1. Heute - der Krieg in der Ukraine und der Geist der Zeit
Nicht diskutieren kann man dies: Wir sind inmitten der Gefahr eines militärischen Konflikts, eines Krieges in Osteuropa. Und dafür trägt Russland die Verantwortung. (Steinmeier, 13.2.2022)1Jede und jeder einzelne von uns muss jetzt eine dezidierte und verantwortungsvolle Entscheidung treffen und Partei ergreifen. (A.Baerbock, 1.3.2022)2
Aber dennoch ist die Öffentlichkeit das grösste Bildungsmittel für die Staatsinteressen überhaupt (Hegel, 1821)3
Dass auch Deutschland im Krieg in der Ukraine inzwischen de facto, wenngleich noch nicht de jure, eine (NATO-) Kriegspartei ist, erfährt der Einzelne alltäglich am eigenen Leib: an der Inflationsrate, an der Tanksäule, beim Einkauf, angesichts seiner Energie-Rechnungen, die ihm ins Haus flattern, solange es Energie noch gibt. Weiter in der politischen und massenmedialen Rund-um-die-Uhr-Betreuung und Kriegsberichterstattung. Protest, Massendemonstrationen und Generalstreiks dagegen gibt es nicht. Gekennzeichnet ist der gegenwärtige "Geisteszustand der deutschen Gesellschaft" (Renate Dillmann)4 und der Geisteszustand der in den NATO-Ländern eingemeindeten Völkerschaften vielmehr dadurch, dass diese Völkerschaften in überragender Mehrheit "als Parteigänger ihrer Regierungen im Krieg gegen Russland" (Suitbert Cechura)5 die ukrainische Fahnen und Fähnchen schwenken; und im Geiste vereint mit den USA und der NATO auf musikalisch-künstlerischen Klein- und Grossveranstaltungen singen und rufen: "Freiheit für die Ukraine". Das seit Jahr und Tag dem zugrundeliegende, von der transatlantischen und deutsch-europäischen politischen Klasse negativ gezeichnete Russland-Bild, zuoberst das des Präsidenten der Russischen Föderation, ist zweifelsohne recht erfolgreich bei den abendländischen Völkerschaften angekommen. Weshalb festzuhalten ist: "Auf diese sorgfältig und mit eindeutiger Absicht über Jahre aufgebauten Hassbilder fallen bedauerlicherweise sehr viele Bürger herein." (Björn Hendrig)6
Warum das so ist, scheint einer näheren Betrachtung wert. Dem nachzugehen, welchem Nährboden es sich verdankt, dass die staatlich produzierten Bilder des ausgemachten Feindes so fruchtbaren Anklang finden; dem nachzuspüren, warum die Öffentlichkeit, wie am Krieg in der Ukraine ersichtlich, "das grösste Bildungsmittel für die Staatsinteressen ist" (Hegel) und es zustande bringt, den jeweils benötigten Geist der Zeit zu formen, auch das scheint lohnenswert. Eine solche nähere Betrachtung steht allerdings der bundespräsidialen Aufforderung, die Diskussion um die Ukraine-Frage habe beendet zu sein, entgegen; auch steht sie dem aussenministeriellen Aufruf zur Pflicht entgegen, in der Ukraine-Frage gedanklich und praktisch Partei zu ergreifen.
2. Der moderne Gebrauch des Verstandes und sein Kompass
Die Maxime, dass das Denken, dass der Gebrauch des Verstandes eines "Wegweiser oder Kompass" (Kant 1786)7 bedarf; einer grundlegenden "Orientierung" (Kant), die allem Denken und Nachdenken apriori innewohnt und dem Verstandesgebrauch dahingehend eingeschrieben sein soll, er möge in all seinem gedanklichen Tun angesichts der Welt des politischen Geschehens vor Augen haben und daran denken, was dieses oder jenes (aussen-, welt-) politische Phänomen oder Ereignis für "Uns", für "unser Wir" bedeutet: an diese Maxime erinnern die "offiziell bevollmächtigten Priester der Erinnerung"8 ohne Unterlass, mögen sie Steinmeier, A.Baerbock, O. Scholz, J. Biden, E.Macron, B.Johnson oder sonstige Politiker sein. Zur Unterstreichung dieser Maxime gerne assistiert durch politologisch geschulte Fachexperten für welt- und geopolitische Fragen aus den sogenannten Denk-Fabriken, die ihrer stolzen Namensgebung durchaus gerecht werden.Prinzipiell sehen die offiziellen Priester der Erinnerung keinerlei Grund, am "klaren Wertekompass" (A.Baerbock, Rede zur nationalen Sicherheitsstrategie 18.3.2022)9 des modernen, des staatsbürgerlich gebildeten und politisierten Denkens und Nachdenkens zu zweifeln: Bekommen sie doch alltäglich, auch in jeder demokratischen Wahl und der darauf folgenden Legislaturperiode ganz praktisch bestätigt, dass der "klare Wertekompass" dem modernen Gebrauch des Verstandes zugrunde liegt und die Richtung weist, mithin wunschgemäss funktioniert. Die "Orientierung" (Kant) des Denkens und Nachdenkens am erfolgreichen Fortgang des als reinen Wert, als pure Abstraktion betrachteten "unser Wir" ist längst zur subjektiven Maxime, zum unbedingten, zum kategorischen Imperativ des Urteilens und theoretischen Schliessens geworden; und findet sich auf diese Weise in eins mit dem staatlichen Interesse am erfolgreichen Fortgang des verehrten "Wir". Dementsprechend sehen die theoretischen Urteile und Schlüsse andererseits auch aus.
Keineswegs also lässt es der moderne, der staatsbürgerliche Gebrauch des Verstandes daran mangeln, bei all seinem Denken und Nachdenken in Anbetracht der (welt-) politischen Ereignisse sich konstruktiv zu fragen, was all das für "Uns", für "unser Wir" bedeutet: Eingedenk dieses "unser Wir", eingedenk dieses "höchsten Gutes" (Kant), das der staatsbürgerliche Verstand und Verstandesgebrauch für sich weiss und als Dogma fixiert hat, kommt er in seinen Urteilen und Schlüssen auch zu keinem anderen theoretischen Ergebnis, als die (welt-) politischen Phänomene und Ereignisse für "gut" oder "schlecht", "vorteilhaft" oder "nachteilig" zu befinden - für "Uns". Und denkt entlang dieses "höchsten Gutes" darüber nach, was er, seiner privaten Meinung, nach "besser" oder "am besten" fände für das heimatliche, für das deutsche Wir, auch im Ukrainekrieg; und bekundet, auf der Strasse befragt, in seinem Urteil eine ausgeprägte Gewaltbereitschaft und Liebe zur Gewalt: "Warum hat Deutschland solange gezögert, endlich Waffen an die Ukraine zu liefern? Was, nur 5000 Helme? Kann wirklich keine Flugverbotszone in der Ukraine errichtet werden?"
3. Die Ukraine-Frage - eine geopolitische Erinnerung
In Kraft gesetzt ist mit dieser "Verstandeshandlung" (Kant, a.a.O.: 267) "ein Denken, das sich auf Heimat, das Vaterland, die Nation bezieht und dessen Motivation im Interesse des Fortkommens, des Erfolgs, der Durchsetzung eben des nationalen Kollektivs besteht."10 Ausser Kraft gesetzt ist mit diesem "Gebrauche der Vernunft" (Kant, a.a.O: 272) "der distanzierte und unvoreingenommene Blick" (J. Schillo, a.a.O: 79). Mit dem Ergebnis: "Wahrheit als Kriterium des Denkens im objektiven Sinne tritt dann endgültig beiseite; sie macht den nationalen Wahrheiten Platz." (J.Schillo, Ebd.) Die haben ihr Kriterium der Wahrheit am zum höchsten Gut, zum reinen Wert erhobenen Massstab des "unser Wir". So ist Raum geschaffen für "eine breit angelegte und als nationaler Besitzstand definierte Erinnerungskultur." (J.Schillo, Ebd.: 7) Einer jederzeit renovierungsbedürftigen und renovierungsfähigen Erinnerungskultur, die das deutsche Gedächtnis längst als Teil "eines gemeinsamen Gedächtnisses" (Steinmeier, Rede zum Volkstrauertag, 14.11.2021)11 definiert; als Teil nicht nur einer "gemeinsamen europäischen Erinnerung" (Steinmeier, Ebd.), sondern als Teil einer transatlantisch-deutsch-europäischen NATO-Erinnerungskultur, die mit der Gründung der NATO am 4. April 1949 das Licht der Welt erblickte.In der Ukraine-Frage gilt in der abendländisch-westlichen Wertegemeinschaft diese vom obersten Priester der abendländischen Erinnerungskultur verkündete NATO-Wahrheit als inter-nationaler, transatlantischer und deutsch-europäischer Erkenntnisstand:
Ein Krimineller will die NATO-Erweiterung als ein imperiales Projekt darstellen, das darauf abzielt, Russland zu destabilisieren. Nichts ist weiter von der Wahrheit entfernt. Die NATO ist ein Verteidigungsbündnis. Sie hat nie den Untergang Russlands angestrebt. (J. Biden, Warschau-Rede 26.3.2022)12
Was heisst: In der seit eh und je kriegsträchtigen Ukraine-Frage ist es den politischen und massenmedialen Produzenten der westlichen (Welt-) Öffentlichkeit mittels ihrer konsequenten Erinnerungsarbeit weitgehend gelungen, in ihrer alles beherrschenden "Meta-Erzählung" (Shlomo Sand, a.a.O.: 48) sachliche Hinweise dieser Art von der Öffentlichkeit fernzuhalten, mithin aus dem kollektiven Gedächtnis der NATO-Völkerschaften zu tilgen:
Als die Sowjetunion zusammenbrach, verschob sich ihre Westgrenze um fast 1.000 Meilen nach Osten, von der westdeutschen Grenze bis zur russischen Grenze zu Belarus. Die russische Macht hat sich nun so weit nach Osten zurückgezogen wie seit Jahrhunderten nicht mehr [...] Die Russen sahen in den Ereignissen in der Ukraine einen Versuch der Vereinigten Staaten, die Ukraine in die NATO zu ziehen und damit die Voraussetzungen für den Zerfall Russlands zu schaffen. Offen gesagt, war an dieser russischen Sichtweise etwas Wahres dran [...] Was Russland nicht tolerieren kann, sind enge Grenzen ohne Pufferzonen und seine Nachbarn, die sich gegen es verbünden. Aus diesem Grund werden Russlands künftige Aktionen zwar aggressiv erscheinen, in Wirklichkeit aber defensiv sein. (George Friedman, Ukraine and the 'Little cold War', Mar 4, 2014)13
Oder, in anderen Worten: Nicht wir rückten dicht an die Nato-Grenzen heran. Es ist die Nato, die bereits vor unserer Haustür steht. Russland kann nicht irgendwohin zurückweichen. Die Nato aber schon. (J.Netschajew, Botschafter der Russischen Föderation in Deutschland, 31.1.2022)14
Des ungeachtet war die die Ukraine am 07.02. 2019 so frei, ihren Beitritt zur EU und zur NATO in der Verfassung zu verankern.15 Dort heisst es: "UKRA?NY GESETZ [...] Die Werchowna Rada der Ukraine entscheidet [...] Bestätigung der europäischen Identität des ukrainischen Volkes und der Unverhandelbarkeit des europäischen und euro-atlantischen Weges der Ukraine [...] Festlegung der Grundsätze der Innen- und Aussenpolitik, Umsetzung des strategischen Kurses des Staates zur Erreichung der Vollmitgliedschaft der Ukraine in der Europäischen Union und in der Organisation des Euro-Atlantischen Vertrages.
Wie dem auch sei: fruchtbaren Boden findet die Meta-Erzählung der NATO-Erinnerungskultur mit dem Narrativ von der NATO als einem nicht um die strategische Einkreisung Russlands bemühten Verteidigungsbündnis in der vorgefundenen, ausgeprägten Parteinahme und Parteilichkeit der in den NATO-Ländern eingemeindeten Völkerschaften für ihr jeweiliges höchste Gut, für ihr jeweils heimisches "unser Wir" und dessen Wohlergehen: im Interesse des Fortkommens, des Erfolgs, der Durchsetzung eben des nationalen Kollektivs. (J.Schillo)
Vom Himmel gefallen ist dieses Partei gewordene Denken für "das grosse Wir" (Ex-Bundespräsident Gauck, 12.6.2012, "Mutbürger in Uniform"-Rede)16 allerdings nicht. Der eigentümliche Gebrauch des Verstandes, den der moderne Staatsbürger angesichts der Welt des Politischen sich zu eigen gemacht hat, muss ja einen Grund haben.
4. Über existenzielle Mittel, höhere Zwecke und die Bildung des falschen Bewusstseins
Schliesslich hat sich der moderne Staatsbürger im Sich-Einrichten und Zurechtkommen mit der Welt, so, wie sie nun einmal ist, mit seinem praktischen Ja zu den Verhältnissen, wie er sie vorfindet und wie sie ihm entgegentreten, dementsprechend auch theoretisch, gedanklich darauf festgelegt: das "unser Wir" sei ohne weitere Frage sein (Über-) Lebens-, sein Existenzmittel.In diesem, auch Allgemeinwohl oder "unser Land" genannten "Wir" und des in ihm beheimateten staatlichen Gewaltmonopols, das dieses "Wir" und die in ihm vorfindlichen Verhältnissen konstituiert, aufrecht erhält und garantiert, ist er doch geboren, zuhause, beheimatet; hier kann er leben, bestehen und sich bewähren; hier darf er sich entlang der erlaubten Freiheit mit den Mitteln, über die er faktisch verfügt, bewegen und betätigen. Solches Freiheits-Angebot einmal an- und hingenommen schliesst ein, dass dem modernen Staatsbürger auch in seiner unmittelbaren und theoretischen Vorstellung, in seinem praktischen Alltagsbewusstsein und Alltagsleben, dieses "unser Wir" notwendig zum (Über-) Lebens-Mittel, zur unausweichlichen Voraussetzung seiner Existenz gerät. Denn indem er sich den vorgegeben Verhältnissen anpasst, gebraucht der moderne Staatsbürger seinen Verstand ganz pragmatisch, realistisch und instrumentell: das Land mit seinen Gegebenheiten wird in seiner Vorstellung zu seinem Existenz- und Lebens-Mittel; und im Zuge dessen leistet er sich die Abstraktion, nicht mehr objektiv danach zu fragen, wie dieses Wir, wie dieses Land, eigentlich beschaffen ist: Er nimmt es hin, so, wie es eben ist.
Statt von dieser Abstraktion zu lassen, will der moderne Staatsbürger die ihm gewährte Freiheit nutzen und die Gegebenheiten, wie sie einfach da und in der Welt sind, benutzen. Die Gegebenheiten und Chancen, die staatliche Garantiemacht des Ganzen und das Land, in dem es ihn per Geburt zufällig verschlagen hat, erscheinen ihm als die notwendigen Mittel seines (Über-) Lebens, seiner Existenz. Allem voran die für die Mehrheit der Bevölkerung unausweichliche Lohn-Arbeit. So ergreift und begreift er diese ihm dargebotenen Mittel, so werden sie ihm wichtig, so werden sie ihm wertvoll, so erhebt er sie als ihm unbedingt zu Gebote stehende Mittel. So genommen hat er je schon begonnen, sich in dem Land, in dem er per Geburt ganz zufällig lebt, zuhause zu fühlen und für es Partei zu ergreifen. Jetzt erscheint es ihm als "sein" Land. Dass dieses Land in Gestalt von Staat, Kapital, Standort und Nation, nicht um des Wohlergehen des Einzelnen oder der Bevölkerung willen in der Welt ist; dass deshalb das Ja zu den Verhältnissen und das Sich-Einrichten und Zurechtkommen darin, nur um den Preis der Unterwerfung unter das "grosse Wir" zu bewerkstelligen ist, das sieht dieses Bewusstsein in seiner Parteinahme für das Land so nicht mehr. So macht sich der Staatsbürger im Ergreifen der vorgefundenen Verhältnisse als Mittel seiner Existenz zum Mittel der anderen, der ihm überlegenen Seite in Gestalt von Staat, Kapital, Standort und Nation. Im Frieden als "Human-Kapital" und "Standort-Ressource". Im Krieg, der von Zeit zu Zeit aus berufenen Mund verkündet wird, als lebendige Tötungswaffe und Zielobjekt der Tötungswaffen der gegnerischen Seite. Mit diesem Verkennen der Wirklichkeit ist das falsche, das staatsbürgerliche Selbst-Bewusstsein endgültig geboren.
Der staatsbürgerliche Gebrauch des Verstandes täuscht sich also über das Verhältnis von Mittel und höheren Zwecken. Ein Irrtum, ein falsches Bewusstsein mit einigen Konsequenzen.
5. Ein Irrtum und seine Folgen
Das Ja zur Welt und die aus ihm erwachsene unmittelbare und theoretische Vorstellung, die Welt, wie sie nun einmal ist, allem voran die Welt, wie sie von der heimischen Staatsgewalt eingerichtet ist, sei zum Zweck des Wohlergehens des Einzelnen eingerichtet und deshalb das einzig gangbare Lebens-Mittel für ihn, den modernen Menschen oder Staatsbürger, ist nichts als ein Fehlschluss, ein folgenschwerer Irrtum. Ein sich irrendes, ein falsches Bewusstsein, hervorgebracht durch einen Gebrauch des Verstandes, der in seiner Anpassung an die heimischen Verhältnisse, das unser "Wir" oder Land in seiner Vorstellung als Mittel nimmt, es deshalb anerkennt und will. Ein falsches Bewusstsein, das das Land, das ihm nicht gehört und dessen Eigentümer oder Besitzer der Staatsbürger nicht ist, bewahren, schützen und verteidigen will: Weil es ihm als sein unumgängliches Lebens-Mittel, als sein "höchstes Gut" erscheint.Auf der Grundlage dieses Irrtums, dieser Selbst-Täuschung, bildet das staatsbürgerliche Bewusstsein die Vorstellung und innere Haltung heraus, im Interesse der vermeintlichen Sicherung der eigenen Existenz gegen jede vorgestellte oder offenbare Bedrohung, die es wahrzunehmen glaubt und die ihm die offiziellen Priester der Erinnerung in ihrer Eigenschaft als Herren über Krieg und Frieden jeweils präsentieren, müsse er das Land, das Wir, in dem es lebt, verteidigen. Verteidigen notfalls mit aller zur Verfügung stehenden Gewalt, mag sie noch so rücksichtslos, noch so unmenschlich sein. Verteidigen mittels ausgerechnet des Krieges, den andere als es selbst bestellen und in dem der Einzelne wie das gesamte Volk als nichts anderes eingeplant und eingesetzt ist, denn als lebendiges Werkzeug im schonungslosen Kampf um Sieg oder Niederlage zwischen Staaten und Nationen.
Dieser zu jeder Gewalttätigkeit bereite Verteidigungswille ist die Konsequenz dessen, dass sich das staatsbürgerliche Bewusstsein in eins sieht und in eins macht mit dem Interesse der heimischen Staatsgewalt und dem Land, dem die heimische Staatsgewalt vorsteht und das es regiert. Soweit bringt es das falsche Bewusstsein: Indem es das Land, in dem es heimisch ist, in der Verkennung und Verkehrung des Verhältnisses von Mittel und höheren Zwecken als sein Existenz- und (Überlebens-) Mittel nimmt, wird es endgültig zum Parteigänger, Befürworter, Mitmacher und Mitstreiter des heimischen Wir. Zum willigen Vollstrecker all der Gewalt, die das Land und der Krieg von ihm fordern.
Das ist der fruchtbare Nährboden, der es ermöglicht, dass die in den NATO-Ländern eingemeindeten Völkerschaften gleichermassen wie die Völkerschaft hierzulande "als Parteigänger ihrer Regierungen im Krieg gegen Russland" (Suitbert Cechura) auf die Strasse gehen und im von der NATO und ihren Machern inszenierten Chor "Freiheit für die Ukraine" einstimmen. Ein fruchtbarer Nährboden, auf dem die vorgestellten Bedrohungen und Bilder vom aussenpolitischen Feind wann immer gewünscht, nur so blühen und gedeihen. Ein fruchtbarer Nährboden der zeigt, warum die westlichen Völkerschaften auf die "sorgfältig und mit eindeutiger Absicht über Jahre aufgebauten Hassbilder bedauerlicherweise (herein-) fallen." (Björn Hendrig): Denn was augenscheinlich "unser Wir" bedroht, das bedroht "uns alle". Also auch mich, meine Existenz, mein Leben, das Leben meiner Liebsten - so der staatsbürgerliche Gedanke. Das Tor für die offiziellen Priester der Erinnerung und ihrem Interesse, den Vorkriegs- oder Kriegszustand auszurufen, steht nunmehr angelweit offen. Lange schon, bevor der Krieg in der Ukraine begann. So ist er beschaffen, der gegenwärtige "Geisteszustand" (Renate Dillmann) in der westlichen Hemispshäre.
In der Gewissheit, dass die Maxime eines an reiner Objektivität orientierten Gebrauchs von Verstand und Vernunft, eben die in diesem Sinn "Maxime eines gesetzlosen Gebrauchs der Vernunft" (Kant, a.a.O.: 281) weit und breit nicht in Sicht ist, kann die Kriegspropaganda unter allgemeinem Zunicken gebieten: "Nicht diskutieren kann man dies: Wir sind inmitten der Gefahr eines militärischen Konflikts, eines Krieges in Osteuropa. Und dafür trägt Russland die Verantwortung (Steinmeier,13.2.2022). Und unter allgemeiner Zustimmung kann die Kriegspropaganda vom Gebrauch des Verstandes verlangen: "Jede und jeder einzelne von uns muss jetzt eine dezidierte und verantwortungsvolle Entscheidung treffen und Partei ergreifen. (A.Baerbock, 1.3.2022)17
6. Öffentliche Meinungsbildung im Ukrainekrieg - in vorauseilenden Gehorsam
Solche Aufforderungen lassen sich die modernen Meinungsmacher nicht zweimal sagen. Entspricht es doch ganz ihrem journalistischen Selbstverständnis und beruflichen Ethos, das „grösste Bildungsmittel für die Staatsinteressen überhaupt zu sein“ (Hegel) und die im „Wir“ verkörperten Staatsinteressen als um das Wohlergehen eines jeden Einzelnen bemühte Interessen zu übersetzen. Haben die Erzählungen der Vierten Gewalt die Sorge um das "Interesse des Fortkommens, des Erfolgs, der Durchsetzung eben des nationalen Kollektivs" (J.Schillo), des "unser Wir", zum Zweck und Inhalt, dann sind Bild und Sprache in der massenmedialen Erzählung nur noch geschickt und mit Bedacht auszuwählen, um beim staatsbürgerlichen Bewusstsein Gehör und Zustimmung zu finden: das oben beschriebene irrtümliche und falsche, das staatsbürgerliche Bewusstseins vorausgesetzt.In Kriegszeiten wie im gegenwärtigen Krieg in der Ukraine geht es vor allem darum: Die unser „Wir“ bedrohenden Subjekte und Ereignisse sind im spezifischen Medium des journalistisch aufgemachten (Feind- oder Bedrohungs-) Bild auch sprachlich so zu übersetzen und zu gestalten, dass der Feind oder die Bedrohung mehr oder weniger greifbar, unmittelbar nahe ist: auf dem Sprung, unser „Wir“, dieses höchste Gut, zu erobern oder zu zerstören. Womit die Böswilligkeit der Absicht und des Charakters des Feindes oder der Bedrohung im Grunde schon genügend beschrieben sind. Das zu einem appellativ-dramatischen Gemälde auszumalen, macht die journalistische Kunst aus. Die ist umso wertvoller für das Staatsinteresse an Krieg und Gewalt, als auf dem Nährboden des falschen Bewusstseins der Wille erweckt und erwacht, unser „Wir“ oder Land notfalls mit aller Gewalt gegen Feind und Bedrohung zu verteidigen. Das verlangt allerdings gewisse Korrekturen in den bisherigen Tugenden des Mitmachens und sich Bescheidens.
Gefordert sind dafür zwar nicht ganz unbekannte, in ihrer Radikalität dennoch ungewohnte, neuartig anmutende Sitten des Denkens, des Nachdenkens und des Verhaltens. Unterstellt ist dabei ohnehin, dass die öffentliche Meinungsbildung sich eines konstruktiven, eines "allein erlaubten Gebrauchs" (Kant. a.a.O.: 275) ihres Verstandes befleissigt; und dergestalt in Sorge um das heimische Wir, dessen Vorankommen und Erfolg nach innen und aussen zum Massstab und Wahrheitskriterium ihrer Informationstätigkeit macht.
Nunmehr aber, wo es darum geht, das Volk auf die Realität des (Ukraine-) Krieges einzustimmen und sie für die Kriegstaten und Kriegsfolgen, die ihnen die für Kriegszeiten und Krieg allein zuständigen Entscheidungsträger in Washington, Berlin, Brüssel und im NATO-Hautpquartier auferlegen, zu gewinnen und bei Laune zu halten, hat sich die öffentliche Meinungsbildung am unlängst ausgegebenen "klaren Wertekompass" (A.Baerbock) zu "orientieren" (Kant). Zum einen ist die Tugend der Toleranz, das Zulassen, Erdulden und Ertragen anderer Meinungen und pluraler Sichtweisen angesichts des Krieges in der Ukraine hintan zu stellen. Zurückzustellen zugunsten der puren Parteilichkeit und Parteinahme für die dem Publikum dargebotene Meta-Erzählung der NATO und ihrer Wahrheit, die darin besteht, dass nicht von einer Einkreisung Russlands via NATO, sondern umgekehrt von einem russischen Eroberungsfeldzug zu reden ist. Diesem Erfordernis kommt die öffentliche Meinungsbildung auftragsgemäss und ihrem Berufsethos entsprechend nach. Vorzugsweise Bilder von weinenden, verstörten oder traumatisierten ukrainischen Kindern und ihren verzweifelten Müttern belegen nicht die Unmenschlichkeit eines Krieges, sondern die des (russischen) Feindes. Zum anderen durch sorgfältig ausgewählte Gäste, Politiker, Professoren, welt- und geopolitischen Experten aus den Denk-Fabriken, die in den zahllosen sogenannten talks-shows allesamt dasselbe zu berichten wissen. Die Kriegsberichterstatter vor Ort runden das Bild des (russischen) Feindes und der Bedrohung für uns alle ab.
Im vorauseilenden Gehorsam fühlt sich die öffentliche Meinungsbildung weiter dazu berufen, die Damen und Herren über Krieg und Frieden, über Leben und Tod mit Fragen der Art zu bedrängen: Warum hat Deutschland solange gezögert, endlich Waffen an die ukrainische Regierung zu liefern und Nordstream 2 zu beenden? Will Deutschland wirklich keine Flugverbotszone wagen? Greifen die politökonomischen Sanktionen des totalen Wirtschaftskrieges gegen die Russische Föderation weit genug, um in Russland möglicherweise über die Zerstörung seiner ökonomischen Grundlagen einen Staatsumsturz mittels der massiven Verarmung und Verelendung der russischen Bevölkerung zu bewerkstelligen? Auch hier eine ausgeprägte Liebe zur kriegerischen Gewalt: Zu einer Gewalt, die immer schon gute Gründe für sich weiss und deshalb gerechte gegen unrechtmässige Gewalt ist.
Was die die staatlicherseits "über Jahre aufgebauten Hassbilder" (Björn Hendrig) angeht, so fällt die öffentliche Meinungsbildung auf diese Bilder des Hasses nicht herein: In sittlich-ethischer Verantwortung für das "grosse Wir" (Ex-Bundespräsident Gauck) und dessen jederzeit gewaltbereites und kriegsträchtiges Gelingen, gebraucht die öffentliche Meinungsgbildung ihren Verstand und ihre Vernunft dahingehend, dass sie an der Konstruktion solcher Bilder konstruktiv mitarbeitet und die solcherart erstellten Bilder des Hasses dem Publikum präsentiert und transportiert. So ist der von den politischen Machern konstruierte, imaginäre Schuldige auch massenmedial bestätigt, um im kollektiven Gedächtnis der westlichen Völkerschaften rund um die Uhr allgegenwärtig zu sein.
Dass die Bedrohung überhaupt exklusiv von aussen kommt, gegen die die die abendländisch-westliche Freiheit und "Lebensform" (Harry S.Truman 1947) mit NATO-Bündnis unter US-Führerschaft verteidigt werden muss, nicht nur in der Ukraine, sondern aus Verantwortung für den Frieden in der Welt und um der Menschlichkeit willen, weltweit: Diese Erzählung ist als die alles dominierende Meta-Erzählung in das kollektive Gedächtnis der in der NATO und im Westen eingemeindeten Völkerschaften dank seit 1945 währender Erinnerungsarbeit durch die offiziellen Priester der Erinnerung und ihrer berufenen Assistenten eingraviert, eingebrannt. Das erleichtert die Beantwortung der Frage, wer "schuld" am Krieg ist, ungemein. In Kriegszeiten wie im gegenwärtigen Krieg in der Ukraine in besonders radikaler Weise: Gerade in diesem Krieg eröffnet die Konstruktion und Benennung des imaginären Schuldigen das moralisch unermesslich ergiebige Feld der Kriegschuldfrage und das mit ihr einhergehende Vorab-Urteil, wer sich ganz gewiss Kriegsverbrechen schuldig macht. Denn diese Gewissheit haben die allein zuständigen politischen Entscheidungsträger über Krieg und Frieden zu Recht: Einen Krieg ohne Kriegsverbrechen gibt es nicht.
7. Die Kriegsschuldfrage und die Frage nach den Kriegsverbrechen - sind längst gelöst!
Dieser Krieg ist Putins Krieg. Dieser Krieg ist ein Angriff auf unseren Frieden in Europa. Dieser Krieg ist ein Angriff auf unsere Freiheit. Dieser Krieg ist ein Angriff auf das internationale Völkerrecht.Dieser Krieg ist ein Angriff auf all die Werte einer regelbasierten internationalen Ordnung.
Dieser Krieg ist ein Angriff auf das menschliche friedliche Miteinander. (A.Baerbock, Rede im Bundestag zum Russlandkrieg, 27.2.2022)18
Unser Herz pocht heiss gegen das Unrecht dieses Krieges (Steinmeier-Rede, Konzert 'Für Freiheit und Frieden', 27.3.2022)19
Klargestellt ist mit dieser Verlesung der Anklageschrift unter Berufung auf das Völkerrecht, dass die Richter, die hier ihres Amtes walten, erstmal in Berlin, Brüssel und Washington zuhause sind; ebenso der zuständige Gerichtsort der Rechtssprechung, Urteilsfindung, Urteilsverkündung, Strafzumessung und Bestrafung. Ihres Amtes walten diese Richter, die zugleich als Chefankläger fungieren, in der nicht gerade bescheidenen Selbstgewissheit, Recht zu haben und zwar aufgrund eines unerschütterlichen Rechts- und Gerechtigkeitsbewusstseins. Mit dem ausgestattet wissen sie entlang ihrer welt- und geopolitischen Interessen bestens Bescheid über die Legalität und Illegalität, über die Legitimität und Illegitimität, über die Sittlichkeit oder Sittenlosigkeit von Gewaltanwendung durch andere Ihresgleichen zu urteilen. Ihre richterliche Unparteilichkeit ist dadurch gegeben, dass sie im Namen der Menschlichkeit und Menschheit urteilen und handeln. Als solche Richter und Chefankläger mit globalem Weitblick können sie in Sachen Völkerrecht agieren, weil sie über die massgeblichen polit-ökonomischen und militärischen Gewaltmittel verfügen.
Damit haben sie auch die Freiheit, entlang völkerrechtlicher Titel und Normen zu definieren, wann ein Angriffskrieg vorliegt und wann das "das Naturrecht individueller oder kollektiver Selbstverteidigung" (UN-Charta Art. 51) gegeben ist. Im Fall eigener, demokratisch legitimierter Gewaltanwendung liegt per definitionem nie ein Angriffskrieg vor, mag die eigene Gewaltanwendung auch die territoriale Integrität und Souveränität eines fremden Landes gleichsam "in die Steinzeit" zurückgebomt und andernorts noch so viele Trümmerwüsten, Staatsumstürze oder failed states hinterlassen haben. Solche Gewaltanwendung setzt lediglich das, gerne auch als präemptiv betitelte, gewissermassen antizipatorische "Naturrecht individueller oder kollektiver Verteidigung" in Kraft.
Im Falle Russlands ist die Sachlage anders: Weil es Russland ist, ist es eine unerlaubte Gewaltanwendung, ein unerlaubter Krieg. Weil es ein unerlaubter Krieg ist, ist es "Putins Krieg". Beides zusammen genommen ergibt: Es ist ein illegaler und ein illegitimer Krieg. Also liegt der Tatbestand eines "Angriffs"-Krieges vor. Moralisch-ethisch gewendet: eine "Aggression". Allerdings auch nur dieser Krieg. Das betont die Anklageschrift gleich sechsmal. Die eigenen Gewaltvorhaben und Gewalthandlungen, die seit dem Feuersturm über Tokio vom 9.-10. März 1945 bis heute vollbrachten Gewalttaten der USA und der diversen NATO-Kriege, waren und sind, so gesehen, logischerweise keine Angriffskriege, keine Aggression. Das führen sie auch im gegenwärtigen Krieg in der Ukraine vor, den sie tatkräftig am Laufen halten, in die Länge ziehen und so an der Spirale der Gewalt weiterdrehen. Ihre faktische Kriegsbeteiligung ist schon immer mit einem "klaren Wertekompass" (A.Baerbock) ausgestattet, der zwischen Gut und Böse, zwischen erlaubter und unerlaubter Gewaltanwendung präzise zu unterscheiden weiss.
Was Russland angeht, so steht ihm, eben weil es Russland ist, das "Naturrecht" individueller Selbstverteidigung, das völkerrechtlich anerkannte Recht zum Krieg, das jus ad bellum als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, grundsätzlich nicht zu. Woraus folgt, dass, wenn Russland für sich das jus ad bellum geltend macht oder gemacht hat, es nie ein gerechter Krieg, kein bellum justum sein kann und sein konnte. Höchst unbefriedigend ist andererseits, dass Russland seit 1949, fünf Jahre den Atombombenabwürfen in Hiroshima und Nagasaki durch das demokratische Amerika, zur Nuklearmacht aufstieg und mit diesem Gewaltpotenzial in der Hand für sich beansprucht zu entscheiden, wann es das jus ad bellum in Kraft setzt. Unter anderem diese Realität hat Russland zum Feind aller Feinde der amerikanischen Weltfriedensordung und des NATO-Westens gemacht. Das qualifiziert Russland "zum Reich des Bösen" (Johannes Schillo)20 und legt es darauf fest, dass "der neue Feind der alte ist: Russland!" (Johannes Schillo)21
Aber dennoch: Die Freiheit, für sich zu entscheiden, wann es das jus ad bellum nach Artikel 51 der UN-Charta in Anspruch nimmt, die hat sich Russland nicht nehmen lassen. So eben auch nicht in der für es existenziell empfundenen Ukraine-Frage angesichts seiner strategischen Einkreisung durch die NATO unter US-Führerschaft.22 Und nachdem die USA und die NATO die russischen Vertragsvorschläge vom 15. Dezember 202123 zur klärenden Lösung in dieser für es alles entscheidenden geostrategischen Frage in ihrer schriftlichen Antwort als "inakzeptabel" mit dem bemerkenswerten Argument: "Die NATO ist ein Verteidigungsbündnis und stellt keine Bedrohung für Russland dar" abgelehnt hatten;"24 und darüber hinaus Selenskyi in seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz am 19. Februar 202225, wie schon der ukrainische Botschafter A. Melnyk seit 2016 mehrfach, eine nukleare Wiederbewaffung der Ukraine unter Aussetzung des Budapester Memonrandums vom 5. Dezember 1994, in Ausicht gestellt hat, war für die Russische Föderation die rote Linie überschritten und der Einmarsch in die Ukraine begann am 24. Februar 2022.
Die nicht völkerrechtliche, sondern moralische Kriegsschuldfrage ist andererseits seit spätestens März 2021 längst dadurch geklärt, dass der US-Präsident in weiser Voraussicht den Präsidenten der Russischen Föderation für die Weltgemeinschaft verbindlich als "Killer" (Biden, März 2021) bestimmte. Gebahnt ist damit der Weg für das vorab bereits feststehende Urteil, dass im kommenden Krieg gegen Russland Putin ein Monster und die russische Kriegsführung ein Kriegsverbrechen sind. Die mit dem russischen Einmarsch in die Ukraine öffentlich inszenierte Kriegsschuldfrage war deshalb nie eine Frage, sondern eine Waffe, um den der ganzen Weltöffentlichkeit bereits bekannten Schuldigen, mit der ganzen moralischen Wucht eines "Kriegsverbrechers" (J.Biden, 17. März 2022)26 zu belegen. Dies, um "den Feind gleichzeitig in moralischen und anderen Kategorien herabsetzen und zum unmenschlichen Scheusal machen müssen, das nicht nur abgewehrt, sondern definitiv vernichtet werden muss, also nicht mehr nur ein in seine Grenzen zurückzuweisender Feind ist." (Carl Schmitt, 1932: 37)27
Was beweisen die Ereignisse in Butscha noch vor jeder näheren Klärung? Eben dies, dass Putin das unmenschliche Scheusal ist und die russische Kriegsführung demnach aussieht. In anderen Worten: "Putins hemmungslose Gewalt löscht unschuldige Familien aus und kennt keine Grenzen. Die Verantwortlichen für diese Kriegsverbrechen müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Wir werden die Sanktionen gegen Russland verschärfen und die #Ukraine noch stärker bei ihrer Verteidigung unterstützen." (A.Baerbock, Apr 3, 2022·Twitter)28
Kriegsverbrechen verhindern die Richter und Chefankläger in Washington, Brüssel und Berlin, indem sie den Krieg in der Ukraine, in dem sich die per Kriegspropaganda in Umlauf gebrachten Vorstellungen vom Anderen als einem unmenschlichen Scheusal austoben, verlängern bis hin zur "Äusserste(n) Anwendung von Gewalt." (Clausewitz, 1832)29 So nimmt es kein Wunder, dass, und dieses mal offensichtlich gut dokumentiert, tatsächliche Kriegsverbrechen der ukrainischen Seite eingestanden werden müssen.30 So gut dokumentiert, dass auch die Bild-Zeitung einräumt, die ukrainischen Kriegsverbrechen an russischen Kriegsgefangenen seien schwer anzuzweifeln 31, was auch der Selenskyj-Berater Oleksiy Arestovych nicht in Abrede stellt.32
Zur Sorge, ukrainische Kriegsverbrechen könnten dafür geeignet sein, in der westlichen Weltöffentlichkeit und in der UNO am klaren "Werte-Kompass" (A.Baerbock) der USA und der NATO gewisse Zweifel aufkommen und das kühne Projekt scheitern lassen, Russland aus dem UN-Menschenrechts-Rat zu bugsieren und, welch ein Traum, auch noch aus dem UN-Sicherheitsrat zu entfernen, gibt es andererseits keinen Anlass; weiss doch nicht nur die Bild-Zeitung, sondern die gesamte westliche Weltöffentlichkeit: an den offenbaren ukrainischen Kriegsverbrechen gegenüber russischen, gefesselten Gefangenen ist der allen bekannte neue, diesmal russische Hitler und der "russische Faschismus"33 schuld.
Damit ist nicht gesagt, russische Kriegsverbrechen seien ausgeschlossen. Vielleicht erweisen sich die Geschehnisse in Butscha und anderswo tatsächlich als von russischer Seite begangene Kriegsverbrechen. Bewiesen ist damit aber nicht die Scheusalhaftigkeit der russischen Volksseele und seines Hitlers, sondern die Barbarei des Krieges, zu dem sich die Staaten und Nationen dieser Welt in ihrer Konkurrenz gegeneinander im "Naturrecht individueller oder kollektiver Selbstverteidigung" (UN-Charta Art. 51) bekennen und damit den Kriegsverbrechen, die dem Krieg immanent sind, die freie Bahn verschaffen. Das in den Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 schriftlich fixierte humanitäre Kriegsvölkerrecht (jus in bello), wie die völkerrechtliche Kategorie "Kriegsverbrechen" selbst belegen das der Natur des Krieges innewohnende "rohe Element" (Clausewitz, 1832, a.a.O.: 18): kein Krieg ohne Kriegsverbrechen.
Die unter Inanspruchnahme völkerrechtlicher Kategorien und Normen moralisch gestellte Kriegsschuldfrage und die Frage nach den Kriegsverbrechen waren längst beantwortet, bevor die Kriegshandlungen in der Ukraine begannen. In der imaginären Figur eines neuen Hitlers ist der Schuldige benannt. Desgleichen die russischen Kriegsverbrechen: die haben schon stattgefunden, bevor sie stattfinden konnten. Ganz sind die Tiefen der russischen Volksseele aber noch nicht ausgelotet.
8. Homo Sovieticus - eine demokratische Meistererzählung
Ja, es ist tugendhaft, keine Feindbilder zu haben, aber man darf doch nicht so blöd sein zu denken, die Feindschaft gibt es nicht mehr. (Ex-Bundespräsident Gauck im Gespräch bei Sandra Maischberger, 9.3.2022)34Getrieben von der "Liebe zu den Unterdrückten" - in der Ukraine; und "wenn man Verantwortung hat für Menschen und ganze Völker"; dann gilt heutzutage: "man muss den Homo Sovieticus lesen können". Für sich kann der Ex-Bundespräsident sagen: "Es ist möglich, diesen Typus zu lesen." Liest der Ex-Bundespräsident schon mal stellvertretend für uns Alle diesen "Typus" und blickt dieser Priester der Erinnerung dabei zugleich zurück, dann hat man, entsprechend der typisch russischen Volksmentalität und Volks-Seele, "eine Geschichte des Panzersozialismus vor Augen". Das sieht "der übersättigte Westen" offenbar nicht so ohne weiteres, weshalb er daran erinnert werden muss. In ihrem tiefen Blick für ethnische Charaktermerkmale ist die demokratische Völkerpsychologie und Volkskunde hier beinahe schon am Ende ihrer Studien über den östlichen und den westlichen Volkscharakter angelangt. Aber noch nicht ganz. Was die östliche Volksseele angeht so ist festzustellen, dass sie einem Führer folgt, der "despotische Züge" hat. Diese despotischen Züge verdanken sich dem: dieser Führer hat "verschiedene Prägungen, die sich aus der alten kommunistischen Zeit verbinden mit einem neuen imperialen Gestus." Das "sieht man an seinen brachialen diktatorischen Absichten und darum sind seine Nachbarn in grosser Gefahr". Denn: "Die Länder in seiner unmittelbaren Nachbarschaft, die will er tributpflichtig machen." So ist er, der Führer der russisch-östlichen Volks-Seele, der "eine neue, imperiale Grösse Russlands will." Kein Zweifel, die Gefahr ist immens: "Wir durchleben im Osten augenblicklich eine schwere militärische Belastung. Der Ansturm der Steppe gegen unseren ehrwürdigen Kontinent ist in diesem Winter mit einer Wucht losgebrochen, die alle menschlichen und geschichtlichen Vorstellungen in den Schatten stellt." (Goebbels, 18.Februar 1943)35
Wie also Putin und "seine bis an die Zähne bewaffneten Horden" (A.Melnyk, ukrainischer Botschafter, 15.2.2022)36 in seinem "pseudo-historischen, nationalistischen Wahn" (Steinmeier, 27.3.2022)37, wie "die russischen Orks" (A.Melnyk, 25.3.2022)38, die Putin befehligt, stoppen und "den Weltfrieden retten"? (A.Melnyk, 15.2.2022) Da gibt es die eine, zu allen Kriegszeiten bewährte Methode, das sittlich-ethische Bewusstein und Selbstbewusstsein der Bevölkerung39 daheim an das nun Notwendige zu erinnern: "Liebe junge Leute, wir sind stärker als unsere Angst es uns einredet; und wir können auch einmal frieren für die Freiheit; und wir können auch für ein paar Jahre ertragen, dass wir weniger Lebensglück und Lebensfreude haben; eine generelle Delle in unserem Wohlstandleben ist etwas, was Menschen ertragen können." (Gauck) Diesem Aufruf zur sittlichen Pflicht schliesst sich der gegenwärtige Bundespräsident vorbehaltlos an: "Ja, es kommen auch auf uns in Deutschland härtere Tage zu [...] Und die ganze Wahrheit ist: Viele Härten liegen erst noch vor uns". (Steinmeier, 27.3.2022) Es wäre doch gelacht gelänge es nicht, das höchst "defizitäre Lebensprinzip" (Gauck) des deutschen Volkscharakters so umzubilden, dass die Deutschen aus ihrer Charakterhaltung der defizitären "Eigenfürsorge" ausbrechen. Dann "erleben sie auch eine Erweiterung ihres Ichs, das Leben wird dann schön, obwohl es schwieriger wird; und es wird nicht so sein, dass diejenigen, die unten sind, vergessen werden."
9. Ausblick: Schon längst über den Ukrainekrieg hinaus
Wenn wir uns im Kräftemessen des 21. Jahrhunderts global behaupten wollen, dann müssen wir alle unsere Instrumente auf die Höhe der Zeit bringen – militärisch, politisch, analog, digital, technologisch. (A.Baerbock , 18.3.2022)Massstab für das gigantische Aufrüstungsprogramm der USA und der NATO ist nicht der Krieg in der Ukraine und die mit ihm verkündete "100 Milliarden-Zeitenwende", sondern das Recht der "westlichen Lebensform" (Harry S. Truman) auf erfolgreiche Selbstbehauptung im "Kräftemessen des 21. Jahrhunderts." EU-Global Strategy 2016, EU-Bedrohungsanalyse, Strategischer Kompass und Dialog, Anspruch der grundsätzlichen (Neu-) Gestaltung einer regelbasierten Weltordnung, NATO 2030, nicht zuletzt die deutsche Nationale Sicherheitsstrategie (NSS), waren längst vor und über den Ukrainekrieg hinaus projektiert. Neu an der ausgerufenen Zeitenwende ist eher dies: Die Systemfeindschaft gegenüber Russland zu ihrem erfolgreichen Ende zu bringen, wozu der Krieg in der Ukraine eine gute Gelegenheit bietet; und, in diesem Zug, die in den USA und NATO-Ländern inkorporierten Völkerschaften auf das Vorkriegs- und Kriegsprogramm dahingehend einzustimmen, dass die neue Sittlichkeit lautet: ausnahmslose Parteilichkeit fürs nationale, europäische und, das immer noch, transatlantische Wir oder Wertegemeinschaft; weiter: Verzicht- und Opfergesinnung als neues sittliches Selbstbewusstsein; darüber hinaus: Pflege des (imaginären) Bild des russischen Hauptfeindes. Gelingt all dies zufriedenstellend, dann ist die Liebe zur gerechten Gewaltanwendung gegen ungerechte Gewaltanwendung so frei sagen zu können:
"Man muss immer im konkreten Fall prüfen, ob ein Einsatz zu mehr oder zu weniger Leid führen wird und ob er auf dem Boden des Völkerrechts steht.“ (A. Baerbock, 26. April 2021, https://www.gruene.de/artikel/mit-dialog-und-haerte)
Ist das gewissenhaft geprüft, dann steht auch einer notfalls nuklearen Auseinandersetzung mit dem Aggressiven und Bösen nichts mehr im Wege."40