufs Neue" unvorhergesehene Herausforderungen zu bewältigen hat, die "auf uns warten" (von Weizsäcker). Dazu ermahnt die Erinnerungskultur, das heisst: Erinnerung als eines Werkzeugs mit dem geo- und weltpolitischen Inhalt, das wiederauferstandene Deutschland als zukünftig mitbestimmende Weltfriedens-Macht sich vorzustellen und zu wünschen. Denn: " Es gibt kein Ende des Erinnerns. Es gibt keine Erlösung von unserer Geschichte. Denn ohne Erinnerung verlieren wir unsere Zukunft. Die Erinnerung fordert und verpflichtet uns!" (W. Steinmeier)
8. Der dritte Griff nach der Weltmacht
So sagt, so will, so beansprucht es der politische Regisseur, der Subjekt und Dramaturg des individuellen und des kollektiven Gedächtnisses sein will, um mittels der Erinnerung die alte neue Staatsräson als ein "Mahnmal des Denkens und Fühlens" (von Weizsäcker) zu importieren: "Implantierte Erinnerungen", ein "implantierte Gedächtnis"26 - "für jeden von uns" (Theodor Heuss). Dies ist dem von Theodor Heuss ins Leben gerufenen Erinnerungsweckruf im Laufe seiner 76-jährigen Geschichte ersichtlich ganz gut gelungen mit dem Ergebnis: "Die Bäume der Nationalgeschichte wachsen dicht und verstellen den Blick in die Weite, der für die kritische Überprüfung der herrschenden Metaerzählung notwendig wäre."27Auch wenn die Erinnerung in Gestalt des staatlich inszenierten Erinnerungs- und Erweckungsaufrufs, auch wenn die politisch "herrschende Metaerzählung" ihrer ständigen Aktualisierung gemäss der neu gestellten geo- und weltpolitischen Aufgabe bedarf, die sich die alte neue Staatsräson als mitbestimmende Weltfriedens-Macht in der Gegenwart und für die Zukunft gestellt hat: Das zukunftsträchtige Projekt eines dritten Griffs nach der Weltmacht ist seit dem 8. Mai 1945 nicht ohne Erfolg in Angriff genommen. Unzweifelhaft hat das neue deutsche grosse Ganzen oder "Wir" inzwischen einen ihm gebührenden Platz an der Sonne in der höchsten Sphäre der Konkurrenz um Weltmarkt und Weltmacht erobert. Diesmal jedoch gilt, dass der dritte Griff zur Weltmacht "nie wieder allein" geschehen soll, geschehen kann - nolens volens angesichts der geltenden Pax Americana:
Nie wieder!“ – das haben wir uns nach dem Krieg geschworen. Doch dieses „Nie wieder!“, es bedeutet für uns Deutsche vor allem: 'Nie wieder allein!' Und dieser Satz gilt nirgendwo so sehr wie in Europa. Wir müssen Europa zusammenhalten. (W. Steinmeier)
So gilt als deutsch-europäisch weltpolitische Maxime: "Eigene politische und militärische Macht strebte Deutschland auch nach der Wiedervereinigung nicht an, allenfalls im Kontext multilateraler Institutionen wie EU, NATO und UNO."28 Auf dieser erreichten Stufe des gelungenen, wenn auch unabgeschlossenen, dritten geo- und weltpolitisch relevanten Griffs nach der Weltmacht, hat die alte neue Staatsräson im Verbund mit USA, NATO, UN-Beschlüssen und als europäische Führungsmacht seit 1945 einiges erreicht im längst erworbenen gewichtigen Mitspracherecht hinsichtlich des globalen Hausherrenrecht über den Globus. So kann sich die alte neue Staatsräson weiterhin der globalen Aufgaben auf der höchsten Ebene der Konkurrenz von Weltmächten widmen: "Wir dürfen nicht zulassen, dass diese Friedensordnung heute vor unseren Augen zerrinnt." (W. Steinmeier)
Um dies zu verhindern, hat sich das westlichen Bündnis einschliesslich seines Mitglieds Deutschland seit 1945 dahingehend verdient gemacht, in zahllosen Kriegen und Stellvertreterkriegen mit einem "unübersehbar grossen Heer von Toten und einem Gebirge menschlichen Leids" (von Weizsäcker) die Wiederholung eines "unübersehbar grossem Heer von Toten und einem Gebirge menschlichen Leids" aus der Vergangenheit zu verhindern, gemäss der alten Weisheit: si vis pacem, para bellum. Dies auch gemäss der gleichfalls älteren Lehre, dass die Verhinderung menschlichen Leids nur möglich ist mittels der unbedingten Verteidigung und Wahrung unserer legitimen "Interessen und Rechte" (von Bülow).
So gesehen war also nicht alles schlecht, was der Nationalsozialismus in seinem Griff nach der Weltmacht seinen demokratischen Erben hinterlassen hat. Beherzigt haben seine Nachfolger diese Lehre aus der Vergangenheit und Geschichte: ein jeder erfolgsversprechender Griff nach der Weltmacht braucht den unbedingten Willen, die in Rechte und Rechtsansprüche verwandelten Interessen gegenüber den herrschenden Weltmächten und sonstigen staatlichen Gebilden "ohne Schwäche" geltend zu machen; den jederzeit gewaltbereiten, staatsmännischen Willen zum Krieg; dies mit einem Europa unter deutscher Führung; Förderung und Indienstnahme der kapitalkräftigen Wirtschaft in Friedens- wie in Kriegszeiten; und vor allem dies: die immer abrufbare Liebe zum eigenen Land der zum "Wir" Volk zusammengewachsenen Bevölkerung; eine so schön benutzbare Liebe, ohne die weder im Frieden, noch weniger im Krieg Grosses zu machen ist; auch wenn diese Liebe heute angeblich so verfasst sein soll: "Man kann dieses Land nur mit gebrochenem Herzen lieben. (W. Steinmeier) Was weiter nicht stört, solange die "gebrochene" Liebe als Liebe weiterhin benutzbar bleibt.
Allerdings: das bereits von Hitler und den Seinen identifizierte, bis in den unendlichen, fernen Weiten der Taiga hausende "Reich des Bösen" existiert nach wie vor. Sich von diesem Bösen zu erlösen harrt noch seiner Vollendung. Denn, laut Spiegel, so weit ist es inzwischen gekommen: "Es ist vor allem der russische Präsident Wladimir Putin, der für viele auch hierzulande die Sehnsucht nach Macht bedient [...] Putin ist der Champion der Rechten und ein Gegner der liberalen Ordnung Europas."29
In diese gewaltbereite Feindbild-Konstruktion, derzufolge der russische Präsident schuldiger Urheber des deutschem Rechtspopulismus, Rechtsextremismus, Rechtsterrorismus und der AfD sein soll, ist die europa-, geo- und weltpolitische Feindschaft gegenüber Russland und Putin als Personifikation des absolut Bösen eingegossen. So selbstbewusst präsentieren sich die "offiziell ermächtigten Priester der Erinnerung"30 einschliesslich dieser selbstbeweihräuchernden, pur nationalistischen Betrachtungsweise:
"Diese Gewalt war nun für alle erkennbar endgültig ein Selbstzweck - obwohl, wie wir heute wissen, der ganze Nationalsozialismus, der ganze Krieg von Anfang an sinnlos, von Anfang an eine Ode an die Gewalt gewesen war." (Der Spiegel, 8.Mai 2020)
Befreit und erlöst von diesem absolut Bösen, dem offensichtlich das Reich des Bösen im Osten nacheifert, kann sich die alte neue Staatsräson dem wirklich Bedeutsamen zuwenden:
"Europa muss auch die 'Sprache der Macht' lernen. Das heisst zum einen, eigene Muskeln aufbauen, wo wir uns lange auf andere stützen konnten – etwa in der Sicherheitspolitik. Zum anderen die vorhandene Kraft gezielter einsetzen, wo es um europäische Interessen geht." (EU-Kommissionspräsidentin, 8.11.2019)31