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Paris 1973: Die Schlacht im Quartier Latin gegen Bullen und Faschisten

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Paris 1973: Die Schlacht im Quartier Latin gegen Bullen und Faschisten

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Politik

Für den 21. Juni 1973 hat die faschistische Gruppe ‘Ordre nouveau' (ON) zu einer grösseren Saalveranstaltung nach Paris im Quartier Latin aufgerufen.

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Foto: Demonstration gegen die ON in Paris.

Datum 10. August 2022
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In der ON ist zu diesem Zeitpunkt die Avantgarde der extremen Rechten in Frankreich aktiv, in ihrer Betonung der militanten Auseinandersetzung und ihren “flachen Hierarchien”, ihrer Schwerpunktsetzung auf den Kampf gegen “die Ausländer und Immigranten” ist sie “ihrer Zeit voraus”, was sich später als neue Rechte rund um die Kameradschaftsszene, um die Ideen von Kühnen und Worch formiert, findet hier ihren historischen Vorläufer. In den Wochen vor dem Treffen zieht der Ordnungsdienst der Faschisten immer wieder durch das Quartier Latein, gut ausgerüstet werden Überfälle und Schlägereien inszeniert.

Der Kampf gegen die Faschos ist zu diesem Zeitpunkt fast ausschliesslich die Angelegenheit der radikalen Linken, nach dem Mai 1968 sind dies vor allem die Maoisten und Trotzkisten, die beiden bedeutendsten sind die Gauche Prolétarienne (GP) (Proletarische Linke) und die Ligue communiste (LC) (Kommunistische Liga). Beide Gruppierungen haben eine gewisse Verankerung in den Fabriken, vor allem im Grossraum Paris, beide sind bekannt für ihr militantes Vorgehen, wobei die LC eher auf eine “Massenlinie” bedacht sind, während die GP immer wieder durch spektakulären Aktionen u.a. mit Molotows von sich reden machen.

Es kommt auch zu Treffen von Leuten aus der RAF mit der GP, allerdings lehnen die GP den Schritt zum bewaffneten Kampf ab. Im Juni 1973 sind es diese beiden Gruppen, die das Gros der organisierten Militanten stellen, die sich in Richtung Tagung der Faschisten in Bewegung setzen, der Demonstrationszug umfasst je nach Angaben zwischen 5.000- 10.000 Menschen. Es kommt zu heftigen Kämpfen mit den Bullen, die mit einem grossen Aufgebot Stellung in unmittelbarer Nähe zum Tagungsort der Faschisten bezogen haben, zwei Polizeifahrzeuge gehen in Flammen auf, sieben weitere werden völlig zerstört. Etliche Polizisten werden verletzt, einige davon schwer.

Trotz aller Militanz und obwohl mehrmals Polizeiabsperrungen durchbrochen werden, gelingt es nicht zum Tagungsort vorzustossen und die Faschisten aus dem Saal zu prügeln. Im Anschluss wird die LC verboten, der Tag bleibt trotzdem ein wichtiger Bezugspunkt für die kommenden Generationen von Militanten in Frankreich. Wir haben einen Bericht von Alain Cyroulnik, damals einer der führenden Kader der Ligue communiste in Paris über diesen Tag und den Kontext übersetzt. Sunzi Bingfa

Die Demonstration gegen das Treffen von Ordre nouveau am 21. Juni 1973

Das Jahr 1973, in dem die Versammlung von 'Ordre nouveau' vor allem von der Ligue communiste angegriffen wurde, war kein Jahr wie jedes andere: Es war das Jahr der grossen “ratonnades "[1], die von der neofaschistischen extremen Rechten organisiert wurden, die aus der Kollaboration hervorgegangen war und nun ihre Lefzen wieder hochzieht, aber auch von ehemaligen Militärs, die für Französisch-Algerien eintraten, und einer nicht unerheblichen Zahl von Militärs, die in jenen Jahren aktiv waren. Die Angriffe auf Einwanderer, hauptsächlich Algerier, nehmen in Südfrankreich (Marseille, Grasse, La Ciotat, Toulon...) und auch in Paris zu. Im Jahr 1973 werden 50 Immigranten getötet und etwa 300 verletzt.

Das rassistische Klima, das einen Teil der Gesellschaft erfasste, prägte das Bewusstsein der Menschen so sehr, dass beispielsweise Yves Boisset den Film Dupont Lajoie drehte.

Die Demonstration vom 21. Juni 1973 hat Generationen von politischen Aktivisten sowie antirassistischen und antifaschistischen Aktivisten geprägt. Sie ist ein Beispiel für die Entschlossenheit eines Teils der revolutionären Linken, Faschismus und Rassismus den Weg zu versperren, wenn nötig mit Gewalt, selbst auf Kosten ihrer eigenen organisatorischen Existenz. Wir befragten Alain Cyroulnik, der damals Mitglied der Ligue communiste war. (Vorwort der Zeitschrift L'Anticapitaliste Nr. 132; Januar 2022)

In der Zeit nach dem Mai 68 entwickeln sich die Kämpfe in Frankreich in Solidarität mit den internationalen Kämpfen. Und um all diese Themen herum kommt es zu einer Konfrontation mit der extremen Rechten, die sich während des Algerienkriegs an der Seite der OAS wieder "eine cerise" [2] aufgesetzt hat, um zu versuchen, sich von der Schande der Kollaboration und der Unterstützung für Pétain und das Vichy-Regime zu befreien, wobei es um Themen wie die Grösse Frankreichs und die Verteidigung des Kolonialreichs geht. Ob es also um Vietnam oder Algerien ging, wir waren immer mit der extremen Rechten konfrontiert.

Ab Mai 1968 intervenierte die extreme Rechte, die sehr marginalisiert war, dennoch in einigen Gymnasien durch Aggressionen und gewalttätiges Auftreten. Die sichtbarste Gruppe ist die 'Fédération des étudiants nationalistes', aus der später 'Occident' hervorgehen wird. Diese wiederum wird nach 68 aufgelöst und wird zu 'Ordre nouveau'. Diese faschistische Gruppe wird die Initiatorin der beiden grossen Versammlungen 1971 und 1973 sein. Nach 1973 werden die Trümmer von 'Ordre nouveau' von Le Pens 'FN' geschluckt.

Ein Ordnungsdienst, um der extremen Rechten entgegenzutreten

In der Zeit nach dem Mai 68 stürzten sich die Genossen der 'Kommunistischen Liga' in einen unbändigen Aktivismus, der sich insbesondere auf den Kampf gegen die extreme Rechte ausrichtete.

Wir bildeten den Ordnungsdienst (service d'ordre) der 'Ligue communiste' (LC), dessen Erbe zum Teil aus den Traditionen der 'antifaschistischen Universitätsfront' (Front universitaire antifasciste) während des Algerienkriegs stammte und aus Militanten der 'Union des étudiants communistes 'Parti socialiste unifié 'Union nationale des étudiants de France' im Quartier Latin bestand.

Die Funktion unseres Ordnungsdienstes bestand in der Betreuung und dem Schutz von Aktivisten bei Aktionen und Demonstrationen, die die 'Ligue communiste' organisierte, aber auch in der Anforderung, das Eingreifen unserer Genossen in Unternehmen zu gewährleisten, in denen Arbeitgeberverbände wie die 'Confédération française des travailleurs' (CFT) vertreten waren. Ich denke da vor allem an Citroën in Rennes und Ballard (Paris 15e), wo wir mit 90 Leuten hinfuhren, um unsere Flugblattverteilungen zu schützen.

Gleichzeitig organisierten wir auf einem für uns günstigen Terrain - denn die Militanten der Organisation waren im Schüler- und Studentenmilieu sehr zahlreich - das Verhindern des öffentlichen Ausdrucks von Hass und Galle durch rechtsextreme, faschistische und rassistische Bewegungen. Wir hatten auch beschlossen, den Royalisten der 'Action française' wie auch anderen Faschisten zu verbieten, auf die Märkte zu kommen und ihre Flugblätter zu verteilen. Die alte Parole "Die braune Pest zerschlagen" wurde damals zu einem strukturierenden Element für einen Teil unserer Aktionen in Paris wie auch in den Provinzstädten, in denen wir eine Basis hatten.

Natürlich verfolgten wir die Aktivitäten der extremen Rechten sehr genau. Wir beobachteten genau, wo sie sich etablierten und wo sie sich entwickelten.

Konfrontiert mit Ordre nouveau

Deshalb beschlossen wir 1971 während des Kommunalwahlkampfes, die Versammlung von 'Ordre nouveau', die im Palais des Sports stattfand, zu unterbinden. An der Demonstration nahmen 5000 Personen teil. Die Konfrontation war ziemlich gewalttätig, aber die Ligue wurde danach (noch) nicht aufgelöst. Zwei Jahre später begann die Wirtschaftskrise von 1973 und die faschistische Gruppe 'Ordre nouveau' startete eine fremdenfeindliche Kampagne, um unter dem Motto "Stoppt die wilde Einwanderung" als Sündenböcke Einwanderer und ausländische Arbeiter zu benennen.

Als die Auftritte von Ordre nouveau zunahmen, traten ehemalige Kollaborateure von Pétain und dem Vichy-Regime wie François Lehideux, ehemalige Waffen-SS-Leute wie Léon Gaultier oder ehemalige Milizionäre wie Roland Gaucher wieder ins Licht der Öffentlichkeit und ans Rednerpult der Versammlungen. Das gab einem das Gefühl, dass nach und nach durch 'Ordre nouveau' das Sprachrohr all des alten Abschaums des französischen Faschismus und der Kollaboration relegitimiert wurde. Ausserdem war zum Treffen am 21. Juni ein deutscher Neonazi eingeladen...

Und all das bestimmt unseren Wunsch, dieses Treffen zu verhindern.

Zu dieser Zeit bin ich in der Pariser Direktion der 'Ligue communiste'. Einige Genossen berichten uns über die Durchführung des Treffens. Zu dem Zeitpunkt als wir anfangen, über die Form unserer Intervention zu diskutieren, sind es noch eineinhalb Monate bis das Treffen stattfindet. Sofort stellt sich die Frage, ob wir in diesem kurzen Zeitraum eine Kampagne durchführen, die ein einheitliches Vorgehen erschwert und somit die Gefahr birgt, dass die Aktion auf eine Konfrontation der extremen Linken gegen die extreme Rechte reduziert wird. Aber die Thematik der offen fremdenfeindlichen Kundgebung ermöglicht es einer grossen Mehrheit, für die Demonstration zu stimmen und gleichzeitig einen einheitlichen Aufruf zu formulieren. Letztendlich war der Bogen der Kräfte, die am "21. Juni" teilnahmen, nicht sehr weit gespannt: Es gab die Gruppe "Révolution!", einen Teil der maoistischen Strömung, einige Vereinigungen und die 'Kommunistische Liga'. Weder 'Lutte ouvrièr' noch die lambertistische Strömung folgten dem Aufruf.

Die Art der Intervention der LC

Als nächstes kommt die Diskussion über den Inhalt und die Form, die unsere Aktion annehmen soll. Es ist die gemeinsame Aufgabe der nationalen Führung, der Pariser Führung und der Führung des Ordnungsdienstes, diese Frage zu entscheiden. Die Leitung des Ordnungsdienstes schlägt eine Versammlung nicht weit von der Mutualité entfernt vor, an der Metro Cardinal-Lemoine.

Was mich betrifft, bin ich eher für eine längere Route in Richtung der Versammlung der Faschisten, die Zeit lässt, um zu zeigen, dass die Bullen uns daran hindern, dorthin zu gehen. Das hätte die Komplizenschaft der Regierung und der Faschisten bewiesen.

Dann würde natürlich keiner dieser beiden Lager die Geschichte der Konfrontation ausklammern können. Seltsamerweise erwähnte in der Diskussion niemand die Demonstration am 'Palais des Sports', die wir 1971 gegen dieselben Leute durchgeführt hatten und die extrem gewalttätig gewesen war: Die gesamte erste Reihe hatte Molotowcocktails und wir hatten die Bullen angegriffen, die gezwungen waren, sich zurückzuziehen.

Die grossen internen Widerstände gegen diese Aktion, um es klar zu sagen, kamen erst nach der Demo zum Ausdruck ... als man sah, welche Folgen die Auflösung für die Organisation hatte. Ihre Argumentation bestand darin, darauf hinzuweisen, dass die Liga in eine Logik zurückgekehrt war, die die Aktion der Massen ersetzte.

Trotz des kurzen Zeitraums führten wir eine intensive Kampagne und so wussten alle, die zu dieser Demo kamen, sehr gut, warum sie kamen... Jeder wusste, dass es zu Zusammenstössen kommen würde und dass man diese Versammlung unbedingt verhindern wollte. Konkret bestand die Idee darin, in den Saal einzudringen, um zu verhindern, dass sie stattfindet.

Der Ablauf der Demonstration

Ich habe es in den Debatten zu diesem Thema oft gesagt: Wenn man eine Demo startet, von der man weiss, dass sie gewalttätig sein wird, gibt es nichts Besseres als den unmittelbaren 'natürlichen' Rahmen der Route: Baustellen, Hintertüren, von denen man weiss, dass sie sich öffnen lassen, und wo man auf der gesamten Route das notwendige Material versteckt. Das bedeutet, dass wir nicht mit den Mitteln unserer Militanz zur Demo gehen, sondern in der Umgebung des Punktes, an dem sich der Demonstrationszug formiert, das notwendige Material einsammeln, um unseren Schutz und die Konfrontation mit den Faschisten und den Bullen zu übernehmen.

Gemäss dem verabschiedeten Beschluss trafen wir uns also in Cardinal-Lemoine und zu meinem Erstaunen gelang es uns sehr leicht, den Demonstrationszug zusammenzustellen. Ich erinnere mich an verbotene "Vietnam"-Demos, bei denen wir direkt am Ausgang der Metro verhaftet wurden.

Am '21. Juni' waren wir zahlreich! Der Demonstrationszug umfasste 5.000 Personen. 5.000 Demonstranten, die wussten, warum sie da waren, und die mit Sicherheit eine gewalttätige Konfrontation erleben würden. Und bei Zusammenstössen ist die Angst präsent ... Übermenschen, nur die extreme Rechte glaubt, dass es sie gibt! Revolutionäre Aktivisten hingegen glauben, dass es die kollektive Stärke ist, die die Menschen mutig machen kann.

Unter diesen Umständen zeigt ein Demonstrationszug von 5.000, dass diese Demonstration ein gewisses Echo hatte. Diese Zahl zeigt auch, wie viel Vertrauen die Demonstranten in das Bündnis hatten: Die Risiken bestanden, aber sie waren kalkulierbar, und die Organisation übernahm den Schutz der Demonstranten, wie sie es bei den vielen riskanten Aktionen, die sie seit dem Mai 1968 organisiert hatte, immer getan hatte.

In jeder Debatte über eine gewalttätige Demonstration geht es darum, was im Vordergrund steht: Ist das politische Ziel wichtiger als die Gefahr einer Auflösung (der Organisation, d.Ü.), die eintreten kann. Im Fall des '' hatte jedoch niemand die Möglichkeit einer Auflösung (der Organisation) in Betracht gezogen.

Die Demo war ziemlich gewalttätig, sehr gewalttätig. Es gab eine erste Reihe mit Eisenstangen und Spatenstielen und an den Seiten gab es Gruppen mit Molotowcocktails. Alle Genossen hatten Helme auf. Sie sollten angreifen, wenn uns jemand am Durchkommen hinderte. Auf den Archivbildern ist dieses Dispositiv deutlich zu erkennen. Man muss auch hinzufügen, dass man die Polizisten anfangs nicht sieht. Man sieht sie erst, als die Mutualité in der Nähe ist.

Auch wenn die Gewalt stark ausgeprägt war, blieb sie immer im Rahmen eines menschlichen Verhaltens. Als wir zum Beispiel angriffen und die Bullen sich zurückzogen, wurden einige von ihnen inmitten der Demonstranten 'vergessen'. Der SO holte sie heraus, um zu verhindern, dass sie von der Menge geschlagen wurden. Das war ein Verhalten, das der Ordnungsdienst bei allen von uns organisierten Demonstrationen an den Tag legte.

Die Demo war sehr gewalttätig, aber es gab auf der ganzen Strecke Megafonansprachen, um den Menschen an den Fenstern und auf der Strasse unser Ziel und den Grund für diese Gewalt zu erklären. Es gab den Willen, auch während der Zusammenstösse politisch aktiv zu sein.

Seit dem Start der Demo ist der Demonstrationszug stark gewachsen. Von den 5000 am Anfang sind wir jetzt vielleicht 10 000...

Infolge der Zusammenstösse zerbrach der Demonstrationszug in zwei Teile. Ich führte die Gruppe an, die sich mit Molotowcocktails auf der linken Seite befand, und so fand ich mich auf dem Weg zurück nach Luxembourg wieder, bevor ich über den Boulevard de l'Hôpital zum Gare d'Austerlitz hinunter ging. Bei Austerlitz räumten wir einen Bus mit Polizisten aus dem Weg, weil wir nicht wollten, dass es bei der Demo Tote gab.

Dann beschlossen wir, auf der Seite von Les Halles zum Lokal von 'Ordre nouveau' in der Rue des Lombards zu gehen. Als sie uns kommen sahen, flüchtete ein Teil der Faschisten und die anderen verbarrikadierten sich in ihrem Lokal. Der Demonstrationszug beschloss daraufhin, nach Châtelet zu ziehen, wo sich die Demonstration auflöste.

Mit einigen Genossinnen und Genossen kehrten wir zum Lokal der Ligue in der Impasse Guéménée zurück. Als Pariser Verantwortlicher sollte ich für den Schutz des Lokals sorgen. Als der Abend voranschritt, begannen wir im Radio von "der Auflösung" (der LC, d.Ü.) zu hören. Also beschlossen wir, zu überprüfen, wer sich im Lokal aufhielt. Zwei baskische Genossinnen befanden sich dort. Sie durften nicht festgenommen und dann nach Francos Spanien abgeschoben werden. Ich begleitete sie und als wir herauskamen, kontrollierten uns die Polizisten und verlangten unsere Papiere. Ich weigerte mich und verursachte ein Gedränge, um die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Ich wurde in einen Lieferwagen verfrachtet, in dem ich eine schlimme Zeit verbrachte. In der Zwischenzeit konnten die Kameradinnen gehen. Aber sie wurden leider wieder festgenommen…

Die Auflösung

Die Polizei intervenierte gegen 6 Uhr morgens gegen das Lokal der Ligue. Sie kamen bewaffnet, behelmt und mit Leitern ausgestattet. Die Impasse Guéménée sah aus wie ein Kriegsgebiet. Die Militanten, die sich im Lokal der Ligue befanden, wurden festgenommen und wir wurden alle zum Kommissariat des 4. Arrondissements gebracht.

Auf dem Kommissariat erinnerte ich an die Anweisungen: Wir unterschreiben nichts und geben nur unsere Identität an. Die Polizisten, die sonst eher höflich waren, wurden von diesem Moment an eiskalt. Sie setzten uns wieder in Busse und während dieses erneuten Transports erklärten uns einige: "Wir haben euch 1940 nicht erwischt, wir haben euch im Oktober 1961 nicht erwischt, also werden wir euch jetzt wie 61 in die Seine werfen."

Die Busse, in denen wir sassen, dienten normalerweise dazu, Gefangene zum Gericht zu bringen. Es gab kleine Einzelzellen. Als sie uns im Haftzentrum des Justizpalastes aussteigen liessen, knüppelten sie uns kräftig nieder. In der Zelle zogen sie uns nackt aus und durchsuchten uns mit rektaler Berührung, um zu sehen, ob wir eine Waffe versteckt hatten... Kurz gesagt, nach den Schlägen folgte der Versuch, uns zu erniedrigen.

Schliesslich sahen wir den Untersuchungsrichter, der uns sagte, dass wir wegen der Demonstrationen angeklagt wurden, aber vor allem wegen Waffenhandels, weil die Polizisten während der Durchsuchung des Lokals ein altes Jagdgewehr entdeckt hatten, das ein Aktivist dort deponiert hatte und von dessen Existenz wir alle nichts wussten. Es gab auch Unterwasserharpunen, Waffen, die für ihre extreme Gefährlichkeit bekannt sind! Keiner von uns wusste von diesem "Arsenal" ... sonst hätten wir es natürlich vor der Durchsuchung entsorgt.

Am Morgen wurden wir alle freigelassen, ausser Pierre Rousset, der behalten wurde, weil er auf Bewährung verurteilt worden war, und er wurde in Untersuchungshaft genommen.

Anderthalb Monate lang schlief ich nicht zu Hause, wie viele andere Kameraden auch, denn es fanden noch mehrere Hausdurchsuchungen statt. Das war ziemlich seltsam, denn die Polizisten durchsuchten das Haus meiner Eltern, obwohl sie nie in der Wohnung waren, in der ich tatsächlich seit langem wohnte.

Lehren und Konsequenzen

Es gab eine widersprüchliche Wirkung des '21. Juni'. Tatsächlich löste die Auflösung der Ligue eine ziemlich grosse Bewegung der Empörung, Sympathie und Solidarität um uns herum aus. Es gab sogar eine Unterstützungsversammlung für die LC im Cirque d'hiver, und alle Parteien der Linken kamen: die PS, die KP, die PSU... und die Ränge waren voll. Das Paradoxe ist also, dass alle Organisationen auf diesem Treffen sprachen, aber kein Vertreter der LC das Recht hatte, den Sinn unserer Aktion zu erklären und warum wir Opfer der Repression waren. Damals war es für die KP schon sehr schwer zu schlucken, eine Kundgebung zur Verteidigung von "Linken" abzuhalten, aber dann auch noch Trotzkisten auf der Tribüne sprechen zu lassen, ging über ihre Kräfte.

Ausserdem gingen wir nach der Kundgebung auf eine Demonstration. Trotz der Auflösung war unsere Mobilisierungsfähigkeit intakt. Dieses Ereignis, das uns in den Augen der Massen und der politischen Organisationen hätte marginalisieren können, schuf stattdessen einen Strom von Sympathien, politische Verbindungen und Möglichkeiten für Diskussionen. Nach der Auflösung wurden wir viel mehr beachtet, gehört und in Bündnisbezogenen Zusammenhängen akzeptiert als zuvor.

In den internen Debatten nach der Auflösung erklärten einige Genossinnen und Genossen, dass es eine substitutistische, eine militaristische Logik gab und dass die Demonstration die Aktivistinnen und Aktivisten der Ligue politisch nicht auf die anschliessende Auflösung der vorbereitet hatte. Sie erklärten auch, dass sich der Schwerpunkt der Aktivitäten der Aktivisten der Ligue von Aktionen in Betrieben und Gewerkschaften auf eine marginalisierende Logik der Konfrontation mit der extremen Rechten verlagert habe.

In der Praxis haben sich diese Befürchtungen nie bewahrheitet. Der politische Gewinn, der dadurch geschaffene Handlungsspielraum, die veränderten Bedingungen für die Existenz der Ligue in der Arbeiterbewegung wurden in dieser Perspektive auf den Kopf gestellt.

Sicher ist, dass die Ligue von viel mehr Menschen wahrgenommen wurde als vor dem 21. Juni 1973. Unser Gehör in allen Kreisen war viel grösser. Die Beziehung zu den Militanten der KP änderte sich sogar. Sie erklärten nicht mehr, dass wir Feinde der Arbeiterklasse, Freunde des Grosskapitals und eine Gruppe von Provokateuren seien. Sie stellten unsere Integrität und unser Engagement nicht in Frage, waren aber mit den Formen, die sie annehmen konnten, nicht einverstanden. Und das hat alles verändert! Wir wurden zu einer Kraft in der Arbeiterbewegung und hörten auf, eine Gruppierung von Linken zu sein. Das veränderte das Bild der Ligue in den Augen aller Kreise, in denen wir tätig waren, und vor allem in den Kreisen der Lohnabhängigen.

Alain Cyroulnik

Fussnoten:

[1] franz. für Ausschreitungen gegen Minderheiten

[2] französisches Wortspiel, sich eine Kirsche aufsetzen wortwörtlich

[3] alle 'traditionellen' französischen Gruppen und Gewerkschaften haben einen 'Ordnungsdienst' (service d'ordre, SO), selbst die Anarchosyndikalisten. Im allgemeinen dafür gedacht, die eigenen Aktionen und Demos zu schützen, oder militante Aktionen durchzuführen, agieren diese aber auch häufig in der Linken gegen andere unliebsame Konkurrenten, besonders der SO der CGT hat eine lange Tradition darin gegen “Abweichler” vorzugehen, besonders in den letzten Jahren in Paris gegen autonome und militante Zusammenhänge.

[4] Eine weitere trotzkistische Strömung, siehe https://de.frwiki.wiki/wiki/Courant_lambertiste

[5] 1961 wurden bei einem Massaker in Paris über 200 Menschen algerischer Herkunft ermordet. Die Bullen gingen auf Anweisung der obersten politischen Kreise gegen eine verbotene Demo zur Unterstützung des algerischen Unabhängigkeitskampfes vor. Etliche der Leichen wurden später in der Seine gefunden. Jahrzehntelang wurde das Massaker öffentlich als nicht stattgefunden behandelt. https://de.qantara.de/inhalt/kolonialismus-im-maghreb-frankreichs-staatsverbrechen-an-den-algeriern


Zuerst erschienen auf Sūnzǐ Bīngfǎ