1. Eine Rede - eine Sichtweise
Ob nun der SPD-Vorsitzende, ob die auf dem G7-Gipfel vom 26. bis 28. Juni auf Schloss Elmau versammelten politischen Führer der sieben "mächtigsten Wirtschaftsnationen", oder die Staats- und Regierungschefs der 30 NATO-Staaten auf dem in Madrid vom 29. und 30. Juni abgehaltenen NATO-Gipfel: Sie alle eint der weltpolitisch übergeordnete Zweck der abendländischen Wertegemeinschaft und damit auch die grundsätzliche Sichtweise des gegenwärtigen Weltgeschehens, jedenfalls die nach Aussen propagierte Sichtweise.Es ist ein und derselbe Wortschatz, ein und dieselbe Sprache, ein und dieselbe Redeweise, ein und dieselbe Erzählung, in der sie ihren gemeinsamen übergeordneten Zweck kleiden und dem Publikum als die alleingültige Sichtweise präsentieren. Zugleich formulieren sie in dieser Sichtweise auch ihren gemeinsamen politischen Standpunkt, der zu ihrem Amt gehört, das sie als politische Führer einnehmen und als Auftrag annehmen. Es lohnt sich, im ersten Schritt, das Muster dieser Sichtweise näher zu betrachten und in einem zweiten Schritt den übergeordneten Zweck, der in diesen Reden mehr oder weniger offen zutage tritt, kenntlich zu machen.
2. Krisen- und Bedrohungen - das politische Muster einer Sichtweise
Diese öffentlich kommunizierte Sichtweise zeichnet sich zunächst durch folgendes, gleichförmiges Muster aus: Konfrontiert sehen sich die politischen Führer der abendländischen Wertegemeinschaft mit "einer Zeit, in der die Welt von Spaltungen und Erschütterungen bedroht ist [..]" (Kommuniqué der Staats- und Regierungschefs der G7, Elmau, 28.6.2022)2; mit anderen Worten: "Unsere Welt ist umkämpft und unvorhersehbar." (Strategisches Konzept der Nato 2022, Madrid, 29.6.2022)3In den Worten des SPD-Vorsitzenden: "Heute leben wir in einer Zeit der vielfältigen Krisen."(Klingbeil-Rede) Dass die Welt "unsere" sei und dass die Krisen alle dem "Wir" Angehörigen und im "Wir" tagtäglich Lebenden und Arbeitenden in gleicher Weise beträfen, hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun, gehört aber zum Stammwortschatz und zum Grundmuster eines jeden politischen Führers, der seine Sichtweise der Dinge öffentlich kundtut.
Entlang des Bildes einer Welt, in der ausgerechnet die politischen Führer der abendländischen Wertegemeinschaft mit vermeintlich ganz unvorhersehbaren Erschütterungen, Krisen, Konflikten, Gefahren, Bedrohungen und immer neuen Herausforderungen konfrontiert seien, zeichnen die politischen Führer ihre öffentlich propagierte Sichtweise konsequent weiter und präsentieren dem modernen, dem aufgeklärten Publikum diese Idee: alle weltpolitisch relevanten Gefahren- und Bedrohungslagen kommen von Aussen.
In die Welt gebracht ist mit diesem Gerücht der Gedanke, die unsichere Welt von heute verdanke sich geo- und weltpolitischen Gründen, mit denen die politischen Führer der abendländischen Wertegemeinschaft nichts zu tun haben. Also kann die unsichere, gar bedrohliche Weltlage nur Resultat der Absichten und Handlungen gewisser "Akteure" sein, von denen sich die politischen Führer der abendländischen Wertegemeinschaft offenbar so wohltuend unterscheiden. So wachen die politischen Führer und mit ihnen die Völkerschaften der abendländischen Wertegemeinschaft eines morgens auf und finden sich urplötzlich in einer "Zeitenwende" wieder: „Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents."4 (O.Scholz, 27.02.2022) Kein Wunder also: Ich hatte am Morgen des 24. Februar noch keine umfassenden Antworten auf diese historische Zeitenwende." (Klingbeil-Rede)
Kommen, so gesehen, die politischen Führer der abendländischen Wertegemeinschaft als Urheber der Krisen- und Bedrohungslagen nicht in Frage, dann ist sich denen zuzuwenden, die, wie es heisst, schuld sein müssen für diese unselige Zeitenwende. Da sich diese Akteure von den einheimischen und den in der abendländischen Wertegemeinschaft versammelten politischen Führern so abgrundtief zu unterscheiden scheinen, müssen es schon sehr besondere, angesichts der vorfindlichen Krisen- und Bedrohungslagen negative Charaktereigenschaften sein, die die geo- und weltpolitischen Handlungen dieser Akteure leiten.
3. Über die Böswilligkeit und Aggressoren
Dieser Krieg ist Putins Krieg. Dieser Krieg ist ein Angriff auf unseren Frieden in Europa. Dieser Krieg ist ein Angriff auf unsere Freiheit. Dieser Krieg ist ein Angriff auf das internationale Völkerrecht. Dieser Krieg ist ein Angriff auf all die Werte einer regelbasierten internationalen Ordnung.Dieser Krieg ist ein Angriff auf das menschliche friedliche Miteinander. (A.Baerbock, Rede im Bundestag zum Russlandkrieg, 27.2.2022)5
Wir unterstützen die Ukraine im Kampf gegen den Aggressor (O.Scholz, Rede zum 8. Mai 2022)6
Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch ausser derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille. (Kant, 1785)7
Unerschütterlich gewiss gilt in dieser Sichtweise also dieses in Stein gemeisselte Muster: Es sind "Strategische Wettbewerber und potenzielle Gegner [...] böswillige Akteure" (Strategisches Konzept der Nato 2022), insgesamt "bösartige Akteure, "malign actors" (britische Aussenministerin Liz Truss, 27.4.2022)8, am Werk, die die Urheber und Subjekte der gegenwärtigen "historischen Zeitenwende" mit all den Unsicherheiten und Bedrohungen sind, denen sich die abendländische Wertegemeinschaft, die zivilisierte Menschheit, überhaupt die Menschlichkeit und der blaue Planet ausgesetzt sehen und ausgeliefert glauben.
Und nirgendwann ist sich diese Sichtweise so sicher und davon überzeugt, dass die wie aus dem Nichts auftauchende Zeitenwende Ergebnis der "böswilligen", der jederzeit kriegs- und gewaltbereiten "Akteure", eben der "Aggressoren" da draussen ist, wie in den historischen Momenten, da der Krieg herannaht oder schon da ist.
Das kann in dieser Sichtweise auch gar nicht anders sein, denn, dem offiziellen Verlauten nach, sind die einheimischen und abendländischen politischen Führer gundsätzliche Gegner eines jeden Krieges und jeglicher Gewaltanwendung: "Wir werden uns nie abfinden mit Gewalt als Mittel der Politik."9 (O.Scholz, 28.2.2022)
Gewalt und Krieg können somit nur die böswilligen Akteure da draussen wollen. So betrachtet gilt dann: "Im Kern geht es um die Frage, ob Macht das Recht brechen darf." (O.Scholz, Zeitenwende-Rede) Und die Antwort auf diese rhetorisch gestellte Frage liegt längst bereit: "Meine Haltung dazu ist klar. Wir haben uns entschieden, dem Opfer dieses Angriffskrieges beizuspringen, damit Unrecht nicht über Recht triumphiert, damit sich rohe Gewalt nicht als Mittel der Politik durchsetzt." (O.Scholz, Rede auf dem Katholikentag, 27.5.2022)10
In der Vorstellung: Menschlichkeit, Frieden, Freiheit, Werte, prinzipielle Gewaltlosigkeit, Rechtschaffenheit, (Völker-) Recht, Gerechtigkeit und Regelbefolgung auf der eigenen Seite - Unsicherheit, Bedrohung, Böswilligkeit, Macht, Unrecht, Ungerechtigkeit, Rechtlosigkeit, Regelverletzung, Gewalt- und Kriegwilligkeit, auf der Gegenseite, kommt das Muster der propagierten Sichtweise einen erheblichen Schritt weiter: In Anknüpfung an das allgemein anerkannte Rechts- und Gerechtigkeitsbewusstsein ist der Beweis erbracht, dass die eigene Seite vom "guten Willen" (Kant) durchdrungen ist, die Taten und Handlungen der anderen, der gegnerischen Seite hingegen durchdrungen von ihrer "Böswilligkeit." (Strategisches Konzept der Nato 2022, L. Truss)
Der Hinweis, dass die andere Seite die Sicht der Dinge spiegelbildlich umgekehrt ebenso sehen kann, dass also das Wort "Aggressor" und "Aggression" kein objektives Merkmal beschreibt, sondern eine subjektive, eine ganz beliebig auswechselbare Zuschreibung ist, kommt allerdings gegen die propagierte und in überragender Weise herrschende Sichtweise, demnach der „gute Wille“ in der abendländischen Wertegemeinschaft beheimatet ist so ohne weiteres nicht an. Im Gegenteil: Selbst die innerhalb dieser Sichtweise noch so geringste, noch so defensiv vorgetragene Bitte um Überlegung eines Waffenstillstandes in der Ukraine in Form eines neuen offenen Appells von Intellektuellen11 erhält postwendend die Antwort, diese Anregung sei eine "schreiende Unverschämtheit"12, von den Einlassungen des bekannten ukrainischen Botschafters13 ganz zu schweigen.
Was allerdings mit der Zuschreibung des Einmarsches in der Ukraine als Angriff, als Aggression gegen das Völkerrecht und gegen die "regelbasierte internationale Ordnung" gemeint ist, bedarf, jenseits dieser Sichtweise, einer näheren Betrachtung und Klärung. Dazu weiter unten.
Die Führer der einheimischen und abendländischen Wertegemeinschaft, durchdrungen vom guten Willen und in ihrer Liebe zum Frieden und um des Friedens willen wollen Gewalt und Krieg als "ein wahres politisches Instrument"14 (Clausewitz, 1832) für sich in ihrer Wertegebundenheit prinzipiell ausgeschlossen haben, weil dies ihrer Friedensliebe widerspräche. Noch nicht abgetan ist für die propagierten Sichtweise die bislang kaum beantwortete Frage nach dem Woher und Warum des Krieges, gegenwärtig des Krieges in der Ukraine. Diese Frage muss im wahrsten Sinne des Wortes erledigt werden.
4. Warum Krieg?
In der Beantwortung der Frage "Warum Krieg?" hatten Albert Einstein und Sigmund Freud angesichts des unübersehbaren Herannahens des kommenden Kriegs in ihrem Briefwechsel 193215 zwar auch ihre jeweiligen Sichtweisen, an denen entlang die beiden versuchten, sich die Herkunft und die "eigentümliche Grammatik" (von Clausewitz) des Krieges zu erklären. Doch Im Gegensatz zu beiden eröffnet die von den politischen Führern der abendländischen Wertegemeinschaft propagierte Sichtweise hinsichtlich des Krieges in der Ukraine nicht einmal den Schein einer Frage, sondern die Vermittlung eines politischen Standpunktes und einer politischen Botschaft an die in den NATO-Staaten eingemeindeten Völkerschaften. Diesen politischen Standpunkt sollen sich die angesprochenen Völkerschaften aneignen.Klarzustellen und festzuhalten ist zum einen dies: "Ein Krieg zwischen Staaten in Europa schien unvorstellbar" (Klingbeil-Rede), weil die politischen Führer der abendländischen Wertegemeinschaft auch in ihrer Europa-, Russland- und Ukrainepolitik wie sonstwo weltweit aufgrund ihrer ausgeprägten Liebe zum Frieden und zur aussen- und weltpolitischen Gewaltlosigkeit und Enthaltsamkeit niemals auf die Idee gekommen sind, mit dem Krieg als Fortsetzung und Instrument der Politik zu kalkulieren. Beweis: Die NATO selbst, die es um des Friedens und der Friedenserhaltung willens gibt.
Zum zweiten ist dies dem Publikum zu verdeutlichen: "Nicht das Reden über Krieg führt zum Krieg. Das Verschliessen der Augen vor der Realität führt zum Krieg. Ich habe aber den Anspruch, dass wir realistisch sind." (Klingbeil-Rede) Denn, "realistisch" gesehen, musste es unausweichlich zur unvorstellbaren "historischen Zeitenwende" kommen, da sich der gute Wille und die abendländische Friedensliebe in ihrer pazifistischen Voreingenommenheit und Blindheit gegenüber der Realität der Böswilligkeit und kriegerischen Entschlossenheit der feindseligen Akteure in der Vergangenheit lauter "Nachlässigkeiten" schuldig gemacht haben. Diese gutwillige Realitätsblindheit aus falsch verstandenem Pazifismus hat der böswilligen Feind und Gegner für sich ausgenützt und ihm den Weg geebnet, einen, seinen Krieg in der Ukraine zu beginnen.
Die schlichte Frage eines Albert Einstein oder Sigmund Freud "Warum Krieg?", warum dieser Krieg in der Ukraine, ist, die öffentlich propagierte Sichtweise über die personifizierte Böswilligkeit und Aggressivität der anderen Seite einmal eingenommen und sich zu eigen gemacht, immer schon beantwortet und ins kollektive Gedächtnis eingebrannt: also ausgelöscht.
So liefert der Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar 2022 endgültig den sinnlich-wahrnehmbaren, täglich bebilderten und offen vor aller Augen liegenden, unübersehbaren praktischen Beweis der gewaltbereiten Gehässigkeit der "böswilligen Akteure" (Strategisches Konzept der Nato 2022, britische Aussenministerin L.Truss) inmitten in der sogenannten Europäischen Friedensordnung.
Hegels Bedenken dagegen, den vorgeführten Einmarsch und das tägliche Kriegsgeschehen als einen doch mit Händen greifbaren Beweis zu sehen und hinzunehmen: "Diese Gewissheit aber gibt in der Tat sich selbst für die abstrakteste und ärmste Wahrheit aus. Sie sagt von dem, was sie weiss nur dies aus: es ist."16 (Hegel, 1807), dieses Bedenken ist mit der einmal eingenommen Sichtweise und dem durch sie vermittelten politischen Standpunkt erledigt. Und die rund-um-die-Uhr tausend und abertausendfache Wiederholung und Vorführung der Bilder des blutigen Geschehens in der Ukraine hat somit ihren politischen Standpunkt und Zweck erfüllt: "Erneut bekräftigen wir unsere Verurteilung von Russlands illegalem und durch nichts zu rechtfertigendem Angriffskrieg gegen die Ukraine." (Kommuniqué der Staats- und Regierungschefs der G7, Elmau, 28.6.2022)
Wie also dem blutigen Geschehen ein Ende bereiten? Auch dafür hat die öffentlich propagierte Sichtweise eine inzwischen recht erfolgreich anerkannte und durchgesetzte Antwort bereit.
5. NATO global
NATO is a defensive Alliance and poses no threat to any country. (Madrid, Summit Declaration, 29. June 2022)17We need a global NATO. By that I don't mean extending the membership to those from other regions. I mean that NATO must have a global outlook, ready to tackle global threats. (Britische Aussenministerin L.Truss, 27.4.2022)18
Die Sichtweise, demnach die NATO ein reines Verteidigungs-Bündnis darstellt, das niemanden bedroht, ist bei den in den NATO-Staaten eingemeindeten Völkerschaften längst angekommen. Weshalb Empörung, Massenproteste, Generalstreiks gegen die NATO und dem, was ihre politischen Führer auf ihrem G7-Gipfel in Elmau und auf ihrem NATO-Gipfel in Madrid ganz offenherzig und ohne jede Scheu beschlossen und öffentlich mitgeteilt haben, nirgendwo in Sicht sind. Denn mit der in der abendländischen Öffentlichkeit herrschenden Vorstellung über die NATO als einem niemanden bedrohenden Verteidigungs-Bündnisses und mit dem damit einhergehenden "Schutzversprechen gegenüber den eigenen Bürgerinnen und Bürgern [...]" (Klingbeil-Rede), hat die propagierte Sichtweise in ihrer öffentliche Agitation einen weiteren grossen Schritt nach vorne getan: im Glauben der westlichen Völkerschaften, die NATO sei es zu ihrem persönlichen Schutz eingerichtet und nicht umgekehrt, haben die politischen Führer des NATO-Bündnisses die Gewähr, dass die Völkerschaften auch weiterhin wie bisher mit ihrer Arbeit und mit ihrem Leben bezahlen, was ihre politischen Führer mit der NATO geo- und weltpolitisch beschliessen und militärisch durchsetzen, wie gegenwärtig in der Ukraine. Dass die NATO in der Ukraine bislang recht freihändig einen Stellvertreterkrieg führt und führen lässt, unmittelbar (noch) nicht am Kriegsgeschehen teilnimmt, bestätigt nur den Glauben an einem Verteidigungs-Bündnis, das nie und niemanden bedroht, sondern nur verteidigt.
Die Sichtweise hingegen, demnach die Völkerschaften mit ihrer Arbeit und mit ihrem Leben die Existenz der NATO, die Erfolge und Fortschritte des Bündnisses wie in der Vergangenheit, so auch zukünftig zu schützen und zu schützen haben, diese Sichtweise ist alles andere als üblich.
Und wie mit "sozialem Sprengstoff" (O.Scholz)19 umzugehen sei, sollte er sich wider Erwarten angesichts der Zumutungen und Belastungen, die den Bevölkerungen von ihren Führern jetzt und in den nächsten "langen Jahren" (O.Scholz, Habeck, Lindner, Steinmeier, Gauck und andere) auferlegt werden, einstellen, ist allseits bekannt. Eine genauere Kenntnis der Notstandsgesetze ist dafür nicht notwendig.
Einer glaubwürdigen Abschreckungs- und Vorne- oder Vorwärtsverteidigung der Nato ("NATO's deterrence and forward defences", Madrid, Summit Declaration), dem planetarischen Ausgreifen der NATO zu einer globalen NATO, zu einer NATO "with partners across the globe"20; einer NATO, die, längst über die Ukraine-Frage hinaus ist, um zukünftigen globalen Herausforderungen zu begegnen: dieser allerdings masslosen und schonungslosen Zeitenwende stehen die abendländischen Völkerschaften nunmehr ersichtlich nicht im Wege.
Die böswilligen Akteure und Aggressoren allerdings schon. Die, und nicht nur die, haben eine andere Sichtweise der Dinge. Dies und eine gewisse neue, geo- und weltpolitische globale Lage, muss aller Schönfärberei zum Trotz der Öffentlichkeit mitgeteilt werden, damit die Völkerschaften wissen, was in den nächsten langen Jahren, nicht nur in Gestalt "einer hohen Inflation" (O.Scholz, 5.7.2022)21, auf sie zukommt: was sie zu bezahlen und zu ertragen haben.
So verkünden die politischen Führer der abendländischen Wertgemeinschaft auf ihrem G7-Gipfel in Elmau und dem NATO-Gipfel in Madrid ganz unverhohlenen, auf der Eskalationsleiter gegenüber Russland und China voranzuschreiten. Das ist nur der Auftakt in der nun beginnenden Zeitenwende, die mit der Unterzeichnung des Beitrittsprotokolls zur NATO durch Finnland und Schweden am 5. Juli einen ersten, grossen Fortschritt erzielt hat. Den feiern die hohen Damen und Herren denn auch zurecht triumphierend.
Immerhin: Die propagierte Sichtweise, die einheimischen und die politischen Führer der abendländischen Wertegemeinschaft haben mit den ganz unvorhersehbaren Erschütterungen, Krisen, Konflikten, Gefahren, Bedrohungen und immer neuen, global dimensionierten Herausforderungen, allem voran dem Krieg in der Ukraine, ursächlich nichts zu tun, erweist sich als ein Märchen. Allerdings geht die von den politischen Führern des Westens angestossene Zeitenwende über den in der Ukraine geführten Krieg gegen Russland weit hinaus. Ihnen ist der Krieg in der Ukraine nichts als ein Dominostein zur Regelung der Frage, wer in der kommenden „regelbasierte internationale Ordnung" das Sagen haben wird.
Dass diese Frage überhaupt auf den Tisch gekommen ist, das macht, wie die politischen Führer der abendländischen Wertegemeinschaft es nicht zuletzt auf ihren G7- und NATO-Gipfeln in Elmau und Madrid wiederum verkünden, die „Aggression“ der anderen Seite aus. Weil Russland und China begonnen haben, sich zunehmend den Regeln der bislang herrschenden Weltordnung zu entziehen, zu widersetzen, sind sie die „Aggressoren“.
6. Die eine Herausforderung der Gegenwart
Russland und China haben über viele Jahre hinweg auch demokratische Staaten wie Südafrika, Indien oder Brasilien hofiert, ihnen etwa über die BRICS-Initiative eine Stimme auf internationaler Ebene gegeben. Sie haben die Interessen dieser Länder gesehen und sind ihren Regierungen mit Respekt begegnet. Das hat Vertrauen aufgebaut.(Klingbeil-Rede)Zunächst ist zu konstatieren, dass mit Russland und China ernstzunehmende "Rivalen" (L.Truss)22 herangewachsen sind, denen es mit ihren Initiativen über die Jahre hinweg gelungen ist, sich ein geo- und weltpolitisches Gewicht dahingehend zu verschaffen, dass die bislang uneingeschränkte Vormacht und Handlungsfreiheit der abendländischen Wertegemeinschaft unter US- und NATO-Führerschaft sich herausgefordert sieht, dieser neuen Lage entschlossen zu entgegenzutreten. Der G7-Gipfel in Elmau mit der 600 Milliarden Dollar projektierten "Partnership for Global Infrastructure and Investment"; das auf dem NATO-Gipfel in Madrid beschlossenene "neue strategische Konzept der NATO", das nun endgültig die Idee einer globalen NATO verwirklichen soll und im selben Atemzug Russland wie China eine höchst offizielle Feindschafts-Erklärung auch schriftlich dokumentiert und garantiert, sind die Antwort auf diese Herausforderung.
Zum anderen ist festzustellen, dass es Russland und China offensichtlich gelungen ist, einen neuen Wettlauf nicht um Kolonien, sondern um Mitglieder innerhalb der Völkerfamilie eröffnet zu haben. Das ist kein Zufall, denn: " Und zur Wahrheit gehört auch, dass viele Staaten im globalen Süden enttäuscht sind von den Verheissungen liberaler Demokratien." (Klingbeil-Rede). Haben die Verheissungen der liberalen Demokratien in Sachen polit-ökonomischer (Austausch-und Handels-) Beziehungen gegenüber dem "globalen Süden" und dem Rest der Welt wesentlich doch darin bestanden, dass die fremden Souveräne im globalen Süden und sonstwo auf der Welt ihr Hoheitsgebiet mit Land, Rohstoffen, sonstigem Reichtum und einheimischer Bevölkerung sich für die lohnende Benutzung durch die liberalen Demokratien herzurichten und zur Verfügung zu stellen hatten. Die Ergebnisse sind unter anderem als hungernde Weltbevölkerung und Gliederung der Völkerfamilie einschliesslich der sogenannten Dritten und Vierten Welt bis hinunter zu den "Least Developed Countries (LDC) bekannt.
Dieser durch die Führer der abendländischen Wertegemeinschaft praktizierten Definition, Anwendung und Durchsetzung der polit-ökonomischen Regeln der "regelbasierten internationalen Ordnung"23 gegenüber, die es nun mit einem weltweiten "Network of Liberty" (L.Truss), mithin durch: " The G7 should act as an economic NATO." (L.Truss) oder gleich mit der globalen NATO zu verteidigen gilt, bieten China und Russland folgende alternative Gegen-Perspektive: Über die BRICS-Staaten hinaus weitere Staaten in Transkaukasien und in Zentralasien, im asiatischen und indopazifischen Raum, im "globalen Süden" und auch im US-amerikanischen Hinterhof für sich zu gewinnen, darüber neue Bündnisse und Allianzen zu schmieden. Gelänge dies, dämmerte am Horizont eine Weltlage herauf, in der Russland und China im Schlepptau mit ihren weltweiten Bündnispartnern und Allianzen auch über die BRICS-Staaten hinaus, die kommenden "grossen global Player" (Klingbeil-Rede) auf der Bühne der Welt wären, die geo- und weltpolitisch Takt und Ton für den Rest der Welt angeben.
Nicht zuletzt ist zur Kenntnis zu nehmen, dass Russland und China bemerkenswerter Weise und ganz entgegen dem in der abendländischen Wertegemeinschaft gepflegten und weitverbreiteten Bild nicht, wie unter der Schirmherrschaft der Pax Americana bislang üblich, mit politökonomischer Erpressung, Drohung, Gewalt oder Krieg, also über "Druck und Gefolgschaft" (Klingbeil-Rede) sich einen "weltpolitischen Einfluss" (Klingbeil-Rede) verschafft haben. Vielmehr sind sie anderen Staaten gegenüber "mit Respekt" begegnet, haben deren Interessen gesehen und sich so "Vertrauen" erworben. Solcher Umgang zeitigt schon jetzt, wo es doch darum geht, im Krieg gegen den erklärten Feind Russland in der Ukraine mit der Ukraine als willkommenem Werkzeug oder "Instrument der Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln" (von Clausewitz) grosse Fortschritte zu erzielen, höchst bedenkliche Konsequenzen:
Die Auswirkungen sehen wir aktuell, wenn viele Staaten unseren Weg der Sanktionen gegen Russland ablehnen. Die Abstimmungen in der Vollversammlung der Vereinten Nationen zeigen, dass die Hälfte der Weltbevölkerung nicht hinter unserer Politik steht. Das muss uns zu denken geben. (Klingbeil-Rede)
Die Hälfte der Weltbevölkerung verfügt über eine Sichtweise, die sich von der hiesigen offenbar grundlegend unterscheidet. Das kann, das darf nicht sein. Schliesslich geht es um nichts Geringeres als um eine neue, regelbasierte Weltordnung. Allerdings eine Frage, deren Beantwortung eine grundlegende Zeitenwende erfordert – in Angriff genommen und modelliert durch die Führer der abendländischen Wertegemeinschaft.
7. Das Ringen um eine neue Weltordnung
Wir haben jetzt einige Jahre der Unklarheit und der Unsicherheit vor uns, was die künftige Weltordnung anbelangt. Es wird in den kommenden Jahren einen Wettstreit um Beziehungen, Abhängigkeiten, Bindungen, Kooperationen und Ausstrahlungen geben. Wir müssen uns für diesen Wettkampf aufstellen. (Klingbeil-Rede)Der Rest der Welt wird spüren, dass die Zeiten, in denen der Westen alle Regeln bestimmen durfte, vorbei sind. (Global Britain pivots to Asia)24
Eingestandenermassen war es bislang so, dass die politischen Führer der abendländischen Wertegemeinschaft unter US-Führung die Regeln der Weltwirtschafts- und der Weltfriedensordnung definiert, festgelegt und durchgesetzt haben. Die Rede von der "regelbasierte internationale Ordnung" (Strategisches Konzept der Nato 2022), die es nunmehr zu verteidigen gilt unter anderem eben mit der "Partnership for Global Infrastructure and Investment,"25 gedacht auch als globale, alternative "Seidenstrasse", und mit der in Madrid beschlossenen Inangriffnahme einer endlich global agierenden NATO, bestätigt die Realität der bisher geltende, US-geführte Vorherrschaft der abendländischen Werte- und NATO-Gemeinschaft.
In dieser Vorherrschaft haben die abendländischen politischen Führern auch ganz praktisch darüber entschieden, wann das Völkerrecht Geltung hat und wann nicht; wann ein Krieg als erlaubt und geboten zu betrachten sei und wann nicht; wann ein Kriegsverbrechen vorliegt und wann nicht; wann eine Angriff auf die Weltwirtschafts- und Weltfriedensordnung vorliegt oder nicht; nicht zuletzt: wer als Aggressor und was als Aggression anzusehen ist, mithin also: welche Sichtweise gelten soll und welche nicht.
Die Vorherrschaft der bislang geltenden regelbasierten Weltordnung und der US-geführte westliche Anspruch, dass sich daran nichts zu ändern hat, stehen also auf dem Spiel, wenn die Herausforderung ausgesprochen und die Frage aufgemacht wird, wer in der "künftigen Weltordnung" (Klingbeil-Rede) Subjekt und Regisseur des Ganzen sein soll. Es droht die Verabschiedung oder gar Zerrüttung der bisherigen, im Grunde unipolaren Weltordnung zugunsten einer multipolaren, wenn nicht sogar einer chinesisch-russisch geführten bipolaren oder womöglich überhaupt einer neuen, chinesisch geführten unipolaren Weltordnung.
Dass das Ringen um eine neue Weltordnung einem "Wettstreit", einem "Wettkampf" um weltpolitischen Einfluss gleiche, stimmt nur in der Hinsicht, als mit China und Russland für den Rest der Staatenwelt sich tatsächlich etwas Neues innerhalb der noch geltenden, westlich dominierten Weltordnung aufgetan hat: " Es sind also Alternativen zum westlichen Entwicklungsmodell gewachsen." (Klingbeil-Rede) Dass das Ringen um eine neue Weltordnung alles andere als ein Wettstreit oder Wettkampf ist - in erster und letzter Instanz vielmehr eine Frage der puren, staatlich organisierten, Kriegs- und Gewaltbereitschaft, haben der G7-Gipfel in Elmau und der NATO-Gipfel in Madrid dargetan.
Die Alternativen zum "westlichen Entwicklungsmodell" (Klingbeil) sind damit jedoch nicht erledigt und das gestehen die politischen Führer der abendländischen Wertegemeinschaft mit ihrem in erster Linie anti-chinesischen Alternativ-Angebot einer "Partnership for Global Infrastructure and Investment" gegen die chinesische Zweite Seidenstrasse, die Belt and Road Initiative (BRI) auch ein. Insofern, aber auch nur insofern kann davon die Rede sein:
Die Welt wird künftig nicht mehr in unterschiedlichen Polen, sondern in Zentren organisiert, die auf unterschiedliche Art und Weise Macht ausüben...Wenn die neue Weltordnung sich über Zentren organisiert, dann lässt sich daraus ableiten, was wir zu tun haben [...] Für uns muss es darum gehen, Bindungskraft zu entfalten, neue politische Allianzen zu schmieden. Wir müssen diese strategischen Partnerschaften auf- und ausbauen. (Klingbeil-Rede)
Das ist die eine Seite. Perspektivisch droht allerdings eine künftige Weltordnung, in der China und Russland als Führungsmächte in möglicherweise weit über das BRIC-Staatenbündnis hinausreichenden, globalen strategischen Partnerschaftschaften sich anschicken, die Führer- und Vorherrschaft in Sachen regelbasierter Weltwirtschafts- und Weltfriedensordnung " anzugreifen", um in einer zukünftigen regelbasierten Weltordnung die Regeln zu diktieren. Was jeder Staat für sich, was " wir zu tun haben" (Klingbeil-Rede) angesichts dieser (welt-) kriegsträchtigen Zukunftsperspektive ist dann doch wieder keine so offene Frage innerhalb der Konkurrenz der "Macht"-Zentren mit ihren jeweiligen "Führungskulturen" (Klingbeil-Rede) um die zukünftige, regelbasierte Welt-Herrschaft.
8. Die eine Führungsmacht
Unser Anspruch muss sein, dass wir das attraktivste Zentrum sind. Dabei kommt es ganz viel auf Deutschland an. Deutschland muss den Anspruch einer Führungsmacht haben. Nach knapp 80 Jahren der Zurückhaltung hat Deutschland heute eine neue Rolle im internationalen Koordinatensystem [...] Als Führungsmacht muss Deutschland ein souveränes Europa massiv vorantreiben. Deutschland kann nur stark sein, wenn Europa stark ist. (Klingbeil-Rede)Dass Deutschland den Anspruch einer Führungsmacht haben muss und das auch noch nach einer 8o-jährigen Zurückhaltung stimmt natürlich weder nach der einen, noch nach der anderen Seite hin: Den Anspruch, wieder ökonomische und politische Führungsmacht zu werden, nur diesmal nicht mehr in einem Alleingang, sondern als Führungsmacht innerhalb einer europäischen Friedensordnung und mit einem so geeinten Europa als Werkzeug, als "Instrument der Fortsetzung" (von Clausewitz) einer runderneuerten deutschen Aussen- und Weltpolitik, war, kaum war die Kapitulationsurkunde am 8. Mai 1945 in Kraft getreten, ohnehin eine ausgemachte Sache. Das haben die Verfassungsväter in Gestalt des Parlamentarischen Rates denn auch in der Präambel des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 fixiert.26 Insofern ist der geo- und weltpolitisch relevante Standpunkt, dass Deutschland nur dann "stark sein kann, wenn Europa stark ist", inzwischen 80 Jahre alt.
Dass dieser Standpunkt innerhalb der durch China und Russland aufgemachten, drohenden Konkurrenz der Macht-Zentren um die zukünftige, regelbasierte Welt-Herrschaft wiederholt und betont wird, ist zwar selbstverständlich. Weist aber zugleich darauf hin, dass der Anspruch, eine Führungsmacht in dieser neuen weltpolitischen Konkurrenzlage sein zu wollen und sich darin zu behaupten, in jedem Fall eine Zeitenwende verlangt. Eine Zeitenwende, die die politischen Führer der abendländischen Wertegemeinschaft unter Führung der Pax Americana in ihren aussen-, geo-und weltpolitischen (Gross-) Taten insofern heraufbeschworen haben, dass sie die Staatenwelt vor die Alternative der lohnenden Benutzung oder, bei Unbotmässigkeit, der Marginalisierung, der drohenden, kriegerischen Zerstörung oder beidem zugleich anheimfallen werden. Dass China und Russland auf dem Weg sind, sich als „ Alternativen zum westlichen Entwicklungsmodell“ (Klingbeil) zu empfehlen, macht die Lage für die Führer der abendländischen Wertegemeinschaft inakzeptabel und unerträglich.
Angesichts dieser Weltlage und der Perspektive, in einer zukünftigen regelbasierten Weltordnung nicht als glaubwürdige, global handlungsfähige Führungsmacht mitzuspielen, sich gar die anstehenden Regeln diktieren lassen zu müssen, ist die Frage, wie sich ein Land, eine Nation wie Deutschland zu entscheiden hat, keine Frage: Will es in der lohnenden Benutzung, Kontrolle und (militärischen) Massregelung der restlichen Staatenwelt weiterhin als Führungsmacht mit geopolitischem Gewicht mitspielen, und zwar nicht unbescheiden als das "attraktivste Zentrum" (Klingbeil-Rede), dann hat sich Deutschland diesem dementsprechend herzurichten.
Dieser Anspruch auf Führungsmacht gebietet angesichts der durch China und Russland aufgemachten alternativen Konkurrenz der "Macht-Zentren" als Antwort auf die bisher geltende regelbasierte Weltordnung, einiges an glaubwürdiger Gewalt. Denn alternative Wege zum Modell etablierter westlicher Vor- und Weltherrschaft, kann und darf es nicht geben. Das ist der gemeinsame übergeordnete Zweck, den die Führer des Westens allesamt teilen und der in ihren Reden, Texten und Dokumenten wieder und wieder zum Ausdruck gebracht wird oder den sie gleich offensiv der Öffentlichkeit mitteilen. Dieser übergeordnete und unnachgiebig festgehaltene Zweck macht, wie am Stellvertreterkrieg in der Ukraine ersichtlich, das Ringen um eine neue, regelbasierte Weltordnung so kriegsträchtig.
9. Die Parlamentsarmee - die bis zum Äussersten geht
Ich wünsche mir, dass wir als Gesellschaft eine neue Normalität mit der Bundeswehr entwickeln. Dass wir eine Selbstverständlichkeit entwickeln, denen Respekt und Anerkennung zu zollen, die ihren Dienst für unser Land leisten, die bereit sind, bis ans Äusserste zu gehen, wenn das Parlament dies beschliesst. (Klingbeil-Rede)Der Krieg ist ein Akt der Gewalt, und es gibt in der Anwendung derselben keine Grenzen; so gibt jeder dem anderen das Gesetz, es entsteht eine Wechselwirkung, die dem Begriff nach zum äussersten führen muss. (von Clausewitz, 1832)27
Es war von den einheimischen und politischen Führern der abendländischen Wertegemeinschaft in all ihren Reden und Texten seit Jahr und Tag, längst vor dem gegenwärtig in der Ukraine tobenden Krieg, schon klargestellt, dass die pazifistische Realitätsblindheit, "das Verschliessen der Augen vor der Realität" (Klingbeil-Rede) "zum Krieg führt". Und ganz praktisch haben sie in ihrer realistischen Sichtweise die NATO-Erweiterungsrunden und Modernisierung der staatlichen Gewaltapparate unter Führung des transatlantischen Partners konsequent vorangetrieben. Dass die "Politik der offenen Tür" unantastbar ist, ist keine Frage und die Entschlossenheit, auf der Eskalationsleiter im Ringen um die Eskalationsdominanz in Sachen kommender, regelbasierter Welt-Herrschaft voranzuschreiten, steht ebenso wenig ausser Frage.
Zu diesem Realismus gehört aber neben dem Projekt einer global agierenden NATO "with partners across the globe"28 auch die Einsicht: " Das Projekt der Neuen Seidenstrasse mit seinen weltweiten Direktinvestitionen in Infrastruktur oder Energienetze besteht nicht nur aus Nettigkeiten. Das ist knallharte Machtpolitik. Da dürfen wir uns als Europäer nichts vormachen."(A.Baerbock, 26.4.2021)29
Zwar haben " schon Willy Brandt und Schmidt [..] gewusst, dass die Grundlagen für eine kraftvolle Friedenspolitik auch militärische Stärke und Fähigkeit sind." (Klingbeil-Rede) Da die nunmehr anstehenden geo- und weltpolitische Grossvorhaben der Führer der abendländischen Wertegemeinschaft gemäss ihrer Zeitenwende-Doktrin auf erweiterter Stufenleiter den Weltfrieden in noch ganz anderer Weise gefährden als bisher, ist eine "neue Normalität mit der Bundeswehr" (Klingbeil-Rede) dringlichst angesagt; und mit dem 100 Milliarden Sondervermögen für die Bundeswehr eingeleitet, um eine "kraftvolle Friedenspolitik" sicher zu stellen. Dass auch eine
Parlamentsarmee um des europäischen und des Weltfriedens innerhalb der künftigen regelbasierten Weltordnung willen wie ihre Vorgängerin, wie jede Armee bereit sein muss, "bis ans Äusserste zu gehen", dazu braucht es keinen besonderen Vernichtungsauftrag wie dem "Unternehmen Barbarossa": Denn dieses "Gesetz" ist dem Krieg immanent (von Clausewitz), wie nicht nur gegenwärtig in der Ukraine ersichtlich.
10. Wahre Friedenspolitik - Führungsmacht mit aller Gewalt
Ich aber habe den Anspruch, dass wir realistisch sind. Friedenspolitik bedeutet für mich, auch militärische Gewalt als ein legitimes Mittel der Politik zu sehen.(Klingbeil-Rede)Der Anspruch, Führungsmacht in einer zukünftigen, regelbasierten Weltfriedensordnung zu sein, fordert dies: " Wenn wir uns im Kräftemessen des 21. Jahrhunderts global behaupten wollen, dann müssen wir alle unsere Instrumente auf die Höhe der Zeit bringen – militärisch, politisch, analog, digital, technologisch." (A.Baerbock, 18.3.2022)30 Solche zukunftsorientierte und realistische Friedenspolitik ist ohne in jeder Hinsicht überlegene Gewalt nicht zu haben. Das ist nur mehr als legitim und gerecht. " Dazu gehört übrigens auch die Idee einer feministischen Aussenpolitik." (Klingbeil-Rede) Die gibt allerdings zu bedenken:
"Man muss immer im konkreten Fall prüfen, ob ein Einsatz zu mehr oder zu weniger Leid führen wird und ob er auf dem Boden des Völkerrechts steht.“ (A. Baerbock, 26. April 2021)31
"Ist das gewissenhaft geprüft, dann steht auch einer notfalls nuklearen Auseinandersetzung mit dem Aggressiven und Bösen nichts mehr im Wege."31