Der "Indischen Volkspartei" (BJP) genügten 31 Prozent der abgegebenen Stimmen für die absolute Mehrheit im Parlament. Ein Schnäppchen: Nach dem in Indien geltenden relativen Mehrheitswahlrecht erhält das Mandat, wer in einem Wahlkreis die meisten Stimmen hat.
Die Kongresspartei bekam für 20 Prozent der Stimmen nur 8 Prozent der Sitze. Die "Partei des kleinen Mannes" (AAP) wählten ganze 2 Prozent, dafür gab es vier von 543 Parlamentssitzen.
Nach dem Wahlerfolg der AAP bei den regionalen Wahlen in Delhi - die AAP hatte dort sogar für kurze Zeit die Regierung gestellt - rechneten sich die AAP-Kandidaten in Südindien gute Chancen aus. Ihr Zugpferd sollte S.P. Udayakumar, [1] das bekannteste Gesicht des Widerstandes gegen das AKW Kudankulam sein. Umso enttäuschender das Wahlergebnis: In Tamil Nadu kam die AAP nur auf ein halbes Prozent. S.P. Udayakumar gewann in seinem Wahlkreis magere 1,5 Prozent.
Mit der AAP die Isolation durchbrechen?
Als S.P. Udayakumar im März 2012 wegen "Krieg gegen den Staat" verhaftet werden sollte, gab er vor Fernsehkameras erfrischende Statements ab wie: "Ich bin kein Terrorist, ich habe niemandem etwas angetan, ich bin kein Politiker. Warum sollte ich verhaftet werden?" [2]Auch ein Jahr später beschied S.P. Udayakumar erste Anfragen aus der AAP abschlägig, er wolle seine Integrität und Glaubwürdigkeit nicht verlieren. [3] Noch ein Jahr später, im März 2014, meldete er seine Wahlkandidatur an.
Was hatte sich verändert?
Dem Staat war es letztes Jahr gelungen den Konflikt um das AKW Kudankulam zu lokalisieren - bildlich sichtbar in der Polizei-Belagerung des Widerstands im Fischerort Idinthakarai, nur wenige Kilometer vom AKW Kudankulam entfernt.Hungerstreiks hatten sich abgenutzt. Strassenblockaden und Demonstrationen ausserhalb Idinthakarais waren lebensgefährlich geworden, nachdem ein Fischer erschossen und ein weiterer tödlich verletzt worden war.
See-Blockaden mit Fischerbooten blieben symbolisch und konnten nicht eskaliert werden. Eine in der Geschichte Indiens beispiellose Kriminalisierungswelle sorgte dafür, dass die AktivistInnen Idinthakarai nicht mehr verlassen konnten.
Von den Gerichten war keine Unterstützung zu erwarten, alle Klagen gegen das AKW waren abgewiesen worden. Bei Einstellung des Widerstandes lockte eine Amnestie. Die Aufdeckung immer neuer Mängel des AKW erreichte die Öffentlichkeit nicht mehr. Trotz ständigen Verschiebungen der kommerziellen Stromproduktionübernahm die überregionale Presse die Lügen der AKW-Lobby.
Der Widerstand konnte das Hochfahren des ersten Reaktors im Juli 2013 genauso wenig verhindern wie die erste Netzanbindung im Oktober 2013. Eine kommerzielle Inbetriebnahme von Kudankulam 1 scheiterte allein an der Unfähigkeit der AKW-Bauer und -Betreiber. [4] Der Widerstand schien festgefahren. Der Staat setzte auf Ermüdungserscheinungen, Resignation und inneren Zwist in der Bewegung. So die Situation Anfang 2014.
Wie weiter, wie die Isolation durchbrechen?
Die indischen Parlamentswahlen im April 2014 schienen da einen Ausweg zu bieten. Im Januar 2014 entschied die PMANE (People's Movement against Nuclear Energy) [5], sich an den Parlamentswahlen im April/Mai [6] zu beteiligen. Angestrebt wurde eine Kandidatur im Rahmen der AAP. Dafür wurden einige Bedingungen formuliert, die wichtigste: Die AAP müsse die Nutzung der Atomenergie ablehnen.Die AAP war attraktiv, weil sie als neue Partei nicht in Korruption verwickelt war. In ganz Indien hatten sich der AAP prominente Aktivistinnen wie Metha Padkar oder Soni Sori angeschlossen. Der Vorsitzende der AAP, Arvind Kejriwal, hatte in Zeiten härtester Repression in Idinthakarai seine Solidarität ausgedrückt.
Der Anwalt Prashant Bhushan, ebenfalls ein prominenter AAP-Führer, hatte die Sache der AtomkraftgegnerInnen vor dem Obersten Gericht vertreten.
Für demokratische Atomkraftwerke?
Nachdem am 28. Februar 2014 in Idinthakarai rund 500 AKW-GegnerInnen der AAP beigetreten waren, teilte die AAP Idinthakarai in einer Presseerklärung mit: "Die AAP hat klar aus der Sicht des 'kleinen Mannes' Stellung bezogen: 'die lokale Bevölkerung, die unmittelbar von einem Unfall betroffen wäre, solle die letzte Entscheidung beim Bau von Atomkraftwerken in ihrer Nachbarschaft haben.' Die AAP hat auch versprochen, 'die grundsätzlichere Frage zu prüfen, ob dieses Land die Nuklearenergie überhaupt oder erst zu einem geeigneten Zeitpunkt nach einer breiten öffentlichen Debatte fördern müsse.' [7]In ihrem zentralen Wahlprogramm nahm die AAP überhaupt keine Stellung zur Atomenergie. Der Parteivorsitzende Arvind Kejriwal konnte sich erst während des Wahlkampfes zu einer ablehnenden Aussage durchringen. Im Wahlprogramm für Tamil Nadu monierte die AAP lediglich fehlende Sicherheitsmassnahmen und mangelnden Akzeptanz in der Bevölkerung. Das Wahlkomitee der AAP Tamil Nadus wollte sich auf Rückfragen nicht für die Stilllegung von Kudankulam 1 und 2 einsetzen. Da sei ja doch schon viel Geld investiert worden, die Sicherheit müsse überprüft werden, bevor das AKW in Betrieb gehe.
Trotzdem entschlossen sich die PMANE-Aktivisten S.P. Udayakumar, M. Pushparayan und M.P. Sesuraj zur Kandidatur in den drei südlichen Bezirken Tamil Nadus. Das waren persönliche Entscheidungen, einen Beschluss der PMANE für die Wahlbeteiligung gab es nicht.
Neben grundsätzlicher Ablehnung von Wahl- und Parteipolitik und Kritik an der Haltung der AAP dürften auch existierende Parteiloyalitäten eine Rolle gespielt haben.
In Idinthakarai wurden alle Wahlveranstaltungen untersagt, auch die der AAP. Die AAP-Kandidaten wurden am Ortsrand in den Wahlkampf verabschiedet. Die Regierung Tamil Nadus war klug genug, die drei Wahlkandidaten nicht festzunehmen, als sie das belagerte Idinthakarai verliessen.
Die Leitung des Widerstandes vor Ort übernahmen die Frauen der PMANE. Der Protest gegen den Vertrag zur Lieferung von zwei weiteren Reaktoren nach Kudankulam blieb weiterhin auf Idinthakarai beschränkt.
Der Wahlkampf endete für die AAP in einem Desaster. Mit rund 26.000 Stimmen - das entspricht 2,9 Prozent - erreichte M. Pushparayan das beste Ergebnis der drei Anti-AKW-Aktivisten. In Tirunelveli - Kudankulam und Idinthakarai liegen in diesem Bezirk - kam die AAP gerade mal auf 18.000 Stimmen. Die Widerstandsbewegung konnte in ihren stärksten Zeiten mehr Menschen auf den Strassen mobilisieren, als jetzt an den Wahlurnen.
Atomkraft war bei den Wahlen kein Thema. Inflation, Korruption, Wachstum bzw. Armut und regionale Nationalismen beherrschten die Wahlpropaganda. Auch die Kandidaten aus dem AKW-Widerstand führten keinen dezidierten Anti-AKW-Wahlkampf, sie versuchten im Gegenteil das Themenspektrum zu erweitern und die ganze Palette der politischen Themen abzudecken. Der Wahlkampf wurde nicht von Aktionen gegen das AKW begleitet.
In Tamil Nadu dominierten tamilische Parteien. Die AAP konnte sich nicht als tamilische Partei profilieren. Auch die Anti-Atom-Position der Partei war nicht glaubwürdig.
Muslime wählen Hindu-Nationalisten
Die Bewegung gegen das geplante AKW Jaitapur [8] kann sich dagegen auf der Seite der Wahlsieger wähnen. Der Widerstand wird ganz wesentlich vom nahe gelegenen Sakhri Nate getragen. Die Menschen dort machen die Kongresspartei für den Tod von Tabrez Sayekar verantwortlich. Vor drei Jahren war dieser bei einer Anti-AKW-Demo erschossen worden.Die muslimische Fischergemeinde, bisher eine sichere Bastion der Kongresspartei, hat aus Protest die Seiten gewechselt und die hindu-nationalistische Shiv Sena gewählt.
Die im Bun desstaat Maharashtra starke Shiv Sena gehört zur Nationalen Demokratischen Allianz (NDA) um Modis BJP. Die militant hindunationalistische Partei unterstützte seit Jahren den Kampf gegen das AKW Jaitapur. Das zahlte sich jetzt in Wählerstimmen aus, die Kongresspartei verlor ihr Mandat im dem Wahlkreis Ratnagiri [9] an die Shiv Sena.
"Keiner von denen" kann gewählt werden
Überlegungen zum Wahlboykott spielen in Indien eine Rolle, aber nicht in den Anti-Atombewegungen. Bei den Wahlen 2014 gab es zum ersten Mal nach der Einführung von Wahlmaschinen die Möglichkeit zu einem aktiven Wahlboykott.Auf den Maschinen wurde ganz unten einen Taste ergänzt, mit der Option "keiner der obigen" (None Of The Above, kurz: NOTA).
Die Möglichkeit NOTA zu wählen, wurde von DemokratInnen vor dem Obersten Gericht erstritten.
Die Absicht war, Parteien zur Aufstellung von wählbaren KandidatInnen zu zwingen, den Parlamentarismus zu optimieren. Sollte NOTA den höchsten Stimmenanteil gewinnen, müsste die Wahl mit neuen KandidatInnen wiederholt werden. Die NOTA-Option wurde eingeführt, die mögliche Wahlwiederholung aber nicht.
Zur Wahl von NOTA riefen unterschiedlichste Gruppen auf, etwa Staatsangestellte in Uttar Pradesh, Sex-ArbeiterInnen in Kalkutta und Dorfgemeinschaften in Tamil Nadu. Auf NOTA entfielen ein Prozent aller abgegeben Stimmen. In einigen Bundesstaaten erhielt NOTA mehr Stimmen als die AAP. In Chhatisgarh wählten 3,1 Prozent NOTA und nur 1,2 Prozent AAP. Auch in Tamil Nadu erhielt NOTA mehr als doppelt so viele Stimmen wie die AAP.
Nicht wählen zu gehen, der passive Wahlboykott, wird traditionell von maoistischen Gruppen propagiert. Auch in Kaschmir wurden die Wahlen boykottiert: In Srinagar betrug die Wahlbeteiligung gerade mal 25 Prozent. In Indien insgesamt erreichte die Wahlbeteiligung 2014 den Rekordwert von 68 Prozent.
Widerstand statt Politik
Die BJP hat eine Überarbeitung des indischen Atomprogramms angekündigt. Befürchtungen, damit solle der Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen aufgehoben werden, wurden von der BJP dementiert.Eine der ersten Amtshandlungen der letzten BJP-Regierung war der zweite indische Atomwaffentest im Jahre 1998. Das indische Atomestablishment erhofft sich eine Stärkung der einheimischen Atomindustrie.
Die geplanten AKW-Importe werden deshalb aber nicht gestoppt werden. Im Gegenteil, der "Macher" Modi wird sie forciert vorantreiben. Allenfalls in Jaitapur könnte es aus wahltaktischen Gründen noch zu leichten Verzögerungen kommen. Im Bundesstaat Maharashtra wird Ende des Jahres gewählt. Dort braucht die BJP die Unterstützung der Shiv Sena und die Shiv Sena braucht die Stimmen der AKW-GegnerInnen.
Die AKW-GegnerInnen müssen - wie alle Basisbewegungen, die den Wachstumsplänen der Konzerne im Wege stehen - mit verschärfter Repression rechnen. Zwischen den Bewegungen und in den Bewegungen bestehen starke Differenzen. Ein Freund aus Indien meinte, entweder trennen sich die AktivistInnen in Kudankulam von der AAP oder die AAP werde die Bewegung dort zerstören.
Die parlamentarische Orientierung erschwert eine Zusammenarbeit der Anti-Atom-Bewegungen an den weit voneinander entfernten Standorten.
Eine Kooperation mit Bewegungen gegen andere aufgezwungene Grossprojekte in der gleichen Region könnte eher gelingen. Ein Beispiel dafür ist die erfolgreiche Bewegung gegen das AKW Haripur in Westbengalen. Diese bezog sich auf die Kämpfe gegen Vertreibung und Landraub in Nandigram [10] und in Singur [11], ebenfalls in Westbengalen.
In einem Protestlied aus Haripur heisst es:
"Macht Politik, wenn Euer Land gerettet ist! Jetzt aber schliesst Euch dem Widerstand an! Sonst werdet Ihr Euer Land verlieren und Euer Leben wird zerstört werden."