In gewisser Hinsicht könnte man auch sagen – was im Untergrund-Blättle kurz vor Kriegsbeginn schon Thema war –, dass Deutschland sich treu bleibt und der neue Feind der alte ist: Russland! (Vgl. „Russland – das Reich des Bösen!“. Aussenministerin Baerbock hat den „erinnerungspolitischen“ Bezug, natürlich mit anderer Akzentsetzung, bei der Ankündigung einer Nationalen Sicherheitsstrategie für Deutschland ebenfalls hergestellt und an „die Geschichte unseres Landes“, an „unsere deutsche Verantwortung“ erinnert: „Ich sage es hier ganz klar: Ja: Aus unserer Geschichte, aus der deutschen Schuld für Krieg und Völkermord erwächst für uns, erwächst für mich in der Tat eine besondere Verantwortung: Und zwar die Verpflichtung, jenen zur Seite zu stehen, deren Leben, deren Freiheit und deren Rechte bedroht sind.“
Ganz im Sinne der vom Bundeskanzler angesagten Zeitenwende vollzieht sich heute dieser Aufbruch zur Bekämpfung der östlichen Gefahr im Bündnis und nicht – wie 1941 – im Alleingang, wobei die deutsche Initiative natürlich nicht verschwiegen werden darf. Baerbock: „Die Europäische Union formuliert derzeit erstmals so ausführlich wie noch nie eine sicherheitspolitische Strategie. Die Initiative dazu hat unser Land, hat Deutschland vor einiger Zeit ergriffen. Und dieser Strategische Kompass, der jetzt auf dem Tisch liegt und natürlich nochmal angepasst wird, muss und wird den neuen Realitäten auf unserem Kontinent Rechnung tragen.“ Zu beachten ist bei diesem Statement auch, dass der militaristische Aufbruch zu neuen Ufern bereits geraume Zeit „vor Putins Rückfall auf eine militärische Politik“ (Herfried Münkler, swr.de, 25.2.22) stattfand, also keine blosse Reaktion darstellt.
Deutschland blickt als selbstbewusste Nation nach vorn, auf die vor ihm liegenden Aufgaben – europäische Aufrüstung, Aufstellung als führende Militärmacht, – und nicht schuldbewusst zurück. Genauer gesagt, man blickt nach Russland, entdeckt einen Präsidenten, „der zunehmend in Nazi-Jargon verfällt“ (General-Anzeiger, 21.3.22), und damit die eigene deutsche Vergangenheit. Denn: Putin ist der neue Hitler, wahlweise der grösste Kriegsverbrecher aller Zeiten, und hierzulande gibt es kaum Kritik an Selenskyjs Diagnose, dass die russische Führung die „Endlösung“ der Ukrainefrage betreibt (vgl. „Ein ungeheuerlicher Vergleich“).
Ganz neu ist das freilich auch nicht. Schon 1999 hatte Baerbocks Vorläufer, der grüne Aussenminister Fischer, beim Überfall auf Serbien vorexerziert, wie man per Krieg einen Holocaust verhindert. Aber jetzt ist der Gegner natürlich ein anderes Kaliber und die Aufgabe von weltpolitischer Dimension.
Russischer Faschismus?
Die Zeit (Nr. 12/22) hat bei der Gleichung „Putin = Hitler“ daher tiefer gebohrt und mit Hilfe des US-Historikers Timothy Snyder Bemerkenswertes zur Genese des aktuellen russischen Faschismus zu Tage gebracht. Die zentrale Gestalt ist demnach der russische Philosoph Iwan Iljin (1883-1954), ein strammer Antikommunist, der seinerzeit die orthodoxe Kirche und den Faschismus verherrlichte. „Heute inspiriert er das Denken und Handeln Wladimir Putins… Der russische Präsident bezieht sich seit 2005 in Reden auf ihn. Vor der Annexion der Krim stattete er seine Beamten mit Iljins Aufsatzband Unsere Aufgaben aus.“Ja, nicht nur der Ukraine-Krieg ist von diesem faschistischen Nationalideologen inspiriert, sondern mit seiner Philosophie in der Hinterhand betreibt Putin allerlei subversive Aktivitäten im Internet und anderswo, so dass „die Krise der westlichen Demokratien und das Erstarken der rechten sadopopulistischen Bewegungen“ hier bei uns letztlich den russischen Manipulationen zuzuschreiben seien. Ob Trump, ob Brexit oder das generelle Erstarken des Rechtspopulismus in der „freien Welt“ – immer steckt also der Russe dahinter!
Der Hochschullehrer Micha Brumlik dagegen weiss, dass „der Philosoph hinter Putin“ (taz, 4.3.22) Alexander Dugin heisst. „Vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine ist es höchste Zeit, Wladimir Putin als einen Revolutionär im Geiste des rechtsextremen Dugin zu begreifen.“ Kein Zufall soll es ausserdem sein, dass der Nationalideologe Dugin zu einem Vordenker der Rechtsradikalen in Deutschland wurde, „plädiert dieser doch für eine radikale Umkehr des politischen Denkens, für eine ‚Kehre', weswegen er immer wieder auf den – auch hier von der Neuen Rechten hochgeschätzten – Philosophen Martin Heidegger verweist.“ Dugin veröffentlichte 2011 in Russland das Buch „Heidegger: Die Möglichkeit der russischen Philosophie“ und indoktrinierte so laut Brumlik nicht nur Putin, sondern auch deutsche Ideologen: „Über Dugin hat Heideggers Denken Eingang in die Ideologie der deutschen Identitären gefunden“.
Die Entdeckung des russischen Rechtsextremismus passt auch gut ins Bild, das die hiesigen Medien gegenwärtig vom Krieg in der Ukraine und von dessen nationalen Helden zeichnen. Man kann es nämlich nicht mehr ganz verschweigen, dass sich dort, etwa beim Asow-Regiment, Rechtsradikale heimischer wie ausländischer Bauart tummeln. Ungerührt wird ja auch hierzulande mitgeteilt, dass um den faschistischen Helden Stepan Bandera ein Nationalkult veranstaltet wird. Von „Bandera-Smoothies“, mit denen der Volkswiderstand Putins Panzertruppen begrüsst, schreibt begeistert die deutsche Presse (General-Anzeiger, 2.3.22).
Der ukrainische Botschafter Melnyk legt am Grab des OUN-Faschisten Bandera Blumen nieder etc. pp. Das wird inzwischen schon mal in der deutschen Presse kritisiert (vgl. FR, 22.3.22 sowie den Telepolis-Kommentar, die sich bei Kriegsbeginn fassungslos gab, wieso Putin von einer Entnazifizierung der Ukraine sprechen konnte. Jetzt heisst es an die russische Adresse gerichtet: Selber Nazis! Bei euch zuhause gibt es viel mehr Rechtsradikale als in der Ukraine, wo sie eigentlich harmlos, da ins reguläre Militär integriert sind.
Am Erstaunlichsten im Blick auf die deutsche Situation sind allerdings Aussagen von Snyder oder Brumlik, die im russischen Faschismus gleich noch die Brutstätte entdecken, aus der die hiesigen rechten Ableger hervorgegangen sein sollen. Der Russe Dugin hat Heideggers Denken in die neueste deutsche Ideologie am rechten Rand eingeführt!? War dieser alte Nazi-Philosoph denn hierzulande unbekannt? Fehlt da nicht ein ganzes Kapitel?
Deutscher (Un-)Geist
Brumlik scheint auch ganz vergessen zu haben, was er noch im letzten Jahr veröffentlichte, etwa im Rahmen des „Zentrum Liberale Moderne“ (siehe „Adenauers Geist im Dunstkreis der Grünen“. Dort wurde der neue Rechtstrend in Deutschland seziert, der an ältere, aber in der Nachkriegs-BRD durchaus geschätzte Denker wie Spengler oder Heidegger anschliesst. Brumlik entdeckte hier eine bemerkenswerte geistige Kontinuität. Was die neurechten Interpreten mit Heidegger veranstalten, sei kein Missbrauch einer philosophischen Tradition Deutschlands, sondern eine adäquate „Diskursstrategie, die auf völkische Emotionalisierung“ setzt und anstelle „eines aufgeklärten Begriffs menschlichen Fortschritts den heroischen Realismus einer schicksalhaften Bewährung im ‚Eigenen' eines nur ethnisch und herkunftsbezogen verstandenen ‚Volkes'“ präferiert. Eben seinsphilosophisches Schwurbeln at its best!Das war aber nicht Brumliks letztes Wort. In bester neudeutscher Tradition wiederholte er anschliessend die bekannte Würdigung Heideggers und zollte den erklommenen seinsphilosophischen Höhen Anerkennung. An Heideggers „Bedeutung für die Philosophie des 20. Jahrhunderts“ darf laut Brumliks Resümee „weder sein Eintreten für Hitler noch seine zuletzt unübersehbar gewordene antisemitische Haltung etwas ändern“. Der ganze Aufwand führte also wieder da hin, wo man im Adenauer-Staat war: Wer wie Heidegger „uralte Fragen der abendländischen Philosophie“ aufgreift, hat uns heute – Faschismus hin oder her – immer noch viel zu sagen. (Vgl. „Heidegger und die faschistische Konsequenz der Philosophie“)
Hochgeschätzt wird der Faschist Heidegger also nicht nur von Dugin, Putin und Co., sondern auch von deutschen Rechtsradikalen, von Professoren wie Brumlik oder von einem Politiker wie Robert Habeck, der als junger Akademiker von Heidegger fasziniert war, da dieser „den Menschen als Teil einer Seinstotalität“ denke, „die dem individuellen Dasein immer schon vorausgeht“. Für die Neuorientierung der grünen Partei, so Habeck in einem Interview 2013, stelle diese philosophische Traditionslinie einen „Strang der grünen Ideengeschichte“ dar – eine geistesgeschichtliche Verbindung, die noch 2018 auf entschiedenen liberalen Einspruch traf.
Eine solche Wertschätzung steht übrigens im besten Einklang mit einer westdeutschen Nachkriegstradition. Die deutschen Philosophen waren 1933 – von einigen marxistischen und jüdischen Emigranten abgesehen – fast komplett ins NS-Lager gewechselt, konnten aber nach 1945 fast ungestört weiter machen. Das gilt auch für den bekennenden Faschisten Heidegger, der sich bereits vor 1933, als er mit seinem Opus „Sein und Zeit“ Furore machte, fürs NSDAP-Programm erwärmte. Und der Notwendigkeit eines völkischen Aufbruchs und eines heroischen Realismus in Gegnerschaft zu den Dekadenzerscheinungen einer jüdisch-marxistischen Moderne blieb er auch nach 1945 treu. Nach einer kurzen, eher symbolischen Pause konnte Heidegger im Adenauer-Staat zu seiner Hochschultätigkeit zurückkehren.
Faschistischer Nationalideologie – in veredelter philosophischer Gestalt und um einige zu offenkundige Nazi-Bezüge bereinigt – wurde also ein munteres Weiterwirken nach dem Krieg garantiert. Das macht die Breite und Tiefe deutschen Geistesleben bis auf den heutigen Tag aus, denn dass der Mensch sich dem Grossen Ganzen, einer höheren Bestimmung etc. unterzuordnen hat, möchte ja kaum ein Philosoph von nationalem Rang bestreiten.
Dazu gehört ebenfalls die nationalreligiöse Veredelung des Kriegsgeschehens. Wenn es um einen Krieg mit Russland geht, stehen christliche Kirchenführer in Deutschland, wie etwa die neueste Befürwortung von Waffenlieferungen und das Überdenken der „Friedensethik“ bei der katholischen Bischofskonferenz zeigen, Gewehr bei Fuss (vgl. „Helm auf zum Gebet!“ – so wie übrigens die ukrainisch-orthodoxe Kirche zu Selenskyj steht und das russische Oberhaupt dieser Orthodoxie, Patriarch Kyrill, zu Putin, der mit Hilfe der heimischen faschistischen Tradition seinen Antikommunismus als frommes Anliegen ausschmückt.
Nationales Heldentum
Wenn der Gegenstandpunkt Putins diesbezügliche Ausführungen als „nationalideologischen Stuss“ klassifiziert, dann steht er also ausnahmsweise mal nicht allein. Dass hier nationalistisch geschwurbelt wird, fällt noch dem letzten westlichen Beobachter auf. Nur eins ist bemerkenswert: Wenn Putin ins nationale Horn stösst, dann entdeckt der Westen nicht den allseits geteilten Standpunkt vaterländischer Begeisterung, noch nicht einmal – siehe den Fall Dugin – die Ursprünge in der hochgeschätzten deutschen Geistestradition, sondern fremde slawische Einflüsse, die zudem noch die eigentliche Triebkraft hinter dem Rechtstrend im freien Westen darstellen sollen.So ist das Feindbild komplett: „Bei viel zu vielen Menschen in Russland hat sich die Verachtung für den liberalen Westen zu tief ins Bewusstsein gegraben“, als dass man auf Regime Change von Innen hoffen könnte (General-Anzeiger, 28.3.22). Das ist das Werk ihres Führers Putin, des neuen Hitler, der den aktuellen Holocaust in der Ukraine – in Fortsetzung von Stalins „Holodomor“ – zu verantworten hat. Währenddessen ist Deutschland Teil – und bald vielleicht führende Macht – der Anti-Hitler-Koalition. Dafür muss es nur noch die „Last der historischen Verantwortung“ umdefinieren, als Auftrag, „aus der deutschen Schuld für Krieg und Völkermord“ (Baerbock) heraus zu einem neuen, völlig gerechtfertigten Krieg gegen Völkermord zu schreiten.
Und die Aussenministerin hat für die Ausarbeitung der nationalen Strategie – Leitidee: „Sicherheit der Freiheit unseres Lebens“ – auch schon entscheidende Fragen formuliert: „Was heisst das eigentlich, frei zu leben? Wir spüren das gerade wieder in der Ukraine: Im Mut der Männer und Frauen, die ihr Land verteidigen. In ihrer Entschlossenheit sehen wir, was diese Menschen verteidigen, im Zweifel auch mit ihrem Leben: nämlich Demokratie und ihr Recht, über ein Leben in Freiheit selbst entscheiden zu können.“
Bevor der Mut zur Sprache kommt, könnte man auch einmal daran erinnern, dass in der Ukraine als Erstes eine Zwangsrekrutierung aller Männer im Alter zwischen 18 und 60 Jahren stattfindet, damit sie dieses Heldentums teilhaftig werden können. Selber entscheiden tun sie an der Stelle jedenfalls nichts. Und was sie dann tun, ist nicht eine Aktion zum Schutz ihres Lebens. Sie müssen ja „im Zweifel auch mit ihrem Leben“ dafür bezahlen, dass sie in Freiheit leben, also dafür, dass sie nicht mehr da sind, aber dass etwas anderes überlebt, nämlich die nationale Macht, im Klartext: ein staatliches Gewaltmonopol, das dann über ein – wie auch immer dezimiertes – Menschenmaterial verfügt. Die Staatsmacht schützt eben sich, indem sie gnadenlos Menschenleben opfert. Das geschieht in Namen der Nation, in die dann die Toten eingehen, als Helden, die auf den Kriegerdenkmälern weiterleben.
Das ist in allen Kriegen so. 1943, nach Stalingrad, hiess es im Dom von Fulda vor den versammelten katholischen Bischöfen und Tausenden Gläubigen in einer Kriegspredigt: „Deutschland muss leben, auch wenn wir sterben müssten!“ Und Selbstaufopferung für etwas Höheres – ob es jetzt philosophisch, religiös verbrämt oder als nationale Selbstverständlichkeit daherkommt – ist das, was Faschisten und Demokraten in der Stunde der Gefahr vereint. Und so kann es gut sein – was von westlichen Kommentaren immer wieder hervorgehoben wird –, dass auf russischer Seite auch viele Rechtsradikale und Rassisten mitkämpfen. Auf ukrainischer Seite ist dieselbe Allianz jedenfalls in Aktion, wie man gelegentlich erfährt. So konnte auch Selenskyj, ohne mit der Wimper zu zucken oder Anstoss zu erregen, im Deutschen Bundestag seine Brandrede mit dem alten faschistischen Schlachtruf beenden: „Ruhm der Ukraine!“