Anmerkungen zum Text von Meinhard Creydt Zur Erneuerung staatlicher Souveränität im pandemischen Ausnahmezustand
Politik
Eine Entgegnung zu Meinhard Creydts Artikel „Mit Corona-Politik auf dem Weg in den 'Obrigkeitsstaat'?“, in Bezug auf die Staatsgläubigkeit anachronistischer und postmoderner Linker sowie kritischer Kritiker.
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17. Dezember 2020
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Korrektur
Was Creydt zum anderen kritisiert, ist der antiautoritäre Reflex, welchen er meint, bei vielen „Linksliberalen und Linken“ festzustellen. Es stimmt, es gab und gibt diese Reflexe. Sie haben ihre Geschichten und Hintergründe und sollten reflektiert werden. Nicht, weil sie „falsch“ sind, sondern, weil sie, wenn sie lediglich Reflexe bleiben, kein selbstbestimmtes Handeln als auch keine wirksame Kritik ermöglichen.
Creydt macht dies am geflügelten Wort des „autoritären Staates“ fest. Ich stimme ihm vollkommen zu, dass dieses sinnentleerter nicht sein könnte. Denn der Punkt ist, dass staatliches Handeln seinem Wesen nach autoritär ist, insofern es sich auf das Gewaltmonopol gründet, seine Gesetze im Zweifelsfall täglich mit Zwang und Gewalt durchsetzt, die Bevölkerung als fiktiven organischen Körper formt und als Ressource verwertet, damit den Kapitalismus aufrecht erhält, welcher alles Mögliche gebracht hat, nur keine soziale Freiheit. Dies bedeutet selbstverständlich nicht, dass es keine Unterschiede zwischen den Regierungen, Staatsapparaten und Gesetzgebungen z.B. zwischen Deutschland, Frankreich oder Ungarn gibt. Bürgerliche Rechte und Freiheiten waren nie und sind keine Wohltätigkeiten, die Regierende ihren Bürger*innen aus Freundlichkeit gewähren.
Im Gegenteil wurden sie diesen durch langwierige und schwere Auseinandersetzungen von emanzipatorischen sozialen Bewegungen abgetrotzt. Staaten - auch in bestimmten Sphären demokratische - gründen sich nicht auf Garantien, sondern auf Illusionen. Abgesehen von der Garantie, das Profite und die bürgerliche Eigentumsordnung zu schützen und aufrecht zu erhalten.
Der Punkt ist, dass sich die antiautoritären Reflexe einer berechtigten Angst vor der Verschärfung von Überwachung und Kontrolle, von Disziplinarmassnahmen, Einschlüssen und Ausschlüssen aus Gemeinschaften, vor der Erneuerung staatlicher Souveränität und der Aufgabe einer Vorstellung von autonomen Handeln, entspringen.
Ja, ich kenne auch diesen einen Linken, der nun anzweifelt, ob denn überhaupt das Maskentragen eine Wirkung hat, der glaubt, eine kritische Perspektive einzunehmen, wenn er auf die offensichtlichen Widersprüche in der Umsetzung verschiedener Massnahmen hinweist; der in seiner Erzählung dann aber doch dahin kommt, die Gefahr, welche durch Covid19 ausgeht herab zu spielen. An diesem Punkt wird deutlich: Wir müssen uns mit uns selbst auseinandersetzen, unsere eigenen Reaktionen – beginnend auf der emotionalen Ebene – reflektieren, um zu verstehen, warum wir instinktiv zu dieser oder jener Wahrnehmung oder Position tendieren.
So ist es kein Zufall, dass die meisten irgendwie-linken Massnahmen-Skeptiker der ersten oder zweiten Welle überwiegend Männer zu sein scheinen. Denn tendenziell haben viele Frauen* deutlich stärker als Männer* sozial erlernt, die Folgen ihres Handelns zu bedenken. Möglicherweise haben sie tendenziell grössere Angst, sich selbst zu infizieren – dies jedoch verknüpft mit einer eingeübten Selbstsorge, die nicht vorrangig „irrational“, sondern im Gegenteil überaus vernünftig ist.
Männer* empfinden es tendenziell viel eher als Frauen* als Beschränkung ihrer „Freiheit“, wenn sie sich zur Abwechslung am Wohl ihrer anonymen Mitmenschen orientieren sollen. Ausserdem sind weiblich sozialisierte Menschen - tendenziell - eher in der Lage, Beziehungen einzugehen und zu pflegen. Unter Bedingungen der verordneten – aber auch gebotenen - Abstandnahme halten sie die physische Distanz oft besser aus, weil sie sich im normalen Verlauf dieser beschleunigten Gesellschaft des allgemeinen Wahns, weit weniger in einer sozialen Distanz zu ihren Mitmenschen befinden.
Worum es hierbei geht ist nicht die differenzfeministische Aufwertung vermeintlich "weiblicher" Eigenschaften, sondern zum einen der Hinweis, dass patriarchale Denk- und Verhaltensweisen einer solidarische Bezugnahme im Wege stehen, aber nicht alle Menschen sie gleichermassen verinnerlicht haben.
Um auf den antiautoritären Reflex zurück zu kommen: Wer im Grundzustand der staatlich-kapitalistischen, patriarchalen und naturzerstörenden Gesellschaft mit seiner Einsamkeit, Entfremdung und Traurigkeit schlecht umgehen kann, sie permanent verdrängt, statt sie zumindest ansatzweise zu bearbeiten, wird den nunmehr auch in der BRD verhängten Lockdown als Bedrohung der letzten Bastionen seiner sozialen Regeneration empfinden. Herunter gebrochen: Die Kneipe schliesst, man kann nicht einfach bei den Kumpels klingeln ohne sich vorher umständlich anzumelden oder zu seiner Dart-Runde am Freitag gehen.
Offenbar wird also für sehr viele, was vorher allein für die offensichtlich Marginalisierten galt, für die Geflüchteten, Gefangenen, Obdachlosen, vereinsamten Alten, chronisch erkrankten und behinderten Menschen; für die Pizzalieferanten und Postbotinnen, für die Angestellten bei Amazon und die meist osteuropäischen Arbeiter im Schlachthof. Offenbar wird, das wir mit unserem Leben ausgeliefert sind. Ausgeliefert, nicht an das Schicksal, nicht an Gott, nicht an die sich nun angeblich rächende Natur. Das wäre schön, weil einfach.
Nein, ausgeliefert sind wir an eine staatliche Regulierung die auf dem spezifisch rationalen Kern beruht, ihre Bevölkerung, also ihre wichtigste Ressource, zu schützen. Deswegen wird die Kriegsrhetorik bedient, werden schwerste moralische Geschütze aufgefahren, besonders verletzliche „Risikogruppen“ instrumentalisiert und in ihrer Selbstbestimmung beschnitten (solange sie die Staatsbürgerschaft besitzen). Deswegen werden langwierige demokratische Beschlusswege übergangen, polizeiliche Kontrollen verschärft und verschiedene Menschengruppen stigmatisiert.
Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass ein wesentliches Element des Staates im Ausnahmezustand eine Politik der Angst ist. Sie ist nicht die Ursache, aber zumindest ein Beitrag für den Zulauf den die sogenannten „Anti-Corona-Proteste“ haben. Seuchenbekämpfung wird als Gebot der Stunde inszeniert und setzt die Notwendigkeit erforderlicher Massnahmen und sozialen Verhaltensweisen. Dass es im Detail divergierende Ansichten über die Wirksamkeit unterschiedlicher Massnahmen gibt – sowohl in Expert*innenkreisen, als auch bei selbst denkenden Menschen in der Gesamtbevölkerung -, dass sich die Leitlinien, was als effektiv angesehen werden kann (Schulschliessungen ja/nein/vielleicht später etc.) immer wieder ändern, führt zwar zu Irritationen und damit zu Unmut.
Es führt jedoch nicht dazu, dass einmal - und sei es nur ein einziges Mal -, am Eckpfeiler dieses ganzen Konstrukts gerüttelt wird. Nämlich an der Überzeugung, dass der Staat überhaupt jenes Institutionenset ist, welche die Pandemie und ihre Folgekosten (materiell, sozial, psychisch) – vielleicht sogar die Ursachen für ihre Verbreitung (z.B. Naturzerstörung, industrielle Landwirtschaft) und ihren Schweregrad (z.B. Luftverschmutzung, zusammen gespartes Gesundheitssystem) – effektiv bekämpfen kann.
Dass keine effektiven selbstorganisierten Formen zur Eindämmung einer Pandemie entwickelt werden könnten, wäre eine blosse Behauptung. Immerhin ist aktuell jeder Kindergarten, jede Schule, jedes Krankenhaus, Seniorenheim, Sozialzentrum und Bürgeramt, jedes Geschäft, Restaurant und Unternehmen damit beauftragt empfohlene und angeordnete Präventionsmassnahmen einzuführen. Deren Umsetzung geschieht in der Praxis notwendigerweise äusserst kreativ und mehr oder weniger selbstorganisiert.
Deswegen geht den Regierenden der Arsch ja auch auf Grundeis: Weil sie wissen, dass sie in dieser Krise mehr denn je auf das aktive Mitwirken des Grossteils der Bevölkerung angewiesen sind. Und sie sind auf Netzwerke von Expert*innen angewiesen, die sich prinzipiell auch völlig unabhängig vom Staat transnational vernetzen können, um Pandemie-Situation einzuschätzen, Handlungsstrategien und Impfstoffe zu entwickeln.
Wie gesagt regenerieren Staaten im Zuge der umfassenden Seuchenbekämpfung ihre Souveränität. Ungerechtigkeit und soziale Ausgrenzung, massive Ungleichheit, strukturelle Diskriminierung, neoliberales Zusammensparen der öffentlichen Güter, Individualisierung, zunehmende Leistungsanforderungen, Entwurzelung von Menschen durch die geforderte Flexibilität und Mobilität auf dem Arbeitsmarkt, Schwarzgeldaffären und das Auseinanderdriften der Lebenswelten in verschiedenen sozialen Milieus, entfremdeten Bürger*innen zunehmend von ihnen.
Diese Regeneration staatlicher Souveränität ist kein einseitiger Prozess, der einfach „gesteuert“ von den Regierungen ausginge: Erschreckend viele Bürger*innen appellieren vehement an Regierungen, die jeweiligen Massnahmen zu verschärfen, die Unwilligen und Widerspenstigen zu bestrafen und die Unfähigen zu übergehen. Der Staatsfetischismus wurzelt tief in ihnen und Vorstellungen autonomer Selbstorganisation verschrecken sie. Ja, jeden Gedanken, dass ein libertärer Sozialismus möglich sein kann, empfinden sie als bedrohlich und wehren ihn daher krampfhaft ab. Weiterhin gehen staatliche Behörden keineswegs nach einem verschwörerischen Plan vor, um beispielsweise Überwachungsmassnahmen einzuführen oder die ungehorsamen Bürger*innen einzuschliessen und zu reglementieren. Zu verstehen ist, dass die zu kritisierenden Aspekte in der Logik und im Modus von Staatlichkeit selbst eingeschrieben sind.
Beispielsweise ist die Corona-Warn-App technisch gesehen äusserst ineffektiv, greift enorm in die Persönlichkeitsrechte der Bürger*innen ein und ermöglicht weit mehr, als lediglich die Bekämpfung einer Pandemie. Es geht bei ihrer unbedingten Einführung aber auch nicht um die Eindämmung von Covid19, sondern um die kommende Pandemie mit anderem Namen. Und es geht nicht lediglich darum, sondern um die Kontroll-Möglichkeiten, welche eine derartige App sonst noch bietet. Anwendungsmöglichkeiten, die ganz klar, den Nutzer*innen zukommen – den Staaten, welche ihre Bevölkerung bis aufs Klo verfolgen und überwachen. Das ist keine Verschwörung, sondern die Realität und gründet sich in der spezifischen Rationalität des modernen Staates.
Um ein weiteres Beispiel zu nennen: Markus Söder und auf ihn folgend auch andere Politiker*innen und Leitmedien gaben kürzlich das Schlagwort aus, dass der BRD drohe, den erkämpften „Vorsprung“ in der Bekämpfung der Seuche zu verlieren. Mittlerweile in der Kriegsrhetorik geschult, liest sich dies im ersten Moment als Kampf des zivilisierten Menschen gegen die Natur des Virus, also den ungreifbaren, unsichtbaren und schonungslosen Feind. Weil der Kapitalismus als System unpersönlicher, omnipräsenter, inhärent zerstörerischer und rücksichtsloser ökonomischer Herrschaft hierbei nicht gemeint ist, wird erst die absurde Konstruktion Volkskörper-Staat vs. Virus-Chaos möglich.
Beim genaueren Nachdenken über diese Formulierung, zeigt sich in ihr jedoch eine überraschende Doppeldeutigkeit: Denn der „Vorsprung“, von welchem hier die Rede ist, ist nur scheinbar einer gegen das Corona-Virus. Tatsächlich ist er einer in der internationalen Staatenkonkurrenz. Denn welche Regierung die Pandemie effektiv zu bekämpfen im Stande ist, deren Staat wird im Vergleich zu den anderen gestärkt aus ihr hervorgehen.
Diese Verschiebung der Kräfteverhältnisse geschieht in Hinblick auf den Staatshaushalt, die Glaubwürdigkeit auf dem globalen Finanzmarkt, auf den durchschnittlichen Gesundheitszustand der jeweiligen Bevölkerung. Sie äussert sich in Bezug auf den Grad der Unterstützung des Staates durch verschiedene Bevölkerungsgruppen, seiner mit humanistischer Ideologie unterfütterten Legitimität, seines institutionellen Lernens hinsichtlich schneller, effektiver Verwaltungsabläufe, möglicherweise sogar seine militärischen Stärke betreffend.
Auch darin zeigt sich, dass vor dem Virus wieder einmal nicht alle gleich sind: Der - durch die ökonomische Dominanz und ihrem Profit von den internationalen Abhängigkeitsverhältnissen - gut gefüllte und kreditwürdige Staatshaushalt der BRD ermöglicht es dieser, das Gesundheitswesen am Laufen zu halten, Ausgleichszahlungen für Gewerbetreibende und Dienstleister*innen auszuschütten und darüber hinaus, „die Krise als Chance“ für neue Innovationen zu nutzen. Noch handelt es sich um einen erkämpften (die Deutschen glauben: „erarbeiteten“) Vorsprung, der aber verloren werden kann, wenn die Kosten der Pandemie zu gross werden...
Wenn Regierungen und Staaten ihre Souveränität und Legitimität erneuern, wird auch Staatlichkeit als politisches Herrschaftsverhältnis - samt dessen Ideologie -, in dieser als Krise gerahmten Zeit, verbreitet und verinnerlicht. Die Frage ist nun, wie man dies wahrnimmt, bewertet und welche Alternativen man dazu aufzeigen möchte.
Um zum Ausgangspunkt dieses Artikels zurück zu kommen: Meinhard Creydt macht in seinem Beitrag deutlich, dass er nicht benennen will, worin in der gegenwärtigen staatlichen Bearbeitung der Pandemie das Problem bestehen könnte. Ihm ist die Fähigkeit, Phänomene urteilskräftig auf eine Totalität zu beziehen, verloren gegangen. Vielmehr lesen sich seine Gedankengänge als blosse Affirmation staatlichen Handelns. Er offenbart damit, selbst dem Staatsfetischismus erlegen ist.
Dies ist schade, weil sich darin auch eine schon lange als falsch erwiesene theoretische Fehlannahme zeigt. Nämlich jene, Staat und Kapitalismus könnten als getrennte Sphären aufgefasst werden, weswegen ersterer „theoretisch“ letzteren regulieren könnte. Nicht, das wir uns falsch verstehen – ja, der Staat muss relativ autonom vom Kapitalismus sein und bleiben, damit er diesen überhaupt aufrechterhalten kann. Er reguliert ihn auch fortwährend.
Die neoliberale Form des Kapitalismus ist beispielsweise eine bestimmte Weise staatlicher Regulierung desselben. Dass der Staat aber für emanzipatorische soziale Bewegungen, aus Perspektive eines libertären Sozialismus, für die eigenen Zwecke genutzt werden könnte, ist ein Ammenmärchen aus den Jugendzeiten sozialistischer Bewegungen, die - zwischen Anti-Autoritarismus und Autoritarismus schwankend – lange brauchten, um selbstbestimmte Handlungsformen und eigene Inhalte zu entwickeln, welche sich nicht in reflexhafter Abwehr oder unterwürfiger Affirmation von Vater Staat gründeten.
Was Creydt verunmöglicht, weil er es offensichtlich für unmöglich hält, ist von der gesamtgesellschaftlichen emanzipatorischen Alternative her zu denken. Seine „nachkapitalistische“ Gesellschaft hat keinen eigenen Inhalt, sondern steht für den Irrglauben, der kapitalistische Zombie könnte irgendwie wieder genesen und zum Mensch werden.
In seiner Kritik an den anti-autoritären Reflexen hält sich Creydt für besonders kritisch. Sein Beitrag verdeutlicht das Gegenteil. Und zwar wie die „kritische Kritik“, wie sie auch die Antideutschen kultivierten, letztendlich zur Bestätigung der eigenen Ohnmacht und des eigenen Unwillens dient, lebenswerte solidarische und libertäre Alternativen im Hier und Jetzt aufzubauen. Dass Staat und Kapitalismus „total“ wären, ist nichts weiter als eine theoretische Spitzfindigkeit. Wer sie für „total“ erklärt, hält nicht nur krampfhaft an den eigenen Scheuklappen fest, sondern ist der Ideologie der politischen und ökonomischen Herrschaft auf den Leim gegangen.
Und nein, ich schreibe hier nicht von richtigen oder falschen „Diagnosen“ oder „Analysen“, sondern von den Perspektiven und Standpunkten, die wir einnehmen. Wir können uns an die Unveränderbarkeit der alten „Gesamtscheisse“ klammern, weil sie uns gewohnte Sicherheit gibt. Auch jene Leute, die sich für am „radikalsten“ und „kritischsten“ halten, appellieren dann wieder einmal an das staatliche Eingreifen und Managen. Oder wir wagen es, auszubrechen, aufzubrechen und davon ausgehend, das zu beschreiben und uns danach zu organisieren, wo wir hin wollen. Dass dies ein langer, schwerer und verschlungener Weg wird ist gewiss. Eine „Obrigkeit“ brauchen wir dazu gewiss nicht.