Natürlich müsste man mehrere Bücher schreiben, um all diese Punkte eingehend abzuhandeln; die folgenden Notizen bleiben somit im Stadium eines Entwurfs. Auf diese Art und Weise können wir jedoch sowohl die jüngste Entwicklung der „kurdischen Frage“, als auch die einmal mehr auftretenden Konflikte im Nahen Osten aus einem anderen Blickwinkel beleuchten. Wenn das irgendeinen Nutzen für uns oder für andere haben soll, so liegt dieser in der Tatsache, nicht die Frage der Autonomie (was immer das bedeuten mag), sondern jene des Kommunismus zu stellen.
Die kurdische Frage: ein historischer Exkurs
Das Aufkommen einer spezifisch „kurdischen Frage“ gegen Ende des Ersten Weltkrieges ist Teil des chaotischen Prozesses der Formation von Nationalstaaten im Nahen und Mittleren Osten. Die Formation eines modernen Nationalstaates bedingt überall, dass die Grenzen eines administrativen Staates mit jenen einer einzigen nationalen Bevölkerung zusammenfallen. Multinationale Staaten sind in der Regel problematisch oder Ausnahmefälle. Der Nationalstaat, d.h. der Staat des Kapitals, ist mononational, denn in der Beziehung zwischen dem Individuum und dem Staat kann Loyalität zu intermediären Gemeinschaften nicht toleriert werden – Staat und Nation müssen zusammenfallen. Dieser Prozess ist nichts „Natürliches“, es ist ein Prozess der Homogenisierung, der jegliche Art der Bastelei enthält und sich sowohl Formen weicher Assimilation als auch die brutalste ethnische Säuberung zunutze machen kann.Es ist wahr, dass das Bevölkerungspuzzle in Westeuropa ein weniger grosses Hindernis war als im Balkan oder im Mittleren Osten, der Grund dafür liegt weniger in einer grösseren oder kleineren Komplexität oder Unlösbarkeit des Puzzles selbst, sondern eher in der Tatsache, dass die Formation von Nationalstaaten unter dem Impuls einer endogenen kapitalistischen Entwicklung realisiert und durch eine präzise Sequenz von vorhergehenden Produktionsweisen möglich gemacht wurde, während sie im Balkan und im Mittleren Osten aus einer Entwicklung des Kapitalismus woanders und den daraus entstandenen interkapitalistischen Rivalitäten erfolgte. Die Fragmentierung des Osmanischen Reichs, oder eher seine Aufteilung zwischen den Siegermächten Grossbritannien und Frankreich, führte einerseits zur Gründung von Irak und Syrien unter den jeweiligen Mandaten und andererseits zu jener der Türkei durch den Aufstieg der nationalistischen Bewegung von Mustafa Kemal (Atatürk). Letzterer war sofort mit dem multinationalen Charakter des zukünftigen türkischen Staates konfrontiert (Türken, Kurden, Griechen Anatoliens), obwohl die Situation schon durch die Auslöschung der Armenier 1915-16 durch die Jungtürken (1.2 Mio. Tote) „vereinfacht“ worden war.
Was die Kurden betrifft, garantierte der Vertrag von Sèvres (10. August 1920) die Möglichkeit, ein kleines unabhängiges Kurdistan zu erschaffen, unter der Bedingung, dass dies dem kollektiven Willen des kurdischen Volkes entspricht und dass in gewissen ostanatolischen Provinzen auch ein armenischer Staat entsteht. Diese Bedingungen wurden von Stammesführern und Scheichen (Landeigentümern) abgelehnt, weil das Territorium des vorgeschlagenen kurdischen Staates im Vergleich zu den tatsächlich von Kurden bevölkerten Regionen klein war und durch die Entstehung eines armenischen Staates noch kleiner geworden wäre. Ein embryonaler kurdischer Nationalismus versuchte daraufhin, sich den Kemalisten anzuschliessen, doch nach deren Konsolidierung war ihre Antwort die Niederschlagung der kurdischen Abweichung zusammen mit dem marxistischen Element in Koçgiri (1921) und schliesslich die Auferlegung einer Revision des drei Jahre zuvor abgeschlossenen Abkommens von Sèvres durch den Vertrag von Lausanne (1923), welcher die Grenzen der heutigen Türkei festlegte und dadurch auch Südkurdistan dem britischen Mandatsgebiet überliess.
Die Geschichte der kurdischen Bewegung besteht aus zwei bedeutenden Perioden: Die erste, von 1919 bis 1990, mit einem scharfen Bruch 1946 (Republik von Mahabad), ist die nationalistische Periode an und für sich; die zweite, von 1990 bis heute, ist jene, welche wir nach Hamit Bozarslan die „Krise des Nationalismus“ nennen wollen. Wenn auch weniger ausgeprägt als im Rest des Mittleren Ostens, so folgen diese historischen Wenden doch der Abfolge innerhalb des kurdischen Siedlungsraums von drei verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie in der Führungsposition der Gesellschaft: die Landbourgeoisie, das intellektuelle Kleinbürgertum und die Ölbourgeoisie. Die erste Periode – welche durch die Hegemonie der Landbourgeoisie geprägt war – war durch eine Reihe von heftigen Ausschreitungen charakterisiert. Im iranischen Kurdistan führte die Stammeskonföderation von Shikak – welche zuerst von den Kemalisten unterstützt dann bekämpft wurde – die Erhebungen von 1919 bis 1930 an.
Im Irak setzte sich der Scheich Mahmoud Barzandji – der selbsternannte König von Kurdistan – als erster an die Spitze der Bewegung, danach folgte die Barzani-Familie. In der Türkei kam es zu 18 Aufständen in weniger als 15 Jahren (1927-1930 in Ararat, 1936-1938 in Dersim). Die syrischen Kurden beteiligten sich an den meisten dieser Revolten. Das letzte wichtige Ereignis dieser Periode war die Ausrufung einer autonomen Republik im Iran am 22. Januar 1946 in einem durch die sowjetische Besatzung eines Teils des Landes geöffneten Raum. Die Republik von Mahabad war nicht fähig, die Gesamtheit der durch Stammeskonflikte gespaltenen iranischen Kurden zu mobilisieren (obwohl viele Kurden aus der Türkei und dem Irak zu ihrer Verteidigung herbeieilten) und wurde am 15. Dezember 1946 durch die iranische Armee mit der Exekution von Präsident Mohammed liquidiert. Die Peschmerga der DPK von Mustafa Barzani, welche aus dem Irak zur Unterstützung der Republik herbeieilten, flüchteten in die UdSSR und blieben dort bis 1958.
Diese Aufstände waren überall dem Vorwurf ausgesetzt, mit ausländischen Mächten einen Komplott zu schmieden, häufig über Grenzen hinweg, und wurden gemeinsam von den betroffenen Ländern niedergeschlagen:
"Keine davon [die jeweilige entstehende nationale Bourgeoisie in der Türkei, in Syrien, im Iran und im Irak] hatte die geringsten Skrupel, die dreckige Arbeit vollständig zu erledigen. Die erste davon, welche sich mit heftiger Repression gegen die Kurden profilierte, war die „progressive“ türkische, von Kemal Atatürk angeführte Bourgeoisie, bezüglich welcher die Dritte Internationale vielleicht [sic!] einmal übertriebene Illusionen hatte. […] Durch Befriedungskampagnen, in welchen die türkische Regierung (besonders 1925) aktiv von Frankreich unterstützt wurde, minderte sie die Kurden zu „Bergtürken“ herab und beschränkte Kurdistan auf die östliche Region der Türkei. Die arabisch-irakische Bourgeoisie, welche die auferlegte Arabisierung der ölreichen Region rund um Kirkuk begonnen hatte und weiterführte, zuerst mit britischer Hilfe (1943-1945), später mit der ausschliesslich militärischen Unterstützung der UdSSR (1961-1975), schlug einen weitflächigen Guerillakrieg nieder.
Die iranische Bourgeoisie, welche, sogar unter dem falschen Revolutionär Dr. Mossadegh, die Existenz einer nationalen kurdischen Frage im Iran nie anerkannte, zeichnete sich nicht nur durch ununterbrochene Repression und in gewissen Regionen durch die Anwendung der „Endlösung“ gegen das iranische Kurdistan aus, sondern auch durch aktive Partnerschaft in der Repression gegen die Aufstände der türkischen Kurden (1930), sowie durch den schmutzigen Zynismus, mit welchem sie, zusammen mit der CIA und Kissinger, die irakischen Kurden 1975 „unterstützte“. Die syrische Bourgeoisie schliesslich, die progressivste von allen (wie die palästinensischen Flüchtlinge in den Lagern von Damaskus wissen), vertrieb trotz der Abwesenheit einer realen inneren „kurdischen Gefahr“ 140 000 arme kurdische Bauern von ihrem ursprünglichen Territorium, um sie mit arabischer Bevölkerung zu ersetzen, und hat gegen die Kurden routinemässig administrative Willkür, Polizeirazzien, Entlassungen als Vergeltungsmassnahmen und andere Erfindungen des Fortschritts eingesetzt." [1]
Die Periode von 1946 bis 1958 ist als die „Ära der Stille“ bekannt. Ausser einigen lokal isolierten Ausschreitungen und dem Wahlerfolg der lokalen DPK (80% der Stimmen) im Iran unter Mossadegh schien die kurdische Bewegung erledigt. Trotzdem reicht die Heftigkeit der Repression als Erklärung nicht aus. Vielmehr bedeuteten die 1950er Jahre den Beginn eines massiven Exodus aus ländlichen Regionen, besonders in der Türkei und im irakischen Kurdistan, wo die Städte von Diyarbakir, Erbil und Sulaymaniyah die Schwelle von 100 000 Einwohnern überschritten. Durch die Intensivierung von Transportnetzwerken und Bildung im türkischen Kurdistan – ausgelöst durch die Entwicklung der türkischen Industrie – entstand ein v.a. aus Lehrern und Mitgliedern der liberalen Berufe, doch auch aus autodidaktischen Handwerkern bestehendes Kleinbürgertum. Viele junge Leute aus armen Familien konnten an die Universität gehen. Diese kleine gebildete Mittelklasse – welche in der Westtürkei, in Istanbul und Ankara, die einzigen Universitätsstädte im Land in den 1950er Jahren, ausgebildet worden war – wird den kurdischen Nationalismus in den 1960er und 1970er Jahren neu beleben – beginnend mit dem ersten Staatsstreich in der Türkei 1960 – und der Bewegung einen ausgeprägteren nationalen und volksnahen Charakter geben:
"Den Patrioten der Linken gelang es, die Massen zu mobilisieren. Ihr Erfolg war abhängig von der Fähigkeit, „von gewissen wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu profitieren“ und gewisse Ungleichheiten zu betonen (die Unterentwicklung des Ostens, die Unangemessenheit der im Fünfjahresplan bewilligten Unterstützungsbeiträge). Er war auch verbunden mit ihrer Fähigkeit, sich mit jenen Leuten zu verbünden, welche von der Enteignung von landwirtschaftlichen Flächen zum Vorteil der Ölindustrie in der Region von Batman betroffen waren. Sie verteidigten auch die Arbeiter und Bauern dieser Region, welche eine Anstellung in der Ölgewinnung forderten. Sie wurden zu den Anwälten der landlosen Bauern und meist ländlicher Bevölkerungen, welche Opfer der Gewalt der Spezialeinheiten der Armee wurden." [2]
Die sogenannte „Generation von 1949“
Der türkische Putsch am 12. März 1971 provozierte eine heftige Reaktion, welche auch eine Folge der wirtschaftlichen Situation war. Es waren „die Jahre der Unregierbarkeit“, während welchen eine Reihe von Regierungen bis zum erneuten Militärputsch 1980 unfähig war, die Situation zu kontrollieren. In dieser Phase entstanden etliche illegale kurdische Organisationen. Ihre gesellschaftliche Zusammensetzung war praktisch gleich wie unmittelbar vor dieser Periode: Studenten und Angehörige der freien Berufe. Doch das Durchschnittsalter der Beteiligten war tiefer und die politische Zugehörigkeit wendete sich in Richtung Marxismus-Leninismus, der damals unter europäischen Intellektuellen sehr in Mode war. Nach der Generalamnestie am 26. April 1974 wurden die nach dem Putsch 1971 für politische Delikte verhafteten Kurden befreit und jene, welche ins Ausland geflohen waren, konnten zurückkehren. Formationen wie die PSKT (Sozialistische Partei des türkischen Kurdistans – welche ein autonomes Kurdistan innerhalb einer sozialistischen Türkei zum Ziel hat) und die PKK (Kurdische Arbeiterpartei, separatistisch) entstanden zu diesem Zeitpunkt. Die damals entstandenen kurdischen Organisation gerieten daraufhin heftig aneinander und keine ausser der PKK und (in geringerem Masse) die PSKT überlebten den folgenden Staatsstreich 1980.Ursprünglich war die PKK nicht viel mehr als ein Kult sehr junger Studenten, inspiriert von einem äusserst undeutlichen Marxismus und allen voran von der Persönlichkeit Abdullah Öcalans (von der „Generation von 1949“). Der durch den Namen der Organisation implizierte Klassencharakter blieb rein verbal oder auf ein Bestreben beschränkt. Eine protoparteiliche Struktur existierte schon 1974, doch die Partei wurde erst 1978 offiziell gegründet. Sie berief sich auf die Befreiung Kurdistans von einem „vom Imperialismus ausserhalb und von Kompradoren innerhalb unterstützten“ türkischen Kolonialismus. Traditionelle Anführer und „feudale“ Kurden (d.h. die Landbourgeoisie) wurden als „zentrales Hindernis für die nationale kurdische Entwicklung“ ausgemacht [3].
Die PKK folgte dem Muster ähnlich orientierter (marxistisch-leninistischer, guevaristischer, maoistischer usw.) Organisationen, welche, glücklicherweise oder auch nicht, bis dahin in Lateinamerika, Asien und Afrika wucherten, es war jedoch ein etwas später Auftritt, denn sie befanden sich schon im freien Fall, besonders im Nahen und Mittleren Osten: „Die klare Niederlage der arabischen Armeen gegen Israel ist zweifellos das zentrale Ereignis, welches schliesslich die Reihe von Erfolgen des revolutionären arabischen Nationalismus unterbrach und jener anti-imperialistischen Einheit ein Ende setzte, deren Avantgarde das Nassersche Ägypten [als Staat] nach der Nationalisierung des Suezkanals 1956 war.“ [4] Obwohl dieser Rückstand mit der Zeit an Bedeutung gewann, war sie nicht von Anfang an offensichtlich. Zu Beginn, 1978, war die Organisation stark genug, um den „revolutionären Krieg gegen den Feudalismus“ auszurufen. Zu diesem Zeitpunkt bestanden ihre Aktionen am Anfang aus (versuchten oder erfolgreichen) Morden an Stammesführern, was sie allerdings nicht an einer Teilnahme an Gemeindewahlen hinderte (der erste PKK-Anhänger wurde 1979 in Batman gewählt).
Gleichzeitig war der „revolutionäre Krieg“ auch gegen Konkurrenzorganisationen gerichtet: Zusammenstösse zwischen der PKK und der KUK (Nationale Befreiungsorganisation Kurdistans) in den Regionen Mardin und Hakkari gehörten mit Dutzenden von Toten zu den blutigsten. Nach dem Putsch 1980 wurde die Mehrheit jener PKK-Mitglieder verhaftet, welche es nicht schafften, die Türkei zu verlassen (offizielle Quellen sprechen von 1.800 Verhaftungen, doch allein im Militärgefängnis von Diyarbakir befanden sich ungefähr 5.000 Kurden, welche der Mitgliedschaft in der PKK beschuldigt wurden). Dutzende Gefangene sterben während den Hungerstreiks.
Die Organisation der PKK im Ausland begann eigentlich 1981, doch was den internationalen Kontext betrifft, war 1979 das entscheidende Jahr: Ägyptens Sadat anerkannte Israel (Camp David), womit der Bankrott des panarabischen Sozialismus bestätigt wurde; die iranische Revolution, welche in Fabriken und Quartieren begann, brachte Ayatollah Khomeini an die Macht; die Sowjetunion besetzte Afghanistan. In dieser finsteren Landschaft, in welcher die Kohärenz einer anti-imperialistischen Front, welche bis dahin noch eine gewisse Einheit vorgeben konnte, schmolz wie Schnee an der Sonne (vollständig zu Gunsten des Islams), entwickelte sich die kurdische Frage innerhalb der Konflikte jener Staaten, welche sich das kurdische Gebiet teilen; von Spannungen zwischen der Türkei und Syrien bis zum iranisch-irakischen Krieg. Die Ayatollahs antworteten mit wenig Raffinesse auf die Forderungen nach Autonomie und die anti-islamische Orientierung der iranischen Kurden (45 000 Tote gemäss einigen Schätzungen); was zur Verschmelzung der iranischen DPK [5] und Komala im Irak führte.
Auf der anderen Seite der Grenze akzeptierten die irakischen Kurden – welche der von Saddam Hussein angeordneten Arabisierung der Region um Kirkuk zur „Wahrung der arabischen Nation“ ausgeliefert waren – die Unterstützung des Irans. Ab 1988 (die letzten Phasen des iranisch-irakischen Krieges) begann das irakische Regime mit systematischer Vernichtung durch chemische Waffen (180 000 Tote). Die anti-kurdische Verfolgung wurde vom Westen bis zum Ersten Golfkrieg ohne reale Sanktionen verurteilt. An einer anderen Front wurde Hafez al-Assad [6] vom Abbruch der diplomatischen Beziehungen mit dem Irak, Spannungen mit der Türkei und der Konsolidierung der alawitischen Hegemonie gegen die Schiiten 1979 dazu gedrängt, sich als Beschützer der Kurden in der Region zu präsentieren. Die in dieser Strategie kooptierte Führung der PKK flüchtete im gleichen Jahr nach Syrien, um der Repression des türkischen Staates zu entfliehen. Die Rekrutierung war vom Regime genehmigt und die PKK zeigte sich als nützliches Werkzeug zur Kontrolle des syrischen Kurdistans.
Im Libanon, wo der Bürgerkrieg gerade begann (1975-1990), erhielt die PKK, natürlich dank der Unterstützung von Damaskus, Stützpunkte im Bekaatal, wo sie ihre erste Militärakademie gründete. Im Juli 1983 unterzeichnete die irakische DPK ein Abkommen mit der PKK, um die Türkei zu entmutigen, mit dem Irak zu kooperieren, und erlaubte ihr, Guerillas in der Nähe der türkischen Grenze zu organisieren. Am 15. August 1984 nahm die PKK durch einen Angriff auf zwei türkische Militärposten den bewaffneten Kampf auf. Zu dieser Zeit veränderte sich die gesellschaftliche Basis der Organisation:
"Die Guerillakampagne der PKK erregte schnell die Aufmerksamkeit der jungen Kurden, welche künftig ihre Ränge füllen werden. Sie rekrutierte fleissig auf dem Land, doch auch in den kurdischen Städten und auch kurdische Arbeiter und Jugendliche aus den grossen türkischen Städten, gewissen europäischen Ländern, Syrien und Libyen. Die PKK erlangte dadurch einen vorwiegend ländlichen Charakter." [7]
Diesbezüglich ist es auch interessant, das Interview mit Abdullah Öcalan von Paul White von 1992 zu analysieren:
Öcalan: Die arbeitenden Leute, die Bauern, das Kleinbürgertum, die städtische Bourgeoisie unterstützen die PKK. Die patriotischen Armen und die Mittelklasse unterstützen die PKK.
White: Doch was ist die wesentlichste Gruppe? Sie erwähnten verschiedene gesellschaftliche Gruppen. Ich denke, die Hauptgruppe, die wesentlichste sind die armen Bauern, richtig?
Öcalan: Gut, ja, sie sind die Hauptunterstützer des Kampfes. Besonders im Moment sind es jene, welche den Kampf am stärksten unterstützen. Vor dem 15. August [1984], vor den 1980er Jahren, als alles begann, waren es eher die jungen Leute aus der Stadt, Intellektuelle, die städtische Mittelklasse. [8]
1985 begann die türkische Regierung, systematisch die Aufstandsbekämpfung zu organisieren, zuerst mit der Erschaffung von Dorfmilizen oder bewaffneten Stämmen gegen die PKK. Diese Massnahmen hinderten die PKK nicht daran, von 1987 an in der ganzen Bergregion des türkischen Kurdistans zu operieren. 1987 verhängte die türkische Regierung den Ausnahmezustand in den kurdischen Städten. Die PKK antwortete im Frühling 1989 mit einer Reihe von Aufrufen zu Massenaktionen. Die Antwort der „Massen“ war wohlwollend: 1989 verwandelte sich die Beerdigung eines Guerillakämpfers der PKK in Silopi in einen Protest. Einige Monate später geschah das gleiche in umliegenden Städten. Im März 1990 führte eine erneute Beerdigung eines Guerillakämpfers zur Revolte. Es beteiligten sich Tausende an dieser Welle von Unruhen und viele wurden während den Demonstrationen getötet. Am 20. März 1990 versammelten sich Zehntausende gegen die Repression der Polizei von Nusayib. Ende 1990 war kein Teil des „Südostens“ nicht von den Massendemonstrationen betroffen. 1991 hatte sich die Bewegung auf fast alle kurdischen Dörfer und viele türkische Städte (Ankara, Istanbul, Adana, Izmir, Denizli) ausgebreitet. Während dieser ganzen Periode entstand parallel zu den Ausschreitungen in den Strassen eine eigentliche kurdische Diaspora überall in Europa; die Hauptdestinationen waren Frankreich, Westdeutschland und Schweden.
Die Guerillas wuchsen also in den 1990er Jahren – trotz der Repression in der Türkei und dem erbitterten subnationalen Konflikt zwischen der PKK und den irakischen Kurden (DPK) – jenseits jeglicher vernünftiger Erwartungen, die Grundlage davon war die Forderung nach einem unabhängigen kurdischen Staat. 1995 entstand ein kurdisches Exilparlament (mit Sitz in Europa) und obwohl das Ziel der Erschaffung einer Lokalregierung nicht erreicht wurde, übernahm die PKK zunehmend diverse staatliche Funktionen wie die Eintreibung von Steuern oder die Justizverwaltung. In der gleichen Periode kamen auch die „kurdischen Legalisten“ auf, der Ausdruck einer Mittelklasse (62.5 % haben einen höheren Schulabschluss), welche zwischen den Guerillas und einem Wunsch nach Dialog mit dem türkischen Staat und der „Zivilgesellschaft“ gespalten war. Die Existenz einer legalistischen Strömung, deren Einfluss nicht unerheblich war (auch wenn sie nicht direkt mit der Perspektive der Guerilla in Konflikt trat), zusammen mit dem negativen Ausgang der militärischen Offensive, welche die Mobilisierung aufrechterhielt, doch nicht zu irgendwelchen bedeutenden „Siegen“ führte, drängte die PKK dazu, andere Wege zu finden (was weiter unten ausführlicher diskutiert wird).
Doch Ende der 1990er Jahre kam die kalte Dusche der Verhaftung von Abdullah Öcalan. Nach diesem Ereignis war die Periode zwischen 1999 und 2005 relativ ruhig. Die Perspektive einer Integration der Türkei in die Europäische Union versetzte die PKK in eine delikate Position: Sie hatte natürlich kein Interesse, den Integrationsprozess zu behindern, aufgrund realer oder vermeintlicher Vorteile, welche die Kurden der Türkei bezüglich Anerkennung erlangen würden. Die PKK rief dann eine unilaterale „Feuerpause“ aus, welche auch zum Ziel hatte, die Exekution Öcalans zu verhindern. Die „lange Waffenruhe“ war eine Phase der Entspannung für die kurdische Zivilbevölkerung, doch auch der Unzufriedenheit für viele PKK-Kämpfer und der internen Konflikte innerhalb der Organisation, welche durch Zwang gelöst wurden. Die türkische Regierung gab in ihrer militärischen Offensive allerdings nicht nach, was langfristig nur zur Wiederaufnahme bewaffneter Aktionen seitens der PKK führen konnte. Nach 2005 gab es fast ununterbrochen Zusammenstösse zwischen der türkischen Armee und der PKK. Einige Aktionen der PKK trafen auch Zivilisten (Diyarbakir, 3. Januar 2008: 5 Tote, 68 Verletzte).
Der Druck der türkischen Regierung auf die USA erlaubten es ihr schliesslich, militärische Operationen zur Ausmerzung der PKK-Stützpunkte in den Kandilbergen im Irak auszuführen. Am 1. Dezember 2007 fand der erste Luftangriff statt; am 22. Februar waren die Bodentruppen an der Reihe. Die „Operation Sonne“ endete mit der Tötung von 240 „Terroristen“ und auch von 28 türkischen Soldaten. Die USA änderten daraufhin ihre Meinung und zogen ihr Einverständnis zurück, was zu den ehrenvollen Erwähnungen der Schlachten der PKK beitrug. Im Mai 2009 verkündete Yasar Buyukanit – kurz zuvor zurückgetretener türkischer Stabschef – den Medien, dass die Türkei nicht fähig sein werde, die PKK aus ihren Stützpunkten im Kandil zu vertreiben, auch wenn die gesamte türkische Armee dorthin geschickt werde.
Bis heute bleibt die Bedingung der Bewohner des türkischen Kurdistans in den meisten Fällen durch Armut charakterisiert: Ende 1990 versprach der türkische Premierminister Ecevit „heftige Investitionen“, doch solche Bemerkungen blieben weitgehend leere Worte. Trotz dem wirtschaftlichen Aufstieg der Türkei bleibt die von Kurden bewohnte Zone die ärmste des Landes: „Wir müssen betonen, dass die Ungleichheit zwischen den kurdischen Regionen der Türkei und dem Rest des Landes nach wie vor sehr gross ist, obwohl es gewisse Veränderungen gegeben hat. Der Konflikt zwischen den Guerillas der PKK und der türkischen Armee, welcher die wirtschaftliche Aktivität in den ländlichen kurdischen Regionen zerstörte, besonders die Landwirtschaft, hat die Situation zusätzlich verschlimmert. […] Zurzeit liegt der Armutsanteil in der Bevölkerung des Südostens (türkisches Kurdistan) zwischen 85 und 90% und die Arbeitslosenrate ist viel höher (18%) als im Rest der Türkei (11.8%). Im Jahr 2006 flossen nur 8% der staatlichen Zuschüsse zur Stimulierung der Investitionen in die kurdische Region.
Im Juni 2010 lagen nur 5% der Firmen des Vereins industrieller und türkischer Geschäftsleute (TUSIAD), welcher 65% der türkischen industriellen Produktion repräsentiert, in kurdischen Gebieten.“ [9] Innere Migration führte dazu, dass viele Kurden in den grossen Zentren der westlichen Türkei Arbeit suchen. Obwohl es diesbezüglich keine eindeutigen Daten gibt, darf vermutet werden, dass die Löhne kurdischer Arbeiter in der Regel tiefer sind als jene der türkischen Arbeiter. In den letzten Jahren (besonders 2010), v.a. als es zu Zusammenstössen zwischen der PKK und der türkischen Armee kam, gab es anti-kurdische Pogrome in den grossen Städten der Türkei, welche wahrscheinlich – falls unsere Vermutung stimmt – einen Zusammenhang haben mit dem durch die Existenz dieser billigen Arbeitskraft ausgelösten Lohndruck.
Jenseits der türkischen Grenzen, im Iran nach der Ära von Khatami, welcher grosse Hoffnungen (und viele Enttäuschungen) bezüglich einem autonomen Status auslöste, hatte die Wahl von Mahmud Ahmadinejad 2005 schon einige Ausschreitungen in mehreren Städten im iranischen Kurdistan ausgelöst, begleitet von bewaffneten Aktionen der PJAK (Partei für ein Freies Leben in Kurdistan, gegründet 2003 von einigen ehemaligen Kämpfern der iranischen DPK). Der im Gedenken an einen 1989 getöteten Kämpfer ausgerufene Generalstreik 2008 wurde in den wichtigsten kurdischen Städten rege unterstützt; 2009 kam es zu massiven Protesten gegen die Wiederwahl Ahmadinejads und 2010 wurden vier kurdische Aktivisten strafrechtlich verfolgt und exekutiert. Die Wahl des moderaten Hassan Rohani 2013 hat den Radikalismus der Ahmadinejad-Ära entschärft, sowohl in Bezug auf den der iranischen Wirtschaft besonders abträglichen Antiamerikanismus auf geopolitischer Ebene, als auch in Bezug auf die „eiserne Hand“ gegenüber der kurdischen Minderheit.
In Syrien markierte die von Hafez al-Assad angeordnete Ausschaffung Öcalans 1998 das Ende der syrisch-kurdischen Idylle und der Tod eben dieses (älteren) al-Assad machte es unumkehrbar. Von diesem Zeitpunkt an zeigte sich die Unzufriedenheit und der Wunsch nach „Demokratisierung“ (wie auch die proamerikanischen Sympathien) der syrischen Kurden während mehrerer Gelegenheiten bis zu den Ereignissen 2011 und dem Ausbruch des Bürgerkriegs im Jahr danach, während welchem die kurdische Opposition eine eher passive Rolle spielte (die Gründe hierfür werden wir analysieren). Im Jahr 2004 z.B. führte eine Polizeiintervention während einem Fussballspiel zwischen Qamischli (die grösste kurdische Stadt in Syrien) und Der-ez-Zor aufgrund einem weitgehend verbalen heftigen Streit zwischen arabischen und kurdischen Fans zu sieben Toten und löste eine Welle der Ausschreitungen aus, welche die Städte Qamischli, Afrin, Aleppo und Damaskus betraf; die Aufständischen verbrannten Bilder von Vater und Sohn al-Assad, schwenkten kurdische und amerikanische Fahnen und brüllten einstimmig: „Freies Kurdistan“.
Im Irak sind die glorreichen Tage der Guerilla-Autonomie von Mustafa Barzanis DPK weiter weg denn je: „[…] der Golfkrieg 1991 veränderte die Konfiguration der kurdischen Frage radikal. Er resultierte in der Erschaffung einer Schutzzone, innerhalb welcher die irakischen Kurden selbstverwaltete Institutionen aufbauen konnten. […] Schliesslich führte der Irakkrieg 2003, welcher Saddam Hussein entthronte, zu einer Neuzusammensetzung des Iraks und der Region und bestätigte die irakischen Kurden in ihrer Rolle als strategische Bündnispartner der USA. Die irakischen Kurden schafften es, auf die Kurden in der Türkei, in Syrien und im Iran Einfluss zu gewinnen. Die Erfahrung der irakischen Kurden beeinflusste auch die türkischen Behörden, welche die neue politische und wirtschaftliche Position der irakischen Kurden in Bezug auf ihre Grenze nicht länger ignorieren können.“ [10] Nachdem der Krieg 1991 vorbei war, erlaubte der Kontrollverlust der irakischen Regierung über ihr Territorium der PKK sowohl Nachschub an Waffen und Munition, als auch einen grossen Handlungsspielraum im Irak. Doch der gegenwärtige Aufstieg der DPK von Masud Barzani (ein Verbündeter von Ankara und der USA) und mit ihm jener der von den Öleinnahmen abhängigen Bourgeoisie hat das Leben für die PKK sehr schwierig gemacht; nicht nur wegen dem dadurch ausgelösten innerkurdischen Konflikt, sondern auch durch das regelmässige Wiederaufkommen einer „liquidationistischen“ Fraktion innerhalb der PKK (wir werden darauf zurückkommen).
So viel zur Vergangenheit. Gegenwärtig ist die kurdische Frage zurück auf den Titelseiten der Zeitungen, besonders seit der infame Islamische Staat (IS) begonnen hat, an Boden zu gewinnen. Die internationale Presse feierte die rettende Intervention der „Kurden“ zu Gunsten der Jesiden im Nordirak. Die Tatsache, dass die Presse nicht erwähnte, dass diese Kurden die sogenannten „Terroristen“ der PKK oder der PYD waren und nicht die Peschmerga von Masud Barzanis DPK, welche stattdessen davon rannten, ändert nichts an der Ordnung des Diskurses, jene eines banalen Anti-IS-Frontismus. Können wir diesen Diskurs als unseren eigenen betrachten? Die Antwort lautet nein. Schauen wir uns an weshalb.
Die Restrukturierung des Kapitals und die Entnationalisierung des Staates
Man kann weder die gegenwärtige Wende der kurdischen Frage, noch die Entwicklung ihrer politischen Ausdrücke – allen voran der PKK – verstehen, ohne sich mit dem Ende des goldenen Zeitalters eines sozialistischen oder „progressiven“ „Nationalismus von unten“ in der Peripherie und Semi-Peripherie des kapitalistischen Systems und seinen Ursachen zu befassen. Eine solche soziopolitische Perspektive fand ihren Daseinszweck in der Struktur des kapitalistischen Weltsystems zwischen dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Krise 1973. Die Grundlage davon war die Trennung zwischen „Zentrum“ und „Peripherie“ – und besonders die rigide, auf einer nationalen Ebene auferlegte Beziehung zwischen ersterem und letzterer – diese Struktur wies ersterem die Ehre und die Last zu, die Akkumulation durch intensive industrielle Entwicklung voranzutreiben, und letzterer die untergeordnete Rolle als Lieferanten billiger Rohstoffe. Der „sozialistische Block“ mit all seinen inneren Konflikten (UdSSR vs. China usw.) war eine geschlossene Zone der Akkumulation, vom Weltmarkt ausgeschlossen und als Anziehungspunkt für alle Versuche der Peripherien dienend, sich von der ihnen zugewiesenen Rolle „abzukoppeln“ (Samir Amin).Die Diversifikation auf der Ebene der gesellschaftlichen Formation erlangte ihren Sinn – wie es in jeder Ära der kapitalistischen Produktionsweise geschieht – einzig und allein in den gegenseitigen Beziehungen innerhalb der internationalen Arbeitsteilung (der „Weltwirtschaft“), deren allgemeine Konsistenz die Möglichkeit eines inneren Konflikts nicht verhinderte: „Die Koexistenz dieser Varianten wurde durch das internationale Geldsystem möglich gemacht, was den nationalen Regulationsmodellen eine gewisse Unabhängigkeit liess. Tatsächlich erlaubten der nach wie vor geringe Anteil des Aussenhandels am BIP, der niedere Grad finanzieller Integration aufgrund der Kontrolle internationaler Kapitalbewegungen und die Fähigkeit zur Entwertung in einem System fixer, aber regulierbarer Wechselkurse einen gewissen Grad an Freiheit bezüglich der Wirtschaftspolitik.“ [11] Sowohl in den kapitalistischen Zentren als auch, obwohl auf eine umgekehrte und symmetrische Art und Weise, in den Peripherien „hatte die Entfaltung der vermittelnden Institutionen somit eine nationale Färbung und erlaubte ihnen die Entwicklung nationaler Anpassungen des fordistischen Wachstumsregimes [oder Unterentwicklung]“. [12]
Die Krise der 1970er Jahre, welche mit dem ersten Ölschock begann, war gleichbedeutend mit der Krise dieser Struktur; mit der relativen Entindustrialisierung Europas und der USA, dem Ende des „sozialistischen Blockes“ und dem Zerfall der Dritten Welt in „Abgetauchte“ (Vierte und Fünfte Welt) und „Gerettete“ (die aufkommenden Märkte: Brasilien, China, Indien, Türkei usw.) erneuerte sich ihre Konfiguration, ohne dass die Polarisierung Zentrum/Peripherie (oder die sogenannte ungleiche Entwicklung) abgeschafft oder abgeschwächt worden wäre, doch sie wurde komplexer und entnationalisiert. Eine andere dreigeteilte, hierarchisch strukturierte Zoneneinteilung setzte sich durch: zuoberst hyperkapitalistische, mit der Finanz und dem Hi-Tech-Sektor verbundene Zentren; in der Mitte eine Zwischenzone, welche geteilt ist zwischen Logistik und kommerzieller Verteilung einerseits und häufig ausgelagerten Fertigungsoperationen andererseits; zuunterst Zonen der Krise und der „gesellschaftlichen Müllhalde“, welche durch die Ausbreitung aller Arten der informellen Wirtschaft charakterisiert sind. Diese Dreiteilung wird auf jeder Ebene, von der Welt bis zum Quartier, auf fraktale Art und Weise reproduziert [13]. Das Finanzkapital als eine Art „ideeller Gesamtkapitalist“ der neuen Welt wird zum Hauptträger dieser Umgestaltung und seine Expansion (gebührend vermittelt durch die Explosion der etlichen „Blasen“) ist der zu bezahlende Preis für einen neuen Akkumulationszyklus, der fähig sein muss, Mehrwert überall, wo immer mehr Profit in Sicht ist, hineinzuzwängen, zu transferieren und zu reinvestieren:
"Das Grosskapital platziert sich nun oberhalb des Nationalstaates, gegenüber welchem es zu einer instrumentellen und zwiespältigen Haltung tendiert – „instrumentell“, weil es versucht, den Staat seinen Interessen gefügig zu machen, sowohl durch die direkte Handlung der Lobbys als auch durch die Disziplin der „Märkte“; „zwiespältig“, weil die Verschiebung seiner Interessen in Richtung eines globalen Raumes zu Schwierigkeiten in den Nationalökonomien führt, besonders in entwickelten, welche die zuvor von Staaten übernommene Funktion des „nationalen Gesamtkapitalisten“ bedrohen." [14]
Der Niedergang des „nationalen Sozialismus“ in der Peripherie und Semi-Peripherie und die Restrukturierung des Kapitals sind auf jeden Fall identisch, insofern, als dass Globalisierung – von den Hyperzentren bis zu den Schuttzonen, von der Entstehung der Europäischen Union bis zur Ausbreitung „balkanisierter“ Zonen – selbst als Prozess der Entnationalisierung des Staates fungiert. Diese sollte allerdings nicht in einer teleologischen Art und Weise konzipiert werden, denn es ist nicht die definitive Überwindung des Nationalstaates durch die „Globalisierung“ und auch nicht die schliessliche Erreichung des wahren höchsten Stadiums des Kapitalismus; der Nationalstaat ist ein funktionales Element eines Systems geworden, das über ihn hinausgeht:
"Eigentlich war das Ziel von Bretton Woods, die Nationalstaaten tatsächlich gegen exzessive Fluktuationen im internationalen System zu schützen. Das Ziel der gegenwärtigen globalen Ära ist ein total anderes: Globale Systeme und funktionale Modelle müssen in den Nationalstaaten eingeführt werden, unabhängig von den Risiken für ihre Ökonomien. Weiter zeigt diese Dynamik auch, wie Nationalstaaten an diesem Prozess teilnehmen mussten: Die Einführung globaler Systeme und Operationsweisen im Kontext von stark institutionalisierten Nationalstaaten ist keine einfache Aufgabe." [15]
Die Entnationalisierung des Staates stellt ein kohärentes System dar, welches die politische Formalisierung des Klassenkampfes überbestimmt: Aus diesem Grund kann sich die Erhebung gewisser proletarisierter Bevölkerungen Zentral- und Südamerikas ideologisch mit dem Indigenismus identifizieren; in Palästina ist es unmöglich, die Verbindung zwischen der zweiten Intifada und dem Aufstieg der Hamas nicht zu erkennen; ganz allgemein findet der politische Islam im Mittleren Osten seine gesellschaftliche Basis in den ärmeren Schichten der Gesellschaft und geht, im Gegensatz zum goldenen Zeitalter des arabischen Nationalismus, soweit, sich von ihren Kämpfen zu nähren; in Europa kommt die Rettung des Nationalen gegen das Globale jedes Mal klar auf, wenn Unternehmen schliessen oder dorthin gehen, wo die Arbeit billiger ist, das „Einwanderungsproblem“ und das „Europaproblem“ drängen die „einheimischen“ Fraktionen der Arbeiterklasse in Richtung Stimmenthaltung oder mehr oder weniger rechtem Populismus [16].
All das hat nichts mit einem vermeintlichen Zerfall der kapitalistischen Produktionsweise zu tun, welche uns für sich allein genommen mutmasslich in die „Barbarei“ führen würde. Der Islamische Staat ist nicht eine archaische Wiedererweckung, keine Frucht gesellschaftlicher Beziehungen im Zerfall, sondern eine politische Einheit, welche jener Zeit und jener Umwelt entspricht, welche sie hervorbringt: Es ist der entnationalisierte Staat in Fleisch und Blut, welcher im Nahen Osten, aus den gleichen Gründen, welche zum Niedergang des panarabischen Nationalismus führten, wortwörtlich nur islamischer Staat bedeuten kann. Vom ideologischen Standpunkt aus wird die Restauration des Kalifats und die Wiedereroberung Jerusalems als glaubwürdige Antwort präsentiert, als ein in jeder Hinsicht würdiger Nachfolger der „arabischen Nation“ als gesellschaftlicher und geopolitischer Akteur. Noch wichtiger ist die Tatsache, dass das alles nicht aus dem Nichts kommt: Sogar der alltägliche Klassenkampf, insofern (und solange) er auf Distributionsverhältnisse beschränkt bleibt, findet seine natürliche politische Ausweitung in der Forderung nach Umverteilung des Einkommens, was im Mittleren Osten nur Aneignung und Umverteilung von Rente bedeuten kann.
Die Existenz des Proletariats innerhalb der Kategorien der kapitalistischen Produktionsweise findet immer irgendeine Form der politischen „Übersetzung“ in einem gegebenen Kontext, doch es gibt keinen zwingenden Grund, weshalb dies notwendigerweise in einem klar erkennbaren (säkularen) Reformismus der Arbeiterklasse resultieren soll, wie das im westlichen Kontext der Fall war (sozialdemokratische und stalinistische Massenparteien). Die Distributionssphäre ist dieser rüpelhafte Ort, wo wirtschaftliche Forderungen der Proletarier je nach Umständen zweigeteilt werden können: Einerseits die politische Forderung nach totaler Demokratie (das „wahre Paradies der Menschenrechte“ und des Bürgers, im Gegensatz zur gegenwärtig existierenden Demokratie) und andererseits die Forderung nach einer gerechten Ordnung, frei von Korruption da auf dem göttlichen Gesetz gründend. Weiter ist die Tatsache, dass die politische Formalisierung des Klassenkampfes in Religion übergehen kann – wie man es schon in Polen im Falle von Solidarność (1980) beobachten konnte – keine Besonderheit der arabischen Welt. Sicher, „Religion ist das Opium des Volks“, doch nur insofern, als dass sie die Kämpfe des Proletariats innerhalb des Fetischismus (Produktionsverhältnisse werden zu Distributionsverhältnissen) bestätigt.
Es ist nach wie vor eine Tatsache, dass die Religion innerhalb des Fetischismus auch „der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt“ sein kann. Die Tatsache, dass all das auf Kosten der Frauen, allen voran der proletarischen Frauen geschieht, ist untrennbar mit der Art und Weise verbunden, wie der Klassenkampf (wann immer er die Frauen dazu aufruft, sich als Ehefrauen oder direkt als Arbeiterinnen zu beteiligen) die Frage der (erneuten) Zuweisung der Frauen zum häuslichen Raum oder präziser zur Rolle der Reproduktion der Arbeitskraft stellt. Es sollte nebenbei auch gesagt werden, dass das auch mit der „führenden Rolle“ der Frauen im militärischen Flügel der PKK zu tun hat: Die Guerillaorganisation beseitigt den Genderantagonismus nicht, sondern verlegt ihn auf ein anderes Terrain, was den Frauen häufig einen grösseren Handlungsspielraum gibt.
Der Islamische Staat ist bezüglich oben erwähnter Phänomene keine Ausnahme: „In Syrien gibt der IS den Anschein, eine effiziente bewaffnete Gruppe zu sein, welche ihre Kämpfer bezahlt, ihnen etwas zu essen gibt und eine lokale Umverteilung für die Hungernden und die Armen garantiert. Sie interessiert sich für einen Neuaufbau des Bildungssystems für mehr junge Leute. Sie akkumuliert bedeutende Ressourcen (Steuern, Schmuggel, Lösegeld, Öl).“ [17] Sogar Valeria Poletti – eine unabhängige Forscherin, welche vor kurzem eine sehr detaillierte, doch von panarabischer Nostalgie durchdrungene Studie zum zeitgenössischen Mittleren Osten veröffentlicht hat, wo sie als Grund für den Aufstieg des politischen Islam eine mutmassliche amerikanische Strategie angibt, welche zum Ziel habe, sektiererische Spaltungen innerhalb der „arabischen Nation“ zu entfesseln – kann sich ein paar Versprecher nicht verkneifen:
"Die Islamisten des Islamischen Staats des Iraks und Syriens (ISIS), ein direkter Ableger des irakischen IS, behaupten, gegen die Armee von al-Assad zu kämpfen, doch ihr tatsächlicher Zweck ist es, ein kurzlebiges Ersatzkalifat in jenen Zonen zu errichten, welche von ihren Milizen erobert wurden. Dafür benutzen sie Terror gegen Zivilisten und greifen zu den Waffen gegen laizistische oder jihadistische Kämpfer, welche nicht ihrer Fraktion, der revolutionären Front angehören. […] Obwohl er die internationale und extremistische Sichtweise der absoluten Herrschaft und der vollständigen Durchsetzung der Sharia von Al-Qaida teilt, hat [der IS] die Anerkennung des Vorgängers [Al-Qaida] nicht bekommen, nicht nur wegen seiner angekündigten Absicht, einen Kalifatsstaat in den von ihnen beherrschten Gebieten zu errichten, sondern auch wegen ideologischen Differenzen. Weiter werden die terroristischen Methoden seines Systems der Machtverwaltung (Entführungen, Folter, Enthauptungen, sektiererische Morde gegen Schiiten), welche im Volk tiefe Feindschaft auslösen, sogar von den Anführern von Al-Qaida verurteilt. Trotzdem hat ISIS, eben genau weil es nicht nur eine Bewegung jihadistischer Kämpfer ist, sondern sich um die Verwaltung kümmert und das Funktionieren gesellschaftlicher Strukturen garantiert, die Unterstützung eines Teils der Bevölkerung erlangt." [18]
Auf geopolitischer Ebene spiegelt sich die Entnationalisierung des Staates im Ende des Systems starrer Bündnisse, wie es in der zweigeteilten Welt nach 1945 typisch war, es wurde ersetzt mit einem System flexibler Bündnisse jener Art, wie wir sie gegenwärtig im Mittleren Osten am Werk sehen.
"Seit seinem Auftauchen im April hat ISIS den Verlauf des Krieges in Syrien verändert. Es zwang die syrische Opposition zu heftigen Kämpfen an zwei Fronten. Der Eingang von Hilfslieferungen und der Ausgang von Informationen aus Syrien sind blockiert. Und mit jeder Eroberung werden die Regierung der Vereinigten Staaten und ihre europäischen Verbündeten dazu gezwungen, ihre Strategie der sporadischen Unterstützung der gemässigten Opposition und die rhetorischen Aufrufe zum Sturz Bashar al-Assads zu überdenken. […] Derweil haben gewisse Geheimdienste, z.B. jener Deutschlands, wieder Kontakte zur syrischen Regierung geknüpft. Eine weitere Rehabilitation des Assad-Regimes ist mit der wachsenden Bedrohung von Al-Qaida durchaus denkbar." [19]
In einem solchen Gewirr sind wechselnde Bündnisse und Seitenwechsel die Regel und folglich ist Vorsicht geboten. Doch über die PYD, den Bündnispartner der PKK in Syrien, schreibt der Autor von "Kurdistan: Eye of the Cyclone": „Hier, in der Erhebung gegen das syrische Regime, verbündete sich [die PYD] weder mit dem Assad-Regime, noch mit den „syrischen Rebellen“, sie praktizierte einen „dritten Weg“: die Befreiung, Verteidigung und Verwaltung ihres Territoriums, zusammen mit anderen – nicht nur kurdischen – Parteien und Institutionen der Zivilgesellschaft, in einer Art kantonaler Demokratie von unten.“
Was der Autor nicht erwähnt, ist die Tatsache, dass dieser angebliche „dritte Weg“ keiner ist, da er von al-Assad selbst in einer Art ungeschriebenem Abkommen akzeptiert wurde, wodurch das syrische Regime Rojava eine gewisse Autonomie überlässt gegen die Neutralität der syrischen Kurden im laufenden Bürgerkrieg. Es kann gewiss argumentiert werden – wie dies die fröhliche Bande von Wu Ming in "The ISIS War, the Role of the PKK and the Autonomous Zone of the Rojava" tut – dass die Autonomie der Kurden in Rojava zum von der PKK geforderten demokratischen Konföderalismus tendiert, doch es scheint uns, dass sie eher zum Aufbau von proto-staatlichen Strukturen tendiert, welche, unter besonderen Umständen, künftig die Grundlage eines unabhängigen kurdischen Staates sein könnten. Zudem bleibt, wenn wir davon ausgehen, dass die PKK, die PYD und ihre Milizen gänzlich eigenständig finanziert sind (Steuern, Rimessen, Migranten usw.) [20], die Frage, wer ihnen Waffen verkauft, durch welche Kanäle usw. Z.B.: Ist es möglich, dass die Kanäle, durch welche die Waffen in die von der PKK und ihren Verbündeten kontrollierten Zonen kommen, offen bleiben können, ohne den mehr oder weniger diskreten Schutz einer der grossen Staaten der Region?
Einige behaupten, dass die PKK und die PYD ihren Nachschub auf dem Schwarzmarkt in Syrien von Deserteuren der syrischen Armee bekommen; das mag vielleicht stimmen, doch werden diese Waffen allein reichen, damit die kurdischen Milizen ihre Stellung gegenüber dem IS verteidigen können, schliesslich hat letzterer nun eine reale Staatsstruktur, kontrolliert Ölfelder und, was noch wichtiger ist, hat eine grosse Menge an Waffen von der irakischen Armee erbeutet? Derweil, gemäss den jüngsten Informationen (vom 7.10.14), wehen die Flaggen des IS auf den Dächern von Kobane, Syrien, und die PYD hat ausdrücklich vom türkischen Kurdistan kommende Verstärkung verlangt. „Die Mobilisierung von Kobane reicht nicht“, warnte Redur Xelil, der Sprecher der YPG (militärischer Flügel der PYD), am Donnerstag auf Twitter, „sonst wird es einen weiteren Völkermord wie in Sindschar geben, dieses Mal in Kobane“, womit er sich auf die Massenflucht zehntausender Jesiden aus der Sindscharregion im angrenzenden Irak bezieht [21]. Wer Ohren hat, möge hören.
Gleichzeitig sind die amerikanischen Interessen für die Erschaffung eines Lagers, das als Bollwerk gegen ISIS dienen kann, sehr real und die Verschwörungstheorien aller Möchtegern-Michael-Moores über die amerikanische Unterstützung des Aufstiegs des radikalen Islams und Al-Qaida [22], 16-9-2014.]] erklären nichts: Sogar abgesehen von der Frage der Kontrolle über Öl und Gas gehen die theatralischen Exekutionen westlicher Gefangenen in „Guantanamo“-Anzügen durch den IS weiter, was Obama nicht übersehen hat. Natürlich ist die Zeit des 11. Septembers und George W. Bush schon lange hinter uns, doch das gegenwärtige Niveau an Verwirrung in internationalen Beziehungen genügt selbstverständlich nicht, um die militärische Intervention einer von den USA angeführten Koalition zu verhindern – mit viel „Menschenrecht“ als Legitimation. Versteht man erst mal, dass die prinzipiellen säkularen Kräfte in der Region das syrische Regime und die „Kurden“ sind, könnten zukünftige Szenarien trotz ihrer gegenseitigen Feindschaft überraschend sein [23].
Es muss klar gesagt werden, dass das, was blüht, ein „jugoslawisches“ Szenario eines grausamen Bürgerkriegs mit vom Himmel fallenden „Menschenrechten“ ist. Wenn so etwas Realität wird, ist die Frage, was daraus resultieren könnte: eine Umgestaltung der Staatsgrenzen im Mittleren Osten (mit der möglichen Erschaffung eines kurdischen Staates) oder zunehmendes Chaos ohne den Horizont (zumindest bis jetzt) eines revolutionären Auswegs? Die blosse Existenz der PKK und die energische Opposition der Türkei gegen die Autonomie der Kurden gelten als wichtigste Gegentendenzen zur ersten der beiden Möglichkeiten. Doch ist es tatsächlich so? Und falls ja, weshalb? Einmal mehr ist unsere Antwort negativ; wir werden die Gründe dafür in der nächsten Sektion erklären. Jegliche „Lösung“ – sei sie revolutionär oder konterrevolutionär – wird auf jeden Fall strikt endogen geographisch auf den Kontext des Mittleren Ostens beschränkt sein, während neue und andauernde Grenzverschiebungen nur in einem Kontext einer weiteren Expansion der Restrukturierung der kapitalistischen Produktionsweise geschehen können, wofür es im Moment nur einige vage Hinweise gibt. Doch diese andere Alternative hängt nicht weniger von Ereignissen woanders ab (wir werden darauf zurückkommen). Einige glauben, dass dieser Krieg, der erst angefangen hat, möglicherweise viele Jahre dauern wird. Unserer Meinung nach wird er, in der Kontinuität des instabilen oder düsteren Ausgangs des Arabischen Frühlings (Ägypten, Tunesien und, etwas weniger, Libyen), eine Periode systemischen Langzeitchaos definieren:
"Die drei langfristigen geopolitischen Prognosen von Giovanni Arrighi, welche er in The Long Twentieth Century skizzierte, bestehen darin, dass die Flucht nach vorne in einen finanzialisierten Neoliberalismus nur eine kurze Verlängerung der amerikanischen Hegemonie bringen wird und dass sich dann entweder ein vom Westen verwaltetes globales Imperium, eine in den Osten neigende weltweite Marktgesellschaft oder langfristiges systemisches Chaos ergibt. Eine vollständige Version der ersten Möglichkeit kann wahrscheinlich ausgeschlossen werden. […] Die Entstehung eines neuen hegemonischen Zentrums scheint ebenfalls unwahrscheinlich. […] Der wahrscheinlichste Ausgang ist eine Kombination der ersten und der dritten Möglichkeit: ein Konzert der Mächte zur Aufschiebung von Finanzkollapsen, welches jedoch unfähig ist, einen Übergang zu einer neuen Phase nachhaltiger kapitalistischer Entwicklung zu orchestrieren. Wir treten in eine Periode ergebnisloser Kämpfe zwischen einem geschwächten Kapitalismus und zerstreuten Oppositionskräften innerhalb delegitimierter und bankrotter politischer Ordnungen ein." [24]
Die „libertäre“ Wende der PKK
Hamit Bozarslan beschreibt folgendermassen die entstandene Verwirrung im Milieu der pro-kurdischen Militanz in den letzten zehn Jahren mit den Veränderungen, welche wir in der letzten Sektion zu beschreiben versuchten:"Alles deutet darauf hin, dass der kurdische Konflikt erneut das Ende eines historischen Zyklus erreicht, welches durch seine eigenen Formen der Vergesellschaftung, des Ausdrucks, der Militanz und sogar seine eigenen Formen der Gewalt charakterisiert ist. Das Phänomen ist nicht neu. In den 1960er Jahren machte eine ganze Generation von vom Westen inspirierten Kämpfern, von welchen einige schon seit den 1920er Jahren aktiv gewesen waren, einer neuen Generation von Kämpfern Platz, welche sich in ihrer überwältigenden Mehrheit mit der Linken identifizierte. Das Scheitern der Revolte von Mustafa Barzani im Irak (1961-1975) – sowohl ein Moment des Bruches, als auch der Übermittlung zwischen Generationen – gab hingegen den Anstoss für neue Akteure, die PUK (Patriotische Union Kurdistans) im Irak, Komala (Gruppierung) im Iran und die Speerspitze des bewaffneten Kampfes, die PKK, in der Türkei. […] Gegenwärtig halten diese alten Kämpfer, bewaffnet mit einer im Verlauf vergangener Kämpfe erlangten Legitimität, welche nun an ihr Ende kommt, immer noch Schlüsselpositionen im irakischen Kurdistan, doch sie tragen nun die Kleider von Politikern oder Politikerinnen, Bürokraten oder Bürokratinnen oder sogar jene von Unternehmern oder Unternehmerinnen. […]
Trotz Unterschieden je nach Situation in den jeweiligen Ländern blieb alle kurdische Militanz des vorhergehenden Zyklus in der Linken verankert, im Gegensatz zu anderen Protesterfahrungen im Mittleren Osten nach 1979, welche weitgehend mit dem Islamismus verbunden waren. Mittlerweile wirkt sich der Fall der Berliner Mauer auch auf Kurdistan aus, wenn auch mit einer Verspätung von zwei Jahrzehnten, und kreiert ein eigenartiges Gefühl der Leere. Wenn auch der Konflikt weiterhin von einem kurdischen Nationalismus genährt wird, der immer noch fähig ist, durch seine Symbole und seine historischen und geographischen Repräsentationen zu mobilisieren, sind sie doch nicht mehr länger fähig, einen partikularistischen Kampf mit einem Diskurs und einer universalen Symbolik zu rechtfertigen, welche fähig sind, über ihn hinauszugehen und ihm Sinn zu geben." [25]
Die Wende der PKK – d.h. die Absage an die Perspektive eines unabhängigen kurdischen Staates, welche eindeutig im von Bozarslan skizzierten Kontext zu sehen ist – ist eine Reaktion auf drei verschiedene Bedürfnisse: 1) die Anerkennung einer Sachlage: die Obsoleszenz eines „Nationalismus von unten“; 2) der negative Ausgang der Guerilla-Strategie, symbolisiert durch die Verhaftung von Abdullah Öcalan in Nairobi 1999; 3) die gesellschaftlichen Veränderungen im historischen Kurdistan in den letzten 25 Jahren.
Was den ersten Punkt betrifft, kann die Obsoleszenz des „Nationalismus von unten“ angesichts der kapitalistischen Restrukturierung (wie weiter oben suggeriert) erklärt werden, doch noch prosaischer kann gesagt werden, dass es eine Tatsache ist, dass mit dem Ende der UdSSR der Hauptsponsor dieser Nationalismen nicht mehr existierte. In der zweigeteilten Welt nach 1945 konnten – auf unterschiedliche, aber kohärente Art und Weise – das Verlangen nach Unabhängigkeit der „beherrschten Nationen“ und Versuche, einen auf sich selbst bezogenen Kapitalismus in schon formell unabhängigen Drittweltstaaten zu entwickeln, welche jedoch an der „Entwicklung der Unterentwicklung“ litten (im Rahmen welcher eine mit dem Westen zusammenarbeitende Bourgeoisie den imperialistischen Mächten billiges Rohmaterial verkauft, um ihren Konsum zu finanzieren, statt in die Industrie zu investieren und eine sie unterstützende Binnennachfrage zu kreieren), nicht realisiert (oder nur schon aufgebaut) werden ausser unter der Ägide irgendeines sozialistischen Mutterlandes und mit Hilfe seiner langfristigen Kredite mit sehr tiefen Zinssätzen. Das Unglück (und auch die Dynamik) des kurdischen Nationalismus ist die Tatsache, ohne „Heilige im Himmel“ da zu stehen, denn die Forderung nach einem unabhängigen Kurdistan war gleichbedeutend mit der Tatsache, dem Star des von der UdSSR gesponserten Anti-Imperialismus auf die Füsse zu treten.
Was den zweiten Punkt betrifft, lohnt es sich, sich zu erinnern wie Öcalan, lange vor seiner Verhaftung 1999, eine „politische Lösung“ suchen wollte, welche schon damals einer Relativierung der historischen Forderung der Unabhängigkeit gleichkam. Damit hoffte er, sich den „Imperialisten“ der Europäischen Union anbiedern zu können, doch diese wiesen seine Avancen zurück und erlaubten schliesslich seine Verhaftung. Der Ausgang von Öcalans europäischer Pilgerfahrt wurde von der ganzen kurdischen nationalistischen Bewegung als historische Niederlage wahrgenommen und verursachte u.a. einen substantiellen Verlust an Kämpfern. Man muss hinzufügen, dass die „spirituelle Krise“ der PKK verbunden ist mit der Kooption der DPK von Masud Barzani in einen pro-amerikanischen Dunstkreis, und nicht wenige hoffen, dass ein solches Bündnis schliesslich mit diplomatischen Mitteln erreicht, was die PKK durch Guerillakampf und „Marxismus“ nie erlangen konnte. Die durch die amerikanische Gunst ausgelösten Hoffnungen sind allerdings alles andere als ungerechtfertigt. Obwohl die Erschaffung eines kurdischen Staates nicht auf der Tagesordnung zu stehen scheint, gibt es im Kontext der Strategiestudien der amerikanischen Armee eine ausführliche Debatte über die Perspektive, den Kurden einen unabhängigen Staat zu geben (siehe Anhang).
Was die rein gesellschaftlichen Veränderungen überall im historischen Kurdistan betrifft, eignet sich der Kontext der 2000er Jahre, obwohl es in Mode ist, die Dynamiken des kurdischen Raums so darzustellen, als ob sie in einer Art exotischem, bergigem Mikroklima geschehen würden, denkbar schlecht zu einem Vergleich mit früheren Perioden.
"Kurdischer Protest spielt sich mittlerweile in einer weitgehend urbanisierten Zone ab. Die ländliche Landschaft, mit welcher die Kurden sowohl in ihrer alltäglichen Realität als auch in der orientalistischen Vorstellung stark assoziiert wurden, ist so gut wie verschwunden […]. Im irakischen Kurdistan, wo kurdische Dörfer während den 1980er Jahren massenweise vom Regime von Saddam Hussein zerstört wurden, leben nun drei Viertel der Bevölkerung in den drei grössten Städten, Erbil – die Hauptstadt –, Dohul und Sulaymaniyah. […] In Syrien hat sich der Kern der kurdischen Politik schon immer auf die Städte konzentriert und die Intelligenzia und die Jugend stehen mehr denn je im Rampenlicht. Ähnlich verhält es sich im Iran, obwohl die Macht niemals eine Politik vorsätzlicher Zerstörung der ländlichen kurdischen Zonen angewendet hat, hat sich das demographische und politische Gewicht ländlicher Zonen zu Gunsten von einem Dutzend von Städten verringert, welche in wirtschaftlicher Hinsicht zu den am wenigsten entwickelten gehören, doch durch eine grosse Vitalität charakterisiert sind. Während die meisten kurdischen Städte im Iran zwischen 100 000 und 150 000 Einwohner haben, hat Urmia fast 600 000.
Dieselbe Dynamik kann in der Türkei beobachtet werden, wo das Stammesphänomen des früheren kurdischen Widerstands derart offensichtlich war. […] Ein anderes Element, das viel klarer ist als in der Vergangenheit, betrifft das Gewicht innerer Diasporas in jedem dieser Länder. Obwohl Bagdad aus offensichtlichen Gründen kein Ort kurdischer Konzentration mehr ist, dehnen andere Haupt- oder grosse Städte den kurdischen Raum weit über das historische Kurdistan aus: Istanbul – die Heimat von Millionen von Kurden – und ein halbes Dutzend anderer türkischer Städte, Aleppo und Damaskus, wo ungefähr 600 000 leben, oder einmal mehr Teheran. […] Schliesslich, wenn auch die Präsenz von mehr als einer Million Kurden in Europa nichts Neues ist, so hat sich diese andere Diaspora, die sich stark von dem unterschied, was in der Sowjetunion oder in der arabischen Welt und speziell im Libanon existierte, stark verändert […], Popsänger oder Ingenieure, Restaurantbesitzer oder unqualifizierte Arbeiter pflegen nach wie vor eine pro-kurdische Loyalität, die Kontrolle einer politischen Organisation über ihr alltägliches Leben akzeptieren sie jedoch nicht mehr." [26]
Der zunehmende Erfolg der Türkei als „aufstrebende“ Wirtschaft einerseits und der Ölrausch des Mittleren Ostens andererseits kreieren eine Diskrepanz zwischen einem armen, aber sich entwickelnden städtischen Kurdistan und einem verfallenden ländlichen und bergigen Kurdistan. Während den 1990er Jahren führte das die PKK dazu, immer mehr ein Ausdruck und Vermittler letzteres zu sein und ersteres anderen Kräften zu überlassen.
In dieser Hinsicht ist es klar, dass die angebliche „libertäre“ Wende der PKK nicht die endlich offenbarte Wahrheit ist, welche sich jede soziale Bewegung aneignen sollte. Viel mehr ist sie eine Antwort auf spezifische Probleme, nämlich: 1) ein Problem der „historischen Legitimität“, verbunden mit dem Niedergang traditioneller marxistisch-leninistischer Guerillas oder Modelle für die Dritte Welt; 2) eine Frage der „ideologischen Rechtfertigung“ in Anbetracht einer eindeutigen historischen Niederlage; 3) eine Frage der „kulturellen Anpassung“ an einen neuen gesellschaftlichen Kontext. Deshalb versuchte die PKK, an der Bewegung gegen die Globalisierung anzuschliessen [27]. Die „Bewegung der Bewegungen“, das „Volk von Seattle“ gab Öcalan und seinen Gefährten alles notwendige Rüstzeug zur Durchführung der durch die Situation auferlegten theoretischen und organisatorischen Erneuerung, nicht zuletzt in Begriffen, welche eine nach wie vor an der nationalen Befreiung orientierte Perspektive artikulieren, obwohl sie auf die Aussicht eines unabhängigen kurdischen Staates verzichtet. Von ihrer neuen theoretischen Inspirationsquelle übernimmt die PKK sowohl Stärken, wie auch Schwächen.
Zu ersteren gehören: die tatsächlich mobilisierende Rhetorik, welche die hier und jetzt zu verwirklichenden Veränderungen hervorhebt, die Berufung auf die Ethik, die Hierarchiekritik, das Lob der Horizontalität, einen theoretischen Eklektizismus (Ökologie, Feminismus usw.), welcher einheitliche, zu stark nach „Marxismus“ riechende Synthesen ablehnt; zu letzteren ein Beharren auf Selbstverwaltung und Autonomie, welches eine programmatische Leere kaschiert: Die jüngsten Schriften von Öcalan, welche ins Englische übersetzt wurden, "Democratic Confederalism" und "War and Peace in Kurdistan", enthalten allgemeine Aufrufe für eine gerechtere Verteilung des Wohlstands, doch abgesehen davon sucht man die sozialen Massnahmen vergeblich, welche die PKK ergreifen will, wenn die hypothetische demokratische Konföderation tatsächlich davor steht, das Licht der Welt zu erblicken. In ihrer gesellschaftlichen Basis, dem Handlungskontext und den theoretischen Bezügen ähnelt die PKK immer mehr einer Art EZLN des Mittleren Ostens. Doch einmal mehr ist die PKK spät dran: Der Wendepunkt zum demokratischen Konföderalismus war offiziell 2002; die sich in Revolten verwandelnden Proteste in Genua 2001 markierten schon den Beginn eines langsamen Niedergangs der Bewegung gegen die Globalisierung. Woran sollte man sich nun orientieren? Wem sich zuwenden? Eine marginale, von Osman Öcalan (dem Bruder von Abdullah) angeführte Fraktion hatte die Antwort: den USA.
Ihrerseits hielt es die USA für wichtig genug, einen kurdischen Bauern auf dem irakischen Schachbrett zu haben, um die Öffnung eines Kommunikationskanals mit der PKK in Betracht zu ziehen. Es war ein potenziell fruchtbarer Austausch für beide: Einerseits würde die PKK sich den Anstrengungen für die „Demokratisierung“ der Region anschliessen und den innerkurdischen Konflikt beenden, andererseits würden die USA alles tun, um die Restriktionen gegen die internationale Aktivität der PKK aufzuheben, und Druck machen zur Verbesserung der Haftbedingungen von Abdullah Öcalan. Osman Öcalan bestätigte die Existenz von Kontakten zwischen der PKK und den USA „auf lokaler Ebene“: „Dank unserer Organisation nahestehenden Vermittlern wurden inoffizielle Treffen mit einigen amerikanischen Beamten hergestellt. Es gab einige Formen gegenseitiger Anerkennung. Die Amerikaner wollen die Sympathie der Kurden gewinnen; unsererseits möchten wir zusammen mit den USA eine Lösung finden. Wir haben nicht mit dem Regime von Saddam Hussein kollaboriert und standen amerikanischen Interessen nie im Wege, während die Amerikaner den Kurden viel Böses angetan haben; wir kennen ihre Rolle in der Verhaftung von Öcalan.“ [28]
Die notwendige Haltung gegenüber den USA führte 2004 zu einer regelrechten Spaltung: Die Fraktion von Osman Öcalan spaltete sich ab und gründete die offen proamerikanische PWD (Populär-Demokratische Partei): „Die Organisation betrachtet die USA nicht als eine Kolonialmacht, sondern als jenes Land, welches die Kurden rettete. […] Um ihre Unterstützung für die USA klarer zu betonen, wird die PWD am 7. November 2004 einen Brief an Präsident George W. Bush senden, um ihm zu seiner Wiederwahl zu gratulieren.“ [29] Wir erwähnen solche Anekdoten nicht, um zu suggerieren, es gebe einen Masterplan oder eine Verschwörung, welche aus der PKK nur einen weiteren geheimen Bündnispartner der USA machen würde. Doch es ist unbedingt notwendig, folgendes zu unterstreichen: 1) die Ambivalenz und die tastende Entwicklung, welche die PKK schon immer charakterisiert haben; 2) die Tatsache, dass, falls sich die Hypothese eines unabhängigen Kurdistans materialisiert, die PKK in der misslichen Position wäre, zwischen der Beteiligung an der Operation gegen ihren Willen oder dem Risiko weiterer Marginalisierung und dem Beginn einer neuen Folge blutiger innerkurdischer Konflikte wählen zu müssen.
Wir schliessen diese Sektion mit einer Überlegung zu den Hintergründen. Zumindest seit den Staatsstreichen der Baath-Partei in Syrien (1966) und im Irak (1968) liegt die subversive Seite der kurdischen Frage in ihrem Charakter als lebendiger Protest gegen die imperialistische Zerstückelung des Mittleren Ostens und gleichzeitig gegen den pro-sowjetischen Anti-Imperialismus, der behauptete, sich dieser entgegenzustellen. Was gegenwärtig geschieht, zeigt uns einmal mehr, dass ein vollständiger historischer Zyklus zu seinem Ende gekommen ist und alle seine inneren Möglichkeiten ausgeschöpft hat, jene der „vollen Unterstützung des Rechts auf Selbstbestimmung der unterdrückten Völker (bis hin zum Recht auf Abtrennung und die Niederlage seines „eigenen“ Landes) für einen spezifisch proletarischen Zweck und mit einer spezifisch proletarischen Strategie.“ [30]
Keine sozio-historische Bestimmung oder kommunitaristische Prämisse stellt ein Hindernis für die Entwicklung an sich mehr dar. Die nationale Frage besteht weiterhin, doch allen voran als Problem für das Kapital: Die kommunistische Revolution wird sie nur auf ihrer eigenen Grundlage lösen. Sonst wird es die Konterrevolution auf ihre Art und Weise tun und schliesslich auf nationale Forderungen eingehen oder die gewaltsame Umsiedlung oder Vernichtung der betreffenden Bevölkerung organisieren. „Das kurdische Volk ist weitgehend „internationalisiert“ […] Millionen von kurdischen Arbeitern arbeiten in Fabriken und Feldern der entwickelten westlichen Länder. Sie haben mit dem westlichen Proletariat gekämpft und die meisten davon heftig, da sie nichts zu verlieren hatten. Für diese Millionen, welche Bedingungen erlebt haben, welche reif waren für die proletarische Revolution, wäre eine Rückkehr zu den Bedingungen eines „bürgerlichen nationalen Befreiungskampfes“ ein gigantischer Schritt zurück.“ [31] Das ist wahr, und es ist auch wahr für jene kurdischen Proletarier, welche nicht „internationalisiert“ sind, doch nur vom Standpunkt der Aufhebung der Klassen aus, d.h. „der Bewegung, welche aufhebt“.
„Die Bewegung, welche aufhebt...“: das Lokale, das Nationale, das Globale
Ein breites Mosaik an Bewegungen – welche bewaffnet oder unbewaffnet sind und von sozialem Banditentum bis zur organisierten Guerilla-Aktivität reichen – agieren in den elendsten Zonen der globalen kapitalistischen Müllhalde und haben ähnliche Züge wie die gegenwärtige PKK. Auf die eine oder andere Art versuchen sie, gegen die Zerstörung ohnehin schon marginaler Subsistenzwirtschaften, die Plünderung natürlicher Rohstoffe, die lokale Bergbauindustrie oder die Aufzwingung kapitalistischen Landeigentums, welches Zugang und/oder Gebrauch begrenzt oder verhindert, Widerstand zu leisten. Als Beispiele können wir wahllos Fälle von Piraterie im Meer von Somalia, MEND in Nigeria, die Naxaliten in Indien, die Mapuche in Chile erwähnen. Obwohl die Diskurse und Kampfformen dieser Bewegungen nicht blosse Epiphänomene sind, ist es wesentlich, ihren gemeinsamen Inhalt zu erfassen: Selbstverteidigung. Eine Selbstverteidigung, die womöglich auch als lebensnotwendig betrachtet werden könnte, wobei sie sich in ihrem Wesen nicht von dem unterscheidet, was in jeder industriellen Aktion ausgedrückt wird, welche zum Ziel hat, die Löhne oder Arbeitsbedingungen der dort Arbeitenden zu schützen.Genau wie es ein Taschenspielertrick wäre, einen wenn auch sehr heftigen und breiten Lohnkampf als „revolutionäre Bewegung“ darzustellen, so ist es genauso abwegig, dieser Art von Selbstverteidigung, welche von solchen erschöpften Bevölkerungen praktiziert wird, einen inhärenten revolutionären Sinn zu geben. Diese Art von Zaubertrick kann natürlich gut funktionieren, wenn man sich auf Moral beruft, d.h. indem man den „privilegierten Abendländer“ einerseits die zur Revolution bereiten „Verdammten der Erde“ andererseits entgegenstellt. Doch solch gebrauchter Anti-Imperialismus zeigt sich schon sehr schnell als abgenutzt. Ob es uns gefällt oder nicht, wir können nicht vergessen, dass diese nicht in einem mutmasslichen aber inexistenten Raum ausserhalb der Wertproduktion und -zirkulation situiert sind, sondern an ihren Rändern, und manchmal verteidigen sie kleine alte Welten (angestammte Bräuche usw.), welche von kapitalistischen gesellschaftlichen Beziehungen zerstört werden oder schon lange umgestaltet worden sind. Doch man kann nicht gleichzeitig die kommunistische Revolution und die Erhaltung kleiner alter Welten befürworten; denn, wenn es auch stimmen mag, dass der Kapitalismus sie destabilisiert, so würde seine revolutionäre Zerstörung dies bestimmt auch tun. Gleichzeitig hat es keinen Sinn, sich auf die Seite der kapitalistischen Zerstörung zu stellen:
Wir denken, dass diese Bewegungen von der praktischen Bewegung der Zerstörung des Kapitals (nicht ohne Konflikt) einbezogen und/oder absorbiert werden müssen und dass das weder durch politische Intrigen (leninistische oder demokratische Bündnisse), noch durch zwischenstufliche Massnahmen geschehen kann, die zum Ziel haben, die vom Kapital vorangetriebene erzwungene Proletarisierung zu vertiefen. Dennoch kann dieser Prozess nur vom Herz der Produktionsweise ausgehen (was nicht notwendigerweise „vom Westen“ bedeutet). Wir können die stets globale Ausbreitung des kapitalistischen Systems und seine Hierarchie nicht ignorieren: Genau wie ein Verkäufer, ein Lehrer und ein Fabrikarbeiter – obwohl sie alle Lohnarbeiter sind – nicht die gleiche Fähigkeit haben, die Mehrwertproduktion zu beeinträchtigen, so hat auch eine aufständische Krise nicht die gleichen Entfaltungsmöglichkeiten und Konsequenzen auf der Weltbühne, wenn sie in Kasachstan oder Deutschland stattfindet (die Frage, wo sich das „schwächste Glied“ befindet, ist nach wie vor sehr präsent).
Die einzige lokale soziale Krise, welche tatsächlich ankündigte, was ein revolutionärer Prozess heutzutage und die Unmöglichkeit der Reproduktion kapitalistischer Verhältnisse sein könnten, war Argentinien 2001: ein grosses Land (nicht wie Griechenland 2008), industrialisiert, relativ „entwickelt“, welches sich von einem Tag auf den anderen als Resultat einer monetären Krise auf der Schwelle des Kollapses wiederfand. Dort, in der Bewegung, welche auf den Zusammenbruch folgte, enthüllten alle Formen der Selbstbestimmung (Selbstorganisation, Autonomie, Selbstverwaltung) ihren rein defensiven Charakter, denn man organisiert sich stets selbst auf der Grundlage dessen, was man ist in der kapitalistischen Produktionsweise (Arbeiter dieser oder jener Firma, Bewohner dieses oder jenes Quartiers usw.), während das Verlassen des defensiven Terrains („Forderungen“) mit der Tatsache zusammenfällt, dass sich all diese Subjekte gegenseitig durchdringen und dass, da das sie strukturierende Kapital-Lohnarbeits-Verhältnis beginnt, zu zerfallen, die Unterscheidungen nicht mehr weiter existieren. Dies gilt auf allen Ebenen, auch auf einer globalen: Eine allgemeine soziale Krise ist nicht die Summe lokaler Krisen, welche parallel verlaufen, ohne sich zu berühren.
Wenn die aufständische oder vor-aufständische Krise einen gewissen Grad der Ausbreitung erreicht, sind die Aufständischen in einem gegebenen Land gezwungen – durch die blosse Notwendigkeit, den Kampf weiterzuführen – Unterstützung jenseits nationaler Grenzen zu suchen oder sich in Massen ausserhalb dieser Grenzen zu bewegen (oder zu zerstreuen...), um den Aufstand woanders zu unterstützen. Auf diese Art und Weise – materiell, und nicht auf der Grundlage abstrakter Berufungen auf den Internationalismus – zerstört die kommunistische Revolution Trennungen und vereinigt die Menschheit. Kommunismus kann nicht eine auf den ganzen Planeten ausgeweitete „demokratische Konföderation“ sein, aus dem einfachen Grund, dass die Konföderation nach wie vor die Nation als föderierendes Subjekt voraussetzt. Unsere Heimat ist die ganze Welt, natürlich, doch auch dort bleibt ein Kurde ein Kurde und ein Typ aus den Südstaaten ein Redneck. Es bleibt eine simple Nebeneinanderstellung von Unterschieden und das ist immer noch nicht genug.
In Anbetracht des Bankrotts des Marxismus und des realen Sozialismus ist es ausser Mode geraten, die Entwicklung der Produktivkräfte zu zelebrieren, während eine Art anti-produktivistische Ideologie – das Spiegelbild davon – die Oberhand in der Arena der „antikapitalistischen Kritik“ gewonnen hat. Doch die Zelebration von partikularistischen Bewegungen drückt einen begrifflichen Widerspruch aus, wenn man die Perspektive des zelebrierenden Beobachters berücksichtigt, welcher hingegen – da er sie im allgemeinen am anderen Ende der Welt suchen muss – alles andere als partikularistisch ist. Es ist der Widerspruch des Anthropologen, welcher sich aufmacht, die Bewohner der Trobriand-Inseln zu studieren und behauptet, es sei nicht der Imperialismus, welcher ihn dorthin gebracht habe.
Die historische Bedeutung des Kapitals liegt nicht in der Entwicklung der Produktivkräfte, sondern in der Erschaffung einer verflochtenen Welt. In der berühmten Passage in Die deutsche Ideologie über „die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt“ zelebriert Marx den Anbruch einer von der kapitalistischen Produktionsweise hervorgebrachten Weltgeschichte und fügt hinzu: „Ohne dies könnte 1. der Kommunismus nur als eine Lokalität existieren, 2. die Mächte des Verkehrs selbst hätten sich als universelle [...] Mächte nicht entwickeln können, [...] und 3. würde jede Erweiterung des Verkehrs den lokalen Kommunismus aufheben. Der Kommunismus ist empirisch nur als die Tat der herrschenden Völker "auf einmal" und gleichzeitig möglich“. In diesem Sinn ist die Frage – ausser man glaubt, „Anarchie in einem Land“ sei möglich, so wie einige Sozialismus in einem Land machen wollten – ob die PKK, die EZLN oder jede andere Organisation „revolutionär“ ist oder nicht, ein falsches Problem. Keine organisatorische Kontinuität zwischen gegenwärtigen Kämpfen und der Revolution ist vorstellbar, aus dem einfachen Grund, dass das zu organisierende Subjekt nicht gleich sein wird. Das Problem ist ein ganz anderes, nämlich zu verstehen, welche widersprüchlichen Dynamiken eine gegebene gesellschaftliche Realität oder ein gegebener Kampf beinhalten könnte – wovon diese oder jene Organisation am besten eine Formalisierung sein kann – und welche Brüche daraus entstehen könnten. Das sind die Bedingungen des Problems. Hic Rhodus, hic salta!
Die Zukunft des Mittleren Ostens gemäss Lt. Col. Ralph Peters
„Die deutlichste Ungerechtigkeit in den notorisch ungerechten Ländern zwischen dem Balkangebirge und dem Himalaja ist die Abwesenheit eines unabhängigen kurdischen Staates. Es leben zwischen 27 und 36 Millionen Kurden in benachbarten Regionen des Mittleren Ostens (die Zahlen sind nicht präzis, weil kein Staat je eine ehrliche Zählung erlaubte). Das ist mehr als die Bevölkerung des gegenwärtigen Iraks, sogar die geringere Zahl macht aus den Kurden die grösste ethnische Gruppe ohne eigenen Staat. Noch schlimmer ist die Tatsache, dass die Kurden von jeder Regierung unterdrückt wurden, welche die Hügel und Berge kontrolliert, wo sie seit Xenophons Tagen leben.Die USA und ihre Koalitionspartner verpassten eine prächtige Gelegenheit, um damit zu beginnen, diese Ungerechtigkeit nach dem Fall von Bagdad zu korrigieren. Als Frankenstein-Monster eines Staates, das aus schlecht zusammen passenden Teilen zusammen genäht ist, hätte der Irak sofort in drei kleinere Staaten geteilt werden müssen. Wir scheiterten aus Feigheit und mangelnder Weitsicht, schikanierten die Kurden, indem wir sie zwangen, die neue irakische Regierung zu unterstützen – was sie wehmütig tun als Gegenleistung für unseren guten Willen. Doch gäbe es eine freie Abstimmung, wäre das Ergebnis klar: Fast 100 Prozent der irakischen Kurden würden für die Unabhängigkeit stimmen.
Das gleiche gilt für die seit jeher leidenden Kurden der Türkei, welche Jahrzehnte heftiger militärischer Unterdrückung und die Abwertung zu „Bergtürken“ zur Zerstörung ihrer Identität erduldeten. Obwohl die kurdische Bedrängnis durch Ankara im letzten Jahrzehnt etwas nachgelassen hat, intensivierte sich die Repression vor kurzem erneut und der östliche Fünftel der Türkei sollte als besetztes Territorium betrachtet werden. Was die Kurden in Syrien und im Iran betrifft, so würden sie dem unabhängigen kurdischen Staat ebenfalls sofort beitreten, falls sie könnten. Die Verweigerung der legitimen Demokratien dieser Welt, sich für die kurdische Unabhängigkeit einzusetzen ist eine Menschenrechtssünde, die weit schlimmer ist als die gängigen unbeholfenen, geringfügigen Sünden, welche regelmässig unsere Medien in Erregung versetzen. Und übrigens: Ein freies Kurdistan, das von Diyarbakir bis Tabriz reichen würde, wäre der pro-westlichste Staat zwischen Bulgarien und Japan.“ [32]