Im Folgenden soll die Debatte anhand von drei Thesen gerade gerückt werden. Erstens: Das Projekt Europa bedeutet nicht die Überwindung nationalstaatlicher Strukturen und des Nationalismus, sondern ist vielmehr seine entsprechende Ergänzung. Zweitens: Separatistische Bewegungen stehen nicht antagonistisch zur Entwicklung Europas, sondern folgen dem europäischen Prozess des nation-building. Drittens: Linke Unabhängigkeitsbewegungen stellen kein emanzipatorisches oder demokratisches Projekt eines anderen Europas dar, sondern eine ethnonationalistische Antwort auf die veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse.
Divided States of Europe
Europa steckt in einer tiefen Krise, die national(staatlich) nicht lösbar ist. Trotzdem betreiben die Staaten der EU aktuell eine nationalistische »Jeder-gegen-Jeden-Politik«, während zugleich rechtspopulistische und separatistische Bewegungen enormen Zulauf bekommen. Diese Entwicklung ist aber nur scheinbar gegenläufig zum Prozess der europäischen Einigung. Denn die EU ist kein postmodernes Gesellschaftsprojekt, sondern in erster Linie ein Zweckverband nationalstaatlicher Akteure, ein »loses Bündnis konkurrierender Nationen«, wie es Rainer Trampert neulich in der konkret ausdrückte. Eine »Europäische Idee« in dem Sinne, über nationale Grenzen hinaus gemeinsame Werte und politische Praktiken zu entwerfen, wurde kaum ernsthaft verfolgt.Stattdessen ging es bei der europäischen Integration von Beginn an darum, vorhandene nationale Interessen aufeinander abzustimmen und erst einmal miteinander zu reden, anstatt gleich Kriege zu führen. Zudem wollte man im Rahmen der Weltmarktkonkurrenz die Stellung der eigenen Nation im machtpolitischen Block Europa gegenüber anderen Grossmächten verteidigen, insbesondere gegenüber den USA. Im Gegensatz zu diesen bestand das Projekt Europa aber nicht in der Einrichtung der United States of Europe.
Anders als bei der nordamerikanischen Nationsvorstellung, in der aufgrund ihres Charakters als Einwanderungsgesellschaft bereits aus historischen Gründen die Idee einer Abstammungsgemeinschaft oder eine Blut-und-Boden-Ideologie kaum eine Rolle spielten[1], herrscht in Europa auch weiterhin die ethnisierte Vorstellung von Nation vor, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts durchgesetzt hatte. Ihre Überwindung stand nie zur Debatte und so entstand auch nie eine Vorstellung kollektiver europäischer Interessen, die nicht bloss Mittel zum Zweck der Verteidigung nationaler Interessen waren. Und zum nationalen Interesse zählt in Europa, auch die nationale Identität zu bewahren, selbst wenn dies den Bedürfnissen des Kapitals zuwider läuft. Wenn in europäischen Gesellschaften mal Ansätze einer kollektiven europäischen Identität zu sehen waren, dann meist im Schatten antiamerikanischer und rassistischer Kampagnen.[2]
Die fortwährende Hegemonie des Nationalismus in der EU zeigt sich derzeit überaus deutlich sowohl in der Finanz- als auch in der sogenannten Flüchtlingskrise. Die durchweg national bestimmte Krisenpolitik als Antwort auf durchweg internationale Phänomene hat alle Erwartungen zunichte gemacht, Europa könne in naher Zukunft als supranationales Gebilde den Nationalstaat ersetzen. Stattdessen diskutieren die europäischen Staaten angesichts der zunehmenden Migrations- und Fluchtbewegungen in ihre Richtung über neue Mauern und die Wiederaufnahme der Grenzkontrollen – deren Abschaffung im Schengener Abkommen einer der Grundpfeiler des europäischen Einigungsprozesses war.[3] Und während einzelne Länder (Portugal, Griechenland, Spanien) in eine jahrelange Rezession rutschten und die Austeritätspolitik die Gesellschaften in die Armut drängte, konnten andere Staaten (wie z.B. Deutschland) aus der Krise sogar gestärkt hervorgehen.
In der europäischen Krise wird nicht nur der Gedanke der Europäischen Einheit regelrecht vorgeführt, sondern ebenso zwei Grundannahmen, die bis heute grosses Gewicht in kritischen Analysen des Nationalismus besitzen: Zum einen die These vom Bedeutungsverlust des Nationalstaates angesichts der fortschreitenden Globalisierung. Denn trotz multinationaler Unternehmen, deren Umsätze die vieler Volkswirtschaften bei weitem übersteigen, handeln weiterhin Nationalstaaten die politischen Rahmenbedingungen des freien Wettbewerbs aus. Als ökonomisches Strukturprinzip der Weltwirtschaft hat der Nationalstaat seine Funktion keineswegs eingebüsst. Und der Zustand der Nationalökonomien bestimmt den Grad der Misere der mit ihnen verbundenen Gesellschaften.
Zum anderen zeigt die Renaissance der repressiven Grenzpolitik, dass Nationalismus sich nicht rein aus der Ökonomie ableiten lässt, sondern sich auch gegen die kapitalistische Logik richten kann.[4] Denn streng genommen ist jene Abschottungspolitik ebenso wie die rassistischen Proteste gegen »das nationale Interesse« gerichtet – wenn dieses rein ökonomischer Natur wäre. Ob man nun die Praxis der EU-Mitgliedstaaten oder die Einstellungen innerhalb der Gesellschaften betrachtet: Europa stellt weder eine »postnationale Konstellation« (Jürgen Habermas) dar, noch handelt es sich um ein »kosmopolitisches Empire«, von dem Ulrich Beck gern träumte.[5] Vielmehr gehören Nationalismus und der Nationalstaat zu den Grundpfeilern, auf denen sich der Prozess der Europäischen Einigung vollzieht.
Kein Ende der Geschichte
Das europäische Narrativ hingegen ist ein anderes. Nach dem Zweiten Weltkrieg galt Nationalismus als Merkmal rechter Bewegungen oder archaisches Prinzip, das nur noch in den antikolonialen Bewegungen der damals als Dritte Welt deklassifizierten Ländern eine Rolle spielte. Man verwies stolz auf den Prozess der europäischen Einigung und sprach von Überwindung des Nationalismus. Pünktlich zum zweihundertjährigen Jubiläum der Französischen Revolution jedoch kehrte der Nationalismus auch als politische Bewegung auf die europäische Bühne zurück und bewies seine ungebrochene Wirkungsmacht am Ende des short century (Eric Hobsbawm). Jugoslawien zerfiel, begleitet von äusserst gewalttätigen Prozessen des nation-building, entlang ethnischer Zuschreibungen. In Anbetracht dieser brutalen, völkisch geprägten nationalstaatlichen Rekonstitution des Ostblocks zu Beginn der 1990er Jahre setzte sich in den Feuilletons ebenso wie in der Wissenschaft die Rede von der »Rückkehr« oder »Renaissance« des Nationalismus durch. Das Phänomen des Nationalismus galt als überholt, veraltet und nicht der globalisierten Welt entsprechend.[6]Ganz im Gegenteil veranschaulichte dieser nationalistische Ausbruch »mitten in Europa« jedoch lediglich die ungebrochene Vorherrschaft des Nationalismus. Er entsprach der historischen Entwicklung der Globalisierung im 20. Jahrhundert, das Detlev Claussen als »Jahrhundert der Vereinheitlichung« beschrieb, »in dem gesellschaftliche Gleichzeitigkeit durch nationale Differenzierung hergestellt worden ist«[7].
Das gilt auch für Europa: europäische Integration ist eine nationalstaatliche Angelegenheit. Will eine Gruppe – zumindest formell – gleichberechtigter Teil der europäischen Familie sein, muss sie sich national in einem eigenen Staat konstituieren. Globalisierung und ihr europäisches Pendant, die Europäisierung, führen nicht – wie von Marx über Hobsbawm zu Hardt und Negri immer wieder vorausgesagt – zu einer Auflösung der nationalstaatlichen Ordnung. Ganz im Gegenteil hat die Anzahl souveräner Nationalstaaten seit 1988 um zwanzig Prozent zugenommen und wie die Unabhängigkeits-Diskussionen in Katalonien und Schottland zeigen, spricht nichts dagegen, dass noch mehr hinzukommen.
Aber nicht nur der Form, sondern auch dem Inhalt nach orientierten sich die Nationen in spe auf dem Balkan an der vorherrschenden Norm: Die bestehenden europäischen Nationalstaaten hatten sich lediglich einige Jahrzehnte zuvor entlang ethnischer Grenzziehungen konstituiert und mit Hilfe von Kultur-, Bildungs- und Migrationspolitik versucht, einen »ethnischen« Charakter der Nation zu wahren bzw. zu konstruieren. Die neuen nationalistischen Bewegungen forderten also für ihr »Volk« bloss das gleiche Recht ein, das die etablierten Nationalstaaten spätestens seit dem Ersten Weltkrieg und der durch die Wilson'sche Friedensordnung eingerichteten nationalen Weltordnung für sich in Anspruch genommen hatten: »ethnische« mit politischen Linien zur Deckung zu bringen.
Die internationale Anerkennung der neuen politischen Einheiten auf dem Balkan bestätigte dann auch von offizieller Seite die völkerrechtliche Gültigkeit ihres ethnonationalistischen Selbstverständnisses. Denn trotz aller Kritik an der nationalistischen Gewalt wurde das »nationale Erwachen« im Osten Europas gleichermassen als Rückkehr zur Norm gewertet, als Ende des sowjetischen »Völkergefängnisses«. An dieser Wortschöpfung zeigt sich, wie wenig sich die nationale Denkform im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte in ihren Grundzügen verändert hat. Bereits während der Auflösung der west- und mitteleuropäischen Dynastien im 19. Jahrhundert unter dem Banner der nationalen Selbstbestimmung galt die von aussen aufgezwungene Einheit und damit verbundene Unterdrückung in einem »Völkergefängnis« als Konfliktursache. Die Geschichte schien sich am Ende des 20. Jahrhunderts in Europa zu wiederholen – jedoch nur scheinbar, denn die Ausgangsbedingungen und Ursachen waren gänzlich unterschiedlicher Natur. Die gesellschaftliche Verarbeitung der Umbrüche hingegen fand in alten Kategorien statt.
Die nationalistischen Konflikte Anfang der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts waren also keineswegs ein durch das »Ende der Geschichte« wieder zum Leben erweckter Dinosaurier oder ein Rückfall in vergangene Zeiten. Eine Ansicht, die übrigens damals auch in der linken Theoriebildung vertreten wurde. Christoph Butterwegge schrieb 1993: »Was sich überall in Südost- und Ostmitteleuropa regt […] ist im Grunde genommen gar kein Nationalismus, sondern ein bornierter Regionalismus und Tribalismus, der selbst kleinste Volkssplitter veranlasst, sich vom Nationalstaat abzuspalten […].«[8] Ähnlich argumentierte Robert Kurz im selben Jahr: »Dieser tertiäre Nationalismus (der mit dem europäischen ›primären Nationalismus‹ und dem ›Befreiungsnationalismus‹ des 20. Jahrhunderts nichts gemein hat) ist also ein völlig gegenläufiger ethnischer Schein-Nationalismus, und er ist ein Produkt der Verzweiflung, von der die Menschen in den Zusammenbruchsökonomien des totalen Weltmarktes heimgesucht werden«. [9]
Der Ethnonationalismus tritt jedoch keineswegs nur in »Zusammenbruchsökonomien« auf, wie an aktuellen separatistischen Bewegungen zu sehen ist. Ganz im Gegenteil entfaltet er gerade auch in wohlhabenden und produktiven Regionen seine Wirkung: in Katalonien und im Baskenland, in Nord-Italien, Flandern, Süd-Tirol und Schottland. Entgegen des von ihnen verbreiteten Mythos der unterdrückten Völker, die schon seit Jahrhunderten unter der Geissel der Zentralregierung leiden und ausgeplündert werden, sind diese Regionen wirtschaftlich deutlich besser gestellt als das Zentrum.[10] Ihr Nationalismus dient der Verteidigung des eigenen regionalen Standortvorteils in der Weltmarktkonkurrenz gegenüber den ökonomisch schwächeren Zentralstaaten. Die Unabhängigkeitsbewegungen können daher als eine verschärfte Form des Wettbewerbsregionalismus begriffen werden, der weder neu noch ungewöhnlich ist.[11] Mittlerweile hat jedes deutsche Bundesland eine eigene Vertretung in Brüssel.
Der Ethnonationalismus ist eine den veränderten Verhältnissen des 21. Jahrhunderts angepasste Form der nationalistischen Ideologie. Er ist Ausdruck der sich verschärfenden Weltmarktkonkurrenz, in der Ethnizität zunehmend als politische Ressource an Bedeutung gewinnt, um der eigenen Gruppe einen guten Platz im globalen Hauen und Stechen zu sichern. In ihm »versucht jede Nation, ihre Wurzel so tief wie möglich in die Geschichte zu verorten, um vor der Konkurrenz bestehen zu können«[12]. Der langjährige ETA-Aktivist Fernando Alfonso bringt dies wortgetreu in seinem Buch Wofür kämpfen wir Basken? auf den Punkt: »Euskal Herria, die tausendjährige Heimat der Basken, des ältesten Volkes des Kontinents, das […] als die Wurzel Europas gilt, möchte ein weiterer Stern auf seiner blauen Fahne sein. Euskal Herria ist die Wurzel und will ein Stern sein.«[13]
An diesem Zitat zeigt sich: es geht nicht gegen Europa an sich, sondern die separatistischen Bewegungen beanspruchen ihren Platz in der europäischen Gemeinschaft. The next star in Europe gehört zum Standardrepertoire auf den nationalistischen Massendemonstrationen in Katalonien und im Baskenland. Die Bewegungen stehen dabei nicht alleine: Im EU-Parlament bilden die »Nationen ohne Staaten«, vertreten durch die European Free Alliance (EFA), zusammen mit den europäischen Grünen eine eigene Fraktion und stellen aktuell 12 Abgeordnete. In der EFA sind an die 40 nationalistische und separatistische Parteien zusammengeschlossen, die unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker und einen »demokratischen Nationalismus« für ein »Europa der Völker« eintreten.
In ihrer Legitimation dieser Forderung beziehen sie sich auf die historische Grundlage fast aller moderner Nationalstaaten: gemeinsame Geschichte, Kultur, Sprache und »Identität«. Bei näherer Betrachtung setzt sich hier bloss der europäische nation-building-Prozess fort. Der grösste historische Unterschied wäre wohl, dass die neuen Staaten, würde es soweit kommen, ausnahmsweise mal keine Kriegsgeburten wären, die auf Gewalt und Vertreibung gegründet wurden. Was nicht ausschliesst, dass es im Laufe des Prozesses noch dazu kommen kann. Die Staaten und PolitikerInnen, die nun besorgt nach Katalonien schauen und vor einer »Balkanisierung« warnen, haben selbst noch vor zwanzig Jahren die auf Grundlage ethnischer Grenzziehungen begründeten neuen Nationalstaaten auf dem Balkan akzeptiert und der Gewalt als »ethnische Konflikte« zugleich einen naturgegebenen Ursprung zugesprochen. Objektiv betrachtet gibt es also tatsächlich keinen Grund, warum z.B. Spanien ein Nationalstaat ist, Katalonien hingegen dieser Status verwehrt wird. Aus emanzipatorischer Perspektive lässt sich aber auch kein vernünftiger Grund finden.
Die Freiheit, die sie meinen...
Freiheit und Selbstbestimmung werden im Diskurs der Unabhängigkeitsbewegungen zu leeren Kategorien, deren politisches Vakuum mit ethnisierten Vorstellungen gefüllt wird. Dies trifft besonders auf die linken Unabhängigkeitsbewegungen zu, die ihre Vision eines »freien Europas der freien Völker« als Demokratisierung Europas, wenn nicht gar als antikapitalistischen Widerstand präsentieren. Eine Argumentation, der sich auch gerne liberal bis links eingestellte KommentatorInnen anschliessen und jene Unabhängigkeitsbewegungen als demokratisches Projekt der Dezentralisierung Europas verklären.[14]Trotz vereinzelter sozialistischer Rhetorik wollen diese Bewegungen aber explizit etwas anderes: ihrem »Volk« ein den ethnischen und kulturellen Bedürfnissen entsprechendes politisches Dach verschaffen. Bereits Anfang der 1970er Jahre wurde in der Charte de Brest, einer Grundsatzerklärung zum nationalen Befreiungskampf in Westeuropa, unterzeichnet von acht linksnationalistischen Organisationen (darunter die nordirische IRA und die baskische ETA), die »offizielle Einrichtung der Sprachen und Kulturen unserer Völker« als »integraler Teil der Einrichtung des Sozialismus in unseren Ländern« beschrieben und »der Kampf für die essentielle Einheit des Volkes« als »die oberste Aufgabe der revolutionären Avantgarde der unterdrückten Völker in Westeuropa« ausgewiesen. Damals verband diese Bewegungen zumindest auch noch der Kampf für die sozialistische Weltrevolution, heute stellt das Selbstbestimmungsrecht der Völker das alleinige verbindende Element dar.
Statt auf Kuba, Algerien oder Vietnam bezieht sich die ETA seit ein paar Jahren auf den Kosovo als »erfolgreiches Beispiel« nationaler Befreiung. Das »Selbstbestimmungsrecht« – ursprünglich das juristische Instrument der Dekolonialisierung – wird nun als »nationalistische Option für Staatsgründungen auf ethnischer Grundlage missinterpretiert«.[15] So fordern die Unabhängigkeitsbewegungen im Kern wenig anderes als das, was die Neue Rechte bereits seit den 1970er Jahren mit ihrem völkischen Konzept des Ethnopluralismus vertritt: Jedem »Volk« sein Staat.[16] Die Verbindung europäischer Nationaler Befreiungsbewegungen mit ihren historischen Vorbildern in Übersee besteht vor allem »als eine fortgesetzte Regression: Die universalen, fortschrittlichen Bestandsteile aus den Anfangszeiten der nationalen Befreiungsbewegungen waren nicht von langer Dauer; heute werden nationalistisch verkleidete ethnische Kategorien in Erklärungsmuster für soziale und politische Konflikte sowie historische Traditionslinien umgefälscht.«[17]
Ihr Ethnonationalismus ist ein postkoloniales Zerfallsprodukt. Ihre Antwort auf die veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse und die komplexe, krisengeplagte Realität besteht im Rückzug in den behüteten Schoss der Nation.
Die aktuelle Stärke rechter nationalistischer Bewegungen in Europa generiert sich ebenso wie der Zulauf der Unabhängigkeitsbewegungen aus den krisenhaften und brüchigen gesellschaftlichen Verhältnissen. Das Fehlen von Freiheit und Selbstbestimmung auf individueller Ebene wird durch die Identifikation mit dem vermeintlich natürlichen Kollektiv und dem Ruf nach nationaler Selbstbestimmung kompensiert. »Wir werden frei sein!« – dieses in riesigen Buchstaben während der Massendemonstrationen in Katalonien hochgehaltene Motto verweist auf das noch immer mit der Nation verbundene Versprechen von Freiheit und Selbstbestimmung. Hieraus speist sich die fortwährende Wirkmächtigkeit nationaler Identifikation in einer durchglobalisierten Welt.
Je grösser die Ohnmacht, je bedrohter und isolierter sich der und die Einzelne fühlt – und auch real ist, wie die aktuellen Krisen schmerzhaft aufzeigen –, desto mehr sehnen sich die Menschen nach Sicherheit in Form einer naturgegebenen Zugehörigkeit. Die Nation bietet jenen Halt – und zugleich die Möglichkeit, sich selbst als global player zu imaginieren und auf diese Weise endlich ihren verdienten Platz in der Weltgeschichte zu erlangen, sich zum Anspruchsberechtigten in der Weltmarktkonkurrenz zu erheben. Ob nun in Dresden »Wir sind das Volk« oder in Barcelona »Wir sind eine Nation« gerufen wird: Es geht um die Verteidigung des Anspruchs auf ein Stück vom Kuchen gegenüber MitkonkurrentInnen in der globalen Konkurrenzgesellschaft.
Auch die linken Unabhängigkeitsbewegungen fordern letztendlich nichts anderes, als sich ohne »fremde Einflüsse« am Weltmarkt beteiligen zu können. So tragen sie unter antikapitalistischen Vorzeichen ihren Teil zur fortwährenden Verschleierung der gesellschaftlichen Verhältnisse bei.
Nicht Herrschaft an sich, sondern Fremdherrschaft – sei es durch den Zentralstaat oder die EU – steht im Zentrum ihrer Kritik. Im nationalistischen Schatten dieses Befreiungskampfes steht einerseits die Annahme, dass Herrschaft per se besser sei, wenn sie von Mitgliedern der selben ethnisch-kulturellen Gruppe ausgeübt werde. Andererseits ist damit die Vorstellung nationalstaatlicher Souveränität als Garant für Freiheit und Selbstbestimmung verbunden. Eine Illusion, die sich angesichts der aktuellen Krise unter Linken wieder grosser Beliebtheit erfreut. Dabei hat das Beispiel Griechenland, wo sich die gewählte Linksregierung im Jahr 2015 letztendlich der neokolonialen Erpressung durch Deutschland und die Troika beugen musste, überaus deutlich gezeigt, dass es im globalisierten Kapitalismus Unabhängigkeit nicht geben kann. Ein Staat, der nicht an der Weltmarktkonkurrenz teilnimmt, ist nicht überlebensfähig – die Regeln der Teilnahme aber bestimmt nicht er, und noch viel weniger seine Bevölkerung.
Mit der Forderung nach nationaler Selbstbestimmung wird geflissentlich die Tatsache ignoriert, dass diese noch in keinem Land der Welt die Selbstbestimmung der Menschen bedeutete. Wer trotzdem darauf beharrt, wird zwangsläufig damit konfrontiert werden, dass sich die Leute autoritären, rassistischen und nationalistischen Lösungsvorschlägen zuwenden, da der Nationalstaat keinen Schutz vor den Zumutungen des Kapitalismus bietet.
Das Bild des Nationalstaates als Garant sozialstaatlicher Rechte und politischer Interessenvertretung seiner BürgerInnen bekommt immer grössere Risse. Die Antwort auf dieses »Versagen« des Staates besteht in den meisten europäischen Gesellschaften in der Hinwendung zu ethnischen bis völkischen Gemeinschaftsvorstellungen. Dabei könnte der zunehmend sichtbare Souveränitätsverlust und die politische Krise des Nationalstaates, wie sie sich derzeit in Europa offenbart, auch als Chance für die Linke begriffen werden: Nämlich sich ein für allemal von ihm abzuwenden und in linker Theorie und Praxis über ihn hinauszuweisen. Bisherige Vorstellungen eines anderen Europas sind jedoch noch immer vom nationalistischen Bewusstsein geprägt. Die linksnationalistische Antwort auf das nationalstaatliche Europa als Ausdruck der kapitalistischen Moderne besteht in der Rückbesinnung auf eine angeblich naturgegebene, vor-kapitalistische Ordnung.
Die Kommunistische Partei Griechenlands (KKE) wiederum hängte im Mai 2010 aus Protest gegen die Sparpolitik der Troika an der Akropolis ein riesiges Transparent auf: Peoples of Europe: Rise up – und forderte damit nicht die Menschen (people), sondern die »Völker« (peoples) zum Aufstand auf. In der von Ulrich Beck entworfenen Vision eines »kosmopolitischen Empires« wird zumindest die Überwindung nationalstaatlichen Denkens und Handelns eingefordert – letztendlich aber bloss im Austausch für ein »Europa der Differenz, der anerkannten nationalen Partikularitäten«, was den »nationalen Interessen« wahre Geltung verschaffe und die Nationen »blühen« lasse.[18]
Visionen von einem »anderen Europa« haben somit meist nicht mehr zu bieten als eine andere Variante des Internationalismus, im schlechtesten Sinne seines Begriffs: der Kooperation verschiedener Nationalismen, wie sie auch für die Europäische Union bestimmend ist.