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Sisyphus Karl Lauterbach: Steine rollen auf der Dauerbaustelle

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Steine rollen auf der Dauerbaustelle Sisyphus Karl Lauterbach

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Politik

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach ist ständig mit irgendwelchen Gesetzesvorhaben oder Verordnungen in den Medien präsent.

Ein Reporter von RTL/ntv interwiewt Karl Lauterbach während der Eröffnung des 1. Teilstücks der neuen Rheinbrücke in Leverkusen, Februar 2024.
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Ein Reporter von RTL/ntv interwiewt Karl Lauterbach während der Eröffnung des 1. Teilstücks der neuen Rheinbrücke in Leverkusen, Februar 2024. Foto: © Raimond Spekking - via Wikimedia Commons (CC-BY-SA 4.0 cropped)

Datum 12. Juni 2024
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Nicht wenige halten ihn deshalb für einen, der begierig die Öffentlichkeit sucht und sich selbst darstellen will. Eitelkeit ist bei Politikern zweifellos verbreitet, aber dieser Vorwurf drängt an den Rand, womit dieser Minister in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gerät.

Dabei geht es ja nicht um seine Person, sondern um Gesetzesvorhaben und Verordnungen, die das Gesundheitswesen betreffen. Und das zieht logischerweise öffentliche Aufmerksamkeit auf sich, denn dieses Wesen geniesst ja nicht den besten Ruf, wird vielmehr von vielen Seiten kritisiert. Lauterbach hat allein in diesem Jahr neun Gesetze auf den Weg gebracht und fünf Verordnungen verabschiedet (bundesgesundheitsministerium.de/service/gesetze-und-verordnungen). Alle betreffen das Gesundheitswesen, nicht mitgezählt sind dabei andere Gesetze wie das Cannabis-Gesetz, das in die Kategorie Sucht und Drogen fällt.

Steine rollen auf der Dauerbaustelle

Wenn der Minister in vielen Bereichen Reformbedarf entdeckt, dem er mit seinen Gesetzen und Verordnungen Rechnung tragen will, so gibt er zunächst den Kritikern am Zustand des Gesundheitswesens Recht. Auch er befindet dort vieles als mangelhaft und änderungsbedürftig. Stellt sich nur die Frage, woher dieser Mangel rührt. Haben seine Vorgänger im Amt geschlampt? Waren sie faul oder inkompetent?

Blickt man in die Vergangenheit, so muss man feststellen, dass auch seine Vorgänger aus CDU und FDP nicht untätig waren und dauernd Reformen auf den Weg gebracht haben. Lauterbach ist also nicht der erste Sisyphus, dem ewig der Stein auf die Füsse fällt, den er gerade hochgerollt hat. Aber das Bild passt, den Reformbedarf sieht der SPD-Minister ja ausdrücklich auch bei Massnahmen, die er selber politisch mit initiiert hat, so etwa bei den Fallpauschalen in den Krankenhäusern.

Die Unzufriedenheit resultiert hier nicht daraus, dass sie wirkungslos waren. Ihr Ziel in Sachen Kostensenkung und Personaleinsparung haben sie ja durchaus erreicht, aber auch Wirkungen erzielt, denen der Minister jetzt begegnen will. Wenn er zuletzt mit dem „Gesundheitsversorgungstärkungsgesetz“ (GVSG) an die Öffentlichkeit getreten ist, dann deshalb, weil eine weitere Massnahme zur Kostenbegrenzung im Gesundheitswesen gewirkt hat: die Budgetierung der niedergelassenen Ärzte. Diese sollten nicht mehr grenzenlos Leistungen abrechnen können, viele Leistungen wurden stattdessen pauschaliert und konnten nur noch einmal im Quartal abgerechnet werden; der Leistungsumfang wurde durch das Budget begrenzt, Mehrleistungen werden jetzt schlechter bezahlt.

Die Ärzte sollten sich durch diese Massnahme intensiver um die Patienten kümmern und ihre Massnahmen daraufhin ausrichten, dass die Patienten so eingestellt werden, dass sie nicht so häufig die Praxis aufsuchen müssen. Als Kostensenkungsinstrument hat diese gesundheitspolitische Massnahme Wirkung gezeigt, aber den Beruf des niedergelassenen Arztes weniger attraktiv gemacht. Jetzt gibt es zu wenige Niedergelassene und die Versorgung ist bedroht. Also wird die Budgetierung aufgehoben.

Das Seltsame im Gesundheitswesen ist also, dass mit jeder Reformmassnahme neuer Reformbedarf entsteht. Und so sieht auch der Minister mit seinem Gesetzesentwurf noch an vielen weiteren Stellen Änderungsbedarf. Die Versorgung der Bevölkerung soll mit dem Gesetz verbessert werden, z.B. durch die Möglichkeit für Kommunen, kommunale Medizinische Versorgungszentren (MVZ) zu gründen. Aber auch die Interessen der an der Versorgung der Bevölkerung Beteiligten – genauer gesagt: die daran verdienenden Gruppen - sollen dabei besser berücksichtigt werden. Die Vergütungsregelungen für Psychotherapeuten sollen verbessert werden – als Schritt zur Verbesserung der psychotherapeutischen Versorgung. Die Hilfsmittelversorgung von Menschen mit Behinderungen oder schweren Krankheiten dauert zu lange und ist ebenfalls zu verbessern, genauso die Gesundheitskompetenz der Versicherten. Und das sind nur einige der Ziele, die in der Begründung des Referentenentwurfs zum GVSG angeführt werden, das jetzt dem Kabinett zugeleitet wurde.

Die Massnahmen wie auch die verbreitete Kritik am Gesundheitssystem machen eigentlich deutlich, worum es in diesem System geht und warum es ständig Reformbedarf produziert. Dabei legen freilich die Kritiker und Klageführer ganz unterschiedliche Massstäbe ans Gesundheitssystem an. Mal wird die mangelhafte Gesundheitsversorgung kritisiert, wenn Patienten im Krankenhaus hungern oder wundliegen, wenn sie keinen Termin beim Arzt bekommen oder mit langen Wartezeiten abgespeist werden. Dann wiederum werden die hohen Kosten angeprangert, die das Gesundheitssystem für die Gesellschaft mit sich bringt. Lautstark klagen auch diejenigen, die die Leistungen erbringen; Krankenhäuser müssen schliessen, Ärzte geben Praxen auf usw.

Die verschiedenen Anliegen, die sich hier als Protest bemerkbar machen, sollen – so der bundesdeutsche Allparteien-Konsens – durch finanzielle Regelungen des Versorgungssystems gesteuert werden. Das gilt als optimale Lösung: So wird die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung sichergestellt, kostengünstig organisiert und als Geschäftszweig für Praxen, Hebammen, Pflegekräfte, Physiotherapeuten, Krankenhäuser, Apotheken und Pharmafirmen eingerichtet. Mit der Steuerung über Preise für Therapien und Medikamente sollen die Akteure im Gesundheitswesen dazu bewegt werden, aus ihrem kommerziellen Eigeninteresse heraus für eine qualifizierte Gesundheitsversorgung der Bevölkerung zu sorgen, was zudem den Aufwand für diese Versorgung begrenzt, also den staatlichen Haushalt entlastet. Damit setzt die Gesundheitspolitik aber sehr widerstreitende Interessen frei, deren Auswirkungen sie mit ihren Reformen dann immer wieder einzugrenzen versucht.

Die notwendige Gesundheitsversorgung…

Im Volksmund gilt Gesundheit als das höchste Gut. Schliesslich ist alles Tun vom Funktionieren des Körpers abhängig – ganz gleich, ob es um die Arbeit geht oder ums Vergnügen. Dennoch ist es verwunderlich, dass dieses Gut so selten verfügbar ist, dass, im Gegenteil, unter zivilisierten Menschen lauter Krankheiten an der Tagesordnung sind, die unter die Kategorie Zivilisationskrankheiten fallen. Offenbar nimmt die Zivilisation – oder etwas genauer gesagt: die Art und Weise, wie diese Gesellschaft organisiert ist – wenig Rücksicht auf die Gesundheit der Bürger.

Die häufigste Todesursache sind hierzulande Herz- Kreislauferkrankungen durch zu hohen Blutdruck. Dabei passt sich der Blutdruck den Belastungen an, wenn er zu hoch ist, zeugt das also von ständiger Überbelastung, die aus den Notwendigkeiten des Alltags wie Arbeit und Familie resultiert. Todesursache Nr. 2 ist Krebs, eine Veränderung der Zellsteuerung durch Einwirkung von Giften oder Strahlungen. Die Ursachen sind hier vielfältig, finden sich doch Gifte in der Nahrung, Kleidung, in vielen Artikeln des täglichen Gebrauchs und im Feinstaub, der sich in der Luft verbreitet.

Zu weiteren Zivilisationskrankheiten zählen Erkrankungen des Stütz- und Bewegungsapparats aufgrund einseitiger oder Über-Belastung, meist beruflicher Art; ferner Asthma und Allergien, verursacht durch Partikel, die oft durch Schadstoffe Veränderungen erfahren haben und vom Körper nicht mehr als Naturprodukte erkannt und deswegen mit einer Immunreaktion abgewehrt werden. So weit ein kurzer Blick auf die Liste der Zivilisationskrankheiten, die natürlich noch viel länger ist.

Diese Gesundheitsbelastungen gefährden nicht nur das Wohlergehen des Einzelnen, sondern seine Brauchbarkeit für die Gesellschaft. Und obwohl es immer heisst, der Einzelne solle sich um seine Gesundheit kümmern, da dies seine Privatangelegenheit sei, spricht die Gesundheitspolitik eine ganz andere Sprache. Schliesslich kann der Einzelne seine Gesundheit nicht sichern angesichts des allgemeinen Zustands der Atemluft, der Lebensmittel, der Arbeitsbedingungen usw. Zudem fehlen ihm die medizinischen Kenntnisse, um auf Gesundheitsstörungen angemessen reagieren zu können.

Um die Funktionalität des Einzelnen als Arbeitnehmer oder Beamter, als Eltern oder Nachuchs usw. zu sichern, braucht es ein gesellschaftlich organisiertes Gesundheitswesen, das sich um die Regulierung der ständig stattfindenden Gesundheitsschädigungen kümmert. Denn die meisten Zivilisationskrankheiten sind nicht heilbar, sondern chronisch und so können sich die Ärzte weitgehend nur um die Milderung der Leiden kümmern.

...muss kostengünstig sein

Wie alles in dieser Gesellschaft kostet die Gesundheit Geld, was deutlich macht, dass sie nicht das höchste Gut im Kapitalismus ist. Denn wie jeder weiss, heisst es hier: Ohne Moos nix los. Das wirft ein weiteres Problem für die staatliche Gesundheitspolitik auf: Diejenigen, die diese Gesundheitsversorgung dringend brauchen, verfügen gar nicht über ausreichende Mittel, die notwendigen Gesundheitsleistungen zu bezahlen. In Form von gesetzlichen Versicherungen – man kann auch sagen Zwangsversicherungen – sollen sie dennoch Vorsorge für die absehbaren Nöte ihres Daseins wie Krankheit, Alter oder Arbeitslosigkeit treffen.

Die gesetzliche Pflicht trifft allerdings nur einen Teil der Gesellschaft. Und da kennt der demokratische Staat auf einmal Klassen (wo sonst der Klassencharakter dieser Gesellschaft immer heftigst bestritten wird): Pflichtversichert sind nur die abhängig Beschäftigten – früher hiess: es die Lohnabhängigen und Angestellten – bis zu einer bestimmten Einkommenshöhe. Diesem Teil der Gesellschaft, also der unteren Klasse, die früher einmal Proletariat hiess, traut der Staat eine eigenständige Vorsorge in Form von privaten Versicherungen nicht zu, denn ihre Einkommensquelle Lohn oder Gehalt ist offensichtlich mangelhaft und lässt sie an den besagten Notlagen scheitern. Deshalb soll das Kollektiv für die Notlagen gemeinschaftlich haften.

Eingezogen wird der jeweilige Beitrag zur Kranken-, Renten- oder Arbeitslosenversicherung gleich an der Quelle. Er ist ein Teil des Einkommens, das die Empfänger gar nicht erst zu sehen bekommen, weil der Staat ihnen bezüglich der Einteilung ihrer Finanzen misstraut. Deshalb werden diese Gelder gleich verstaatlicht. Die Beiträge gehen aber auch in den Streit um Lohn und Gehalt ein, der zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern in gewissen Abständen ausgetragen wird. Formell sind die Arbeitgeber ebenfalls an der Beitragszahlung zu diesen Kassen beteiligt – bekannt ist ja die Klage über die hohen „Lohnnebenkosten“ am Standort Deutschland.

In den betrieblichen Rechnungen tauchen jedoch beide Teile als Personalkosten auf, die die Gewinnrechnung belasten. Denn je höher die Lohn- und Gehaltskosten sind, desto höher ist der Betrag, den Unternehmen aufbringen müssen für Personal, um einen Gewinn zu erzielen. Die angestrebte Rendite berechnet sich ja als Ergebnis des dafür eingesetzten Kapitals, somit sind hohe Personalkosten – ganz gleich ob als Versicherungsbeitrag oder Gehalt gezahlt – eine Belastung fürs Unternehmen. Und die soll auch aus Sicht der Politik möglichst gering gehalten werden. Schliesslich sorgen sich ja alle um das Wachsen der Wirtschaft, d.h. darum, dass diese aus ihrem eingesetzten Kapital mehr Gewinn erzielen kann.

Weil die Mittel, die aus den Löhnen und Gehältern geschöpft werden, nie für eine wie auch immer geartete Gesundheitsversorgung ausreichen, braucht es zusätzliche Mittel aus Steuergeldern, so dass das Gesundheitssystem auch die staatlichen Haushalte belastet. Umso dringlicher ist es daher für Gesundheitspolitiker, dass die Kosten für die notwendige Gesundheitsversorgung der Bevölkerung niedrig gehalten werden. Deutschland zählt dabei zu den Ländern, die für die Gesundheitsversorgung mit am meisten Geld aufbringen, die Lebenserwartung seiner Bürger zählt aber keineswegs zu den höchsten, sondern ist erst auf Rang 20 zu finden (de.statista.com/statistik/daten/studie/37214/umfrage/ranking-der-20-laender-mit-der-hoechsten-lebenserwartung/).

Um die Mittel für Gesundheit möglichst effektiv einzusetzen, haben sich die Gesundheitspolitiker einfallen lassen, die Gesundheitsversorgung zu einem Geschäftszweig zu machen. Und das hat Folgen.

Gesundheit als Geschäftsmittel

Ärzte, Apotheker, Physiotherapeuten sind als Freiberufler Geschäftsleute und Krankenhäuser, Pflegedienste oder Pharmafirmen Wirtschaftsunternehmen. Für sie alle ist die Erbringung von Gesundheitsleistungen Mittel zum Zweck. Es geht ihnen ums Geld und von daher sind sie nur bedingt an der Gesundheit ihrer Mitbürger interessiert. Das Ergebnis wird in der Öffentlichkeit auch immer wieder beklagt – etwa in Form von zu vielen unnötigen Operationen, Herzkatheteruntersuchungen, Medikamenten oder von Praxisschliessungen am Ende des Quartals.

Die Gesundheitspolitik aller Gesundheitsminister ist darauf gerichtet, die Kalkulationen der verschiedenen Akteure im Gesundheitswesen so zu beeinflussen, dass eine brauchbare und kostengünstige Gesundheitsversorgung zu Stande kommt. Dabei kommen, wie gesagt, die verschiedenen Zielsetzungen immer wieder in einen Widerstreit. Krankenkassen beschweren sich über zu viele und zu teure Leistungen, Ärzte über die Mittelverteilung durch die Kassenärztliche Vereinigung, Krankenhäuser oder Apotheken über den harten Konkurrenzkampf, in dem sie bestehen sollen, und Pflegekräfte und Patienten können überhaupt ein Lied davon singen, was sie alles am Hals haben.

Tatkraft der Politik ist eindeutig verlangt. Fragt sich nur, wo und wofür. Wenn jetzt der Bundesgesundheitsminister die Budgetierung für die niedergelassenen Ärzte aufhebt, schafft er neue Anreize, dass sich Allgemeinmediziner mit eigener Praxis niederlassen. Er verteuert damit aber die Kosten für das Gesundheitswesen und schafft so steigende Krankenversicherungsbeiträge, die sich natürlich auch – siehe oben – als Personalkosten der Wirtschaft geltend machen; was nicht erwünscht ist.

Eine Verbesserung der psychotherapeutischen Versorgung für Kinder und Jugendliche, die ebenfalls im GVSG angestrebt ist, wird ebenfalls Kosten verursachen, die womöglich an andere Stelle eingespart werden sollen. Die Krankenhausreform wird sicherlich – durch Schliessung von einem erheblichen Anteil der Häuser – Mittel einsparen, dadurch wird aber wiederum der Weg zu den Kliniken erheblich weiter und damit die Versorgungssicherheit durch ein weiteres Gesundheitsrisiko untergraben.

Also bleibt es dabei, dass den Gesundheitspolitikern nie der Handlungsbedarf ausgehen wird. So können sie sich ständig mit grossem Getöse als Reformer in Szene setzen, denn die unterschiedlichen Interessen am Gesundheitswesen passen nicht zusammen und werden auch – so wie es eingerichtet ist – nie zusammengehen.

Suitbert Cechura