Der gegenwärtige Aufstand militanter Palästinenser im Ghetto des Gazastreifens gegen die israelische Besatzungsmacht hingegen erfährt die ganze Wucht der Verurteilung und Verdammung durch die westlichen politischen Staatsführer und Regierungsverantwortlichen. Dieses merkwürdige Verhalten bedarf einer näheren Betrachtung.
Von der Feier eines Aufstandes
„Den Gefallenen des beispiellosen heroischen Kampfes für die Würde und Freiheit des jüdischen Volkes, für ein freies Polen, für die Befreiung der Menschen – Polnische Juden.“ [1]Vor 81 Jahren, am 19. April 1943, begann der Aufstand im Warschauer Ghetto. Im vergangenen Jahr eine gute Gelegenheit für den deutschen Bundespräsidenten, als oberster Vorbild-Deutscher im In- und Ausland zu fungieren und im Rahmen einer Gedenkveranstaltung eine Rede zu halten. Also traf sich der deutsche Bundespräsident mit seinen polnischen und israelischen Amtskollegen für alle weltweit sichtbar gleich am symbolträchtig aufgeladenen Erinnerungsort: Am gewaltigen, 11 Meter hohen "Denkmal der Helden des Ghettos", um mit Stolz "als erstes deutsches Staatsoberhaupt überhaupt" (Steinmeier, 19.4.2023) [2] eine Rede zu halten.
Eine Rede des Inhaltes, den "heroischen Kampf" der im Warschauer Ghetto Eingeschlossenen und Zusammengepferchten zu feiern. Deshalb, in altbewährter demokratischer Tradition, eine Betrachtung der Vergangenheit in Form einer feierlich-weihevoll zelebrierten Gedenkveranstaltung. Mitsamt der eigens bestellten und versammelten öffentlichen Meinungsbildner mit dem Auftrag versehen, als demokratische Hofberichterstatter mit laufenden Kameras das ehrwürdige Zeremoniell der Weltöffentlichkeit einschliesslich Russlands zu übermitteln. Solches haben sich die öffentlichen Meinungsbildner in den westlichen Demokratien andererseits noch nie zweimal sagen lassen müssen.
Zur geistig-moralischen Orientierung hinsichtlich der Vergangenheit
Dass eine von einem der obersten Staatsagenten vorgetragene Betrachtung der Vergangenheit, hier des Aufstandes im Warschauer Ghetto vor 81 Jahren, mit einer korrekten historiographischen Betrachtung, Rekonstruktion und Erinnerung vergangener Ereignisse nichts zu tun hat, versteht sich von selbst. Diese Art "historischer Kontextualisierung" verdankt sich einzig dem politischen Interesse, die Vergangenheit so zuzurichten und zurechtzustutzen, dass sie in der sogenannten "politischen Kommunikation" agitatorisch für die politische Willensbildung der "Menschen im Lande" jederzeit nützlich ist.Schliesslich berichtet hier nicht ein um historische Sachlichkeit bemühter Forscher über die Ergebnisse seiner historischen Forschung, sondern ein Staatsagent und Repräsentant der politischen Macht und Regierungsverantwortlichen im demokratischen Staat. Und diese besondere Spezies versteht sich, wann immer sie sich öffentlich äussert, als "offiziell bevollmächtigte Priester der Erinnerung" (Shlomo Sand, 2010) [3]. Wann immer sie sich öffentlich äussern sind sie bemüht, dem staatsbürgerlich-konstruktiven Willen, der bedingungslosen Parteinahme für und Loyalität zum eigenen Staat und zu seiner politischen Führung die richtige geistig-moralische Orientierung zu geben. Auch hinsichtlich der Vergangenheit und Geschichte. Das gebietet, Narrative über Vorgeschichte und Geschichte in Umlauf zu bringen, die den gegenwärtigen und zukünftigen staatlichen Vorhaben eine höhere Weihe verleihen:
Das ist der Auftrag an uns [...] Deshalb ist es so wichtig, dass wir uns erinnern. Deshalb ist es so wichtig, dass wir Deutsche uns erinnern [...] Deshalb ist es mir so wichtig, heute hier bei Ihnen und mit Ihnen zu sein [...] Wir Deutsche wissen um unsere Verantwortung und wir wissen um den Auftrag, den die Überlebenden und die Toten uns hinterlassen haben. Wir nehmen ihn an. Für uns Deutsche kennt die Verantwortung vor unserer Geschichte keinen Schlussstrich. Sie bleibt uns Mahnung und Auftrag in der Gegenwart und in der Zukunft. (Steinmeier, 19.4.2023)
Die Geschichte als "Auftraggeber" und souveränes staatliches Handeln aus "Verantwortung und Verpflichtung" gegenüber der Geschichte; die Geschichte als dem offensichtlich erhabenen Subjekt, das dem staatlichen Handeln und den Regierungsverantwortlichen scheinbar keine andere Wahl lässt als das zu tun, was sie vollkommen unabhängig von Vergangenheit und Geschichte ohnehin beschlossen haben, beschliessen und beschliessen werden.
Zur politischen Instrumentalisierung des Aufstandes im Warschauer Ghetto
Als deutscher Bundespräsident stehe ich heute vor Ihnen und verneige mich vor den mutigen Kämpfern im Warschauer Ghetto. Ich verneige mich in tiefer Trauer vor den Toten. (Steinmeier, 19.4.2023)Da kommt der am 19. April 1943 begonnene Aufstand im Warschauer Ghetto gerade recht. Angesichts des seit dem 24. Februar 2022 mittels der Ukraine geführten Krieges der in der NATO versammelten westlichen Wertegemeinschaft gegen die Russische Föderation [4], ist es für die offiziell bevollmächtigten politischen Priester der Erinnerung ein Gebot der Stunde, auch den Aufstand im Warschauer Ghetto aufzugreifen - und narrativ wie politisch zu instrumentalisieren. Die politische Instrumentalisierung und narrative "Kontextualisierung" der Geschichte, die Verwandlung des Aufstandes im Warschauer Ghetto in eine heroische, in eine Heldentat, bietet sich da unter dem 11 Meter hohen "Denkmal der Helden des Ghettos" in Warschau geradezu an. Weshalb die dem Publikum durch Steimeier und seinen polnischen und israelischen Amtskollegen dargebotene Betrachtung des Aufstands dieses Ergebnis zeitigt:
...die Heldinnen und Helden des Warschauer Ghettos haben unvorstellbaren Mut gezeigt in dunkelster Nacht...Sie erhoben sich gegen brutales Unrecht, gegen Willkür, gegen Terror, gegen das Morden. Ihr Mut strahlte über Warschau hinaus und machte anderen Mut. Ihr Mut strahlt auch hinein in unsere Gegenwart heute. (Steinmeier, 19.4.2023)
Den aktuellen politischen Zweck der Instrumentalisierung des Aufstandes im Warschauer Ghetto vor 81 Jahren; die narrative Zurichtung und Funktionalisierung der Warschauer Aufständischen, deren "Mut" wie von Zauberhand "auch in unsere Gegenwart heute (hineinstrahlt)" (Steinmeier ebd.) fasst die noch amtierende EU-Kommissionspräsidentin in dem ihr eigenen unnachahmlichen Zynismus so zusammen: DER MUT, UNSEREN HELDEN ZUR SEITE ZU STEHEN.
Heute hat der Mut einen Namen und das ist die Ukraine [...] Und eine Nation der Helden wurde geboren [...] Deswegen möchten wir heute Ihnen und allen Ukrainerinnen und Ukrainern danken. Wir verneigen uns vor einem Land europäischer Helden. Slava Ukraini! (von der Leyen,14.9.2022) [5]
Es empfiehlt sich durchaus, die von den offiziell bevollmächtigten Priester der Erinnerung ausgegebene Sichtweise und Erzählung über den Aufstand im Warschauer Ghetto mit dem zu konfrontieren, was sich im Aufstand im Warschauer Ghetto vor 80 Jahren wirklich ereignet hat.
Der Aufstand im Warschauer Ghetto - eine kurze, historische Klarstellung
Dass die demokratische Art der Vergangenheitsbetrachtung und des Erinnerung keinen anderen Zweck verfolgt, als die deutsch-europäische und transatlantische Kriegsmoral der Bevölkerungen den neuen Erfordernissen anzupassen [6], um einen Beitrag zum notwendigen "Mentalitätswechsel" der "Menschen im Land" in Sachen der von oben geforderten "Kriegstüchtigkeit" (Pistorius, 4.4.2024) [7] zu leisten, ist also keine Frage. Einen Aufstand organisiert und gekämpft haben die Warschauer Aufständischen allerdings aus anderen Gründen als dem, ihr Heldentum ausstrahlen zu lassen, damit sich deutsche, europäische und westliche Geo- und Weltpolitik für ihre Grossvorhaben kriegsmoralisch und propagandistisch ihres Aufstandes bedient.Spätestens im Sommer des Jahres 1942 war den im Warschauer Ghetto zusammengepferchten Juden, Sinti und Roma klar geworden, dass es kein Entrinnen mehr gab. Durchgedrungen war, dass die Liquidierung des Ghettos und seiner von 450.000 auf knapp 60.000 Tausend gnadenlos reduzierten Bewohnerschaft bevorstand. Unter anderem mittels der "fremdvölkischen Hilfstrupps", einschliesslich der im SS-Camp Twarniki erfolgreich ausgebildeten Hilfskräfte, die ab 1941 auch als KZ-Wachmannschaften fungierten. Dieser kaum abzulehnenden Perspektive, als Hilfskräfte zu dienen, können sich bemerkenswerter Weise nicht entziehen: "Vor allem antikommunistische und antisemitische Ukrainer, Letten und Litauer nehmen dieses Angebot an" (anne frank house) [8]; und nehmen auch das Angebot wahr, als ausgebildete "Twarnikis" beim Niedermachen des Warschauer Ghettos mitzuhelfen.
In Erkenntnis des Kommenden, auch aus dem Gefühl der verzweifelten Lage heraus, entstand noch lange vor dem Aufstand im Warschauer Ghetto die erste Entschlossenheit, eine Untergrund-Kampfeinheit zu bilden, sich zu bewaffnen und sich nicht widerstandslos den Liquidatoren zu ergeben:
Im März und April 1942 wurde die „Antifaschistische Front“ auf Initiative der jüdischen Kommunisten gegründet. Im Mai deckte jedoch die Gestapo ihren Anführer, Andrzej Szmidt (Deckname von Pinkus Kartin) auf und verhaftete und ermordete ihn. [9]
Im Angesicht des nunmehr gewiss unausweichlichen, nahenden Todes entschieden sich einige Hundert der Jüngeren des Ghettos für den letzten Akt ihrer Willensfreiheit: Darüber zu entscheiden, auf welche Weise sie sterben wollten:
Um wie viel leichter erschien das Sterben uns als dem Menschen, der in den Viehwagen steigt, diese Fahrt mitmacht, sein Grab schaufelt, sich splitternackt ausziehen musste. (Marek Edelmann, "Jüdische Kampf-Organisation, ŻOB") [10]
So sammelten und organisierten sich die paar Hundert Jüngeren des Ghettos in ihrem Kampfbund "Jüdische Kampf-Organisation, ŻOB" zu ihrem letzten Gefecht. Zum Kampf traten einvernehmlich Zionisten, Mitglieder des Bundes, Kommunisten und einfache Menschen an, denen die Welt nur noch die Gaskammern zu bescheren hatte. Den Warschauer Untergrundkämpfer standen gegenüber die militärisch restlos überlegene Besatzungs-Wehrmacht, SS-Polizeieinheiten und ihre Helfer, die ukrainischen, lettischen, litauischen und andere Antisemiten und Faschisten:
Die Kämpfer waren sich darüber im klaren, dass sie weder das Ghetto noch die in ihm verbliebenen rund 60.000-65.000 Menschen, ebensowenig ihr eigenes Leben, würden retten können. Sie wurden auch nicht von dem Wunsch geleitet, die Agonie des restlichen jüdischen Warschauer zu verlängern. Sie wollten sich schlagen, sie wollten die Art ihres Sterbens selbst wählen. [11]
Die aus den diversen Widerstandsorganisation und Zusammenschlüssen der Ghetto-Bewohner gegen die täglichen Deportationen und gegen das tägliche Hinsiechen und Sterben entstandene Kampftruppe "ŻOB" war darüber hinaus entschlossen, es mit ihren hoffnungslos unterlegenen Waffen den Tötungstrupps so schwer wie möglich zu machen, sie nach freiem Gutdünken nieder zu mähen.
Um Heldenbeweise, Widerstand oder Selbstverteidigung ging es der Kampforganisation des Warschauer Ghettos angesichts ihrer vollkommenen Unterlegenheit im herannahenden letzten Gefecht nicht mehr, konnte es auch nicht mehr gehen.