Gemäss dieser Maxime galt gegenüber den europaweit von Verfolgung und Ausrottung bedrohten jüdischen Flüchtlingen spätestens ab 1938 der migrations- und asylpolitisch wohlvertraute Grundsatz: Diese Flüchtlinge können und wollen wir nicht alle aufnehmen. Auch, um den Antisemitismus in den Ländern ausserhalb des damaligen Deutschlands zu beruhigen. Das teilte die damalige Weltgemeinschaft auf der Konferenz von Evian im Juli 1938 und die zeitgleich mit dem Aufstand im Warschauer Ghetto stattfindende Bermuda-Konferenz vom 19.-29. April 1943 den Warschauer Aufständischen und den Millionen jüdischer Flüchtlingen mit. Mit der Konsequenz:
Hitler has won another victory at Bermuda […] wie bereits 1938 am Genfer See, als sich ausser der Dominikanischen Republik alle Teilnehmerstaaten weigerten, jüdische Flüchtlinge aufzunehmen, kam auch auf Bermuda keine Lösung zustande, obwohl an den mörderischen Absichten und Praktiken Nazi-Deutschlands 1943 kein Zweifel mehr bestand. [12]
Dass die damaligen Weltgemeinschaft, vornehmlich die USA und England, ebenso der Heilige Stuhl, detaillierte Kenntnisse über das Warschauer Ghetto und über die Vernichtungspolitik gegenüber den Juden in ganz Europa besassen, ist längst kein Geheimnis mehr; und mündet in der bis auf heute moralisch aufgeladenen, begriffslosen Frage, warum die USA und England nicht wenigstens die Gaskammern von Auschwitz bombardierten.
In der am 18.12.1942 abgegeben "Joint Declaration by Members of the United Nations" ("Interallierte Erklärung") lässt die damalige Weltgemeinschaft unter Führung der USA und Englands den Warschauer Aufständischen, den jüdischen Flüchtlingen und den von der Ausrottung bedrohten Juden in Europa wissen, dass es in den geo- und weltpolitischen Kalkulationen Wichtigeres zu erledigen gäbe, als ihnen zu Hilfe zu eilen: "[...] zu unmittelbaren Rettungsaktionen oder spezifischen Massnahmen zur Unterstützung der jüdischen Opfer [..] waren sie nicht bereit." [13]
Das Unverständnis, die massive Kritik und Enttäuschung darüber, dass die Allierten, allen voran die USA und England, trotz genauer Kenntnis der Lage kein Interesse und keine Bereitschaft zeigten, weder den in Warschau Dahinsiechenden, noch den Warschauer Aufständischen, noch der Vernichtung der Juden in Europa zu Hilfe zu eilen und dem Ganzen Einhalt zu gebieten, ist ausgedrückt im "letzten Brief", verfasst von einem der Aufständischen:
Ich möchte mit meinem Tod meine allertiefste Empörung über die Untätigkeit zum Ausdruck bringen, in der die Welt zusieht und zulässt, dass das jüdische Volk ausgerottet wird. (Szmuel Zygielbojm, der letzte Brief, 12.5.1943) [14]
Aufständische wie Szmuel Zygielbojm verdienen in den Narrativen der offiziellen Priester der Erinnerung selbstredend keine Würdigung, weil solchen Aufständischen im Interesse der gegenwärtigen westlichen Kriegsmoral und Kriegspropaganda für den notwendigen "Mentalitätswandel" hin zur unbedingten Kriegswilligkeit und Kriegstüchtigkeit nur schwerlich ein propagandistischer Nutzen abzugewinnen ist, denn:
Während des Ersten Weltkriegs schliesst sich der junge Arbeiter dem marxistischen Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund an, in dem er schnell aufsteigt. Den Zionismus – die Vorstellung einer „Heimstätte Israel“ – lehnen die Bundisten entschieden ab [...] Seine konkreten Forderungen, wie die nach Abwurf von Flugblättern zur Aufklärung der deutschen Bevölkerung über den Völkermord, lehnen die Alliierten ab. (taz, 17.4.2023) [15]
Die Frage, warum die damalige Weltgemeinschaft gegenüber dem Warschauer Ghetto, gegenüber den jüdischen Flüchtlingen wie überhaupt gegenüber der Ausrottung der Juden in Europa sich für die "Untätigkeit" (Szmuel Zygielbojm) entschieden haben, ist allerdings eine Antwort wert.
Über Völkermord und den absoluten Feind
"Der wirkliche Feind wird nicht zum absoluten Feind erklärt, und auch nicht zum letzten Feind der Menschheit überhaupt:" (Carl Schmitt, 1963) [16]Warum hätten die USA und England den im Warschauer Ghetto Eingeschlossenen und den Juden in Europa angesichts ihrer Ausrottung eigentlich zu Hilfe eilen sollen?
Leiten lassen haben sich die neben der Sowjetunion massgeblichen Akteure der damaligen Weltpolitik, die USA und England, vom damals wie heute geltenden aussen- und weltpolitischen Grundsatz, dass es wie bei allem, so auch bei einem drohenden oder stattfindenden Völkermord, zuallererst einer souveränen und gewissenhaften Betrachtung, Lagebeurteilung und Erwägung bedarf ob es im nationalen Interesse liegt und von daher notwendig und lohnenswert erscheint, gegen genozidale Kriegsführung oder tatsächlich laufenden Völkermord aktiv zu werden und einzugreifen. [17] Diese geo- und weltpolitische Maxime exekutiert die westliche Wertegemeinschaft gegenwärtig darin, dass sie die genozidale Kriegsführung der israelischen Besatzungsmacht im palästinensischem Ghetto im Gazastreifen militärisch, diplomatisch, regional- und weltpolitisch unterstützt. In deutschen Worten:
Den nun vor dem Internationalen Gerichtshof gegen Israel erhobenen Vorwurf des Völkermords weist die Bundesregierung aber entschieden und ausdrücklich zurück. Dieser Vorwurf entbehrt jeder Grundlage. (Erklärung der Bundesregierung zur Verhandlung am Internationalen Gerichtshof, 12. Januar 2024) [18]
Das sollen sich die Palästinenser im Gazastreifen und im Westjordanland, der IGH, der ISTGH, Südafrika, Nicaragua und überhaupt der Globale Süden allen voran von den USA, Grossbritannien, der EU und Deutschland im Hinblick auf die Kriegsführung Israels im palästinensischem Gaza-Ghetto gesagt sein lassen.
Gleichermassen sahen die USA und England weder hinsichtlich des Warschauer Ghettos und Aufstandes, noch hinsichtlich der offenkundigen Ausrottung der Juden in Europa einen positiven, einen "guten" Grund zum Eingreifen. Den nüchternen geo- und weltpolitischen Überlegungen insbesondere der USA erschien die Idee, den im Warschauer Ghetto Eingeschlossenen und ihren Aufständischen oder den dem laufenden Völkermord ausgesetzten Juden in Europa zu Hilfe zu eilen als nachrangig. Mithin sogar kontraproduktiv angesichts dessen, sich ernsthafte Gedanken um eine weltumspannende Nachkriegsordnung im Dienste der amerikanischen Vorherrschaft in Dollar- und in militärisch-nuklearer Gestalt zu machen. Und darauf ihre Kriegsanstrengungen zu konzentrieren.
Dabei war das den geo- und weltpolitischen Kalkulationen der US-Führung von Anbeginn an klar: Eine zukünftige globale Nachkriegs- und Weltordnung im Dienste der amerikanischen Vorherrschaft verlangt zuallererst, das seit der Oktoberrevolution als das "Reich des Bösen" identifizierte Russland in Gestalt der Sowjetunion von der Erde zu tilgen. Definiert war damit Russland als der "absolute Feind, der letzte Feind der Menschheit" (C.Schmitt), demgegenüber der gegenwärtige "wirkliche Feind", das nationalsozialistische Deutschland, militärisch zu besiegen ist. Ist das gelungen, dann die Inangriffnahme der geo- und weltpolitisch über allem stehenden Herausforderung: dem absoluten, dem russischen Feind den Garaus zu machen. Und zwar in kongenialer Geistes- und Seelenverwandtschaft mit dem nationalsozialistischen Deutschland und seinen europaweiten Kollaborateuren, dem europaweiten "Fussvolk des Holocaust" (Th.Sandkühler) [19] und mit dem Heiligen Stuhl. [20] Wie diese antikommunistischen und antirussischen Protagonisten wollen die damaligen westlichen Staatsführer und Regierungsverantwortlichen unter Führung der USA, dass der "jüdische Bolschewismus", dass der (atheistische) Kommunismus, dass dieser "absolute Feind" (C.Schmitt), dass dieses Reich des Bösen nicht nur kein Land sichtet, sondern früher oder später vom Boden der Menschheit zu vertilgen sei.
Entsprechend dieser weltpolitischen Auftragslage war Deutschland als wirklicher, nicht als absoluter Feind funktional bestimmt. Deutschland musste lediglich entnazifiziert und zukünftig von jedem weltpolitischen Sonderweg-Gedanken abgebracht werden. Dies vollbracht, nichts leichter, als den ehemals wirklichen Feind 10 Jahre nach seiner zweiten imperialistischen Grossniederlage als zuverlässigen Werte-Partner in der neuen, in der NATO-Allianz zu begrüssen: als wirklichen Freund gegen den absoluten Feind.
Ein dezidiertes militärisches Eingreifen zugunsten des Aufstandes im Warschauer Ghetto vor 80 Jahren; ein radikales Eingreifen gegen die Ausrottung der Juden in Europa hätte die damaligen deutschen politischen und zukunftsorientierten Entscheidungsträger womöglich zum Schluss kommen lassen, die USA betrachten Deutschland als den absoluten Feind. Das hätte möglicherweise eine künftige, transatlantische partnerschaftliche Annäherung und Allianz erschwert. Warum also hätten die USA eingreifen sollen, um damals wie heute einen Völkermord, Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verhindern? Solches Eingreifen ist nur dann geboten, wenn es der nationalen Interessenlage entspricht.
Israels seit dem 7. Oktober 2023 geführter "Ausrottungskrieg" (Kant, 1785) [21] und seine genozidale Kriegsführung im Gazastreifen verdienen nach wie vor "unsere unerschütterliche Solidarität und Unterstützung" verkünden die Regierungsverantwortlichen der westlichen Wertegemeinschaft. Dies entspricht bis zum jetzigen Zeitpunkt ihren nationalen und geo- und weltpolitischen Interessen. Insbesondere gegenüber solchen absoluten Feinden, die sich im Ghetto des Gazastreifens militant gegen Israel wenden und dem Iran, der seit 1979 ohnehin schon längst im Visier der global ausgreifenden NATO-Wertegemeinschaft unter Führung der USA steht. Den anderen, den alten und neuen absoluten Feind im Osten, hat das immer noch heldenhafte Ukrainische Volk zu erledigen. Wie schon gesagt: "Wir verneigen uns vor einem Land europäischer Helden. Slava Ukraini! (von der Leyen,14.9.2022) Denn deren "Mut strahlt auch hinein in unsere Gegenwart heute." (Steinmeier, 19.4.2023)