"Weder rechts noch links", das war nicht nur der jüngste Slogan des neoliberalen Jungpräsidenten Emmanuel Macron, sondern vor allem die Strategie von Marine Le Pen und ihrer rechten Hand, dem Parteivize Florain Philippot, seit beider Machtübernahme im Front National (FN) 2011. Neben Marine Le Pen spielte seit 2011 auch ihre Nichte, die heute 27jährige Marion Maréchal Le Pen eine bedeutende Rolle im FN. ist die "Lieblingsenkelin" des FN-Gründers und langjährigen Vorsitzenden Jean-Marie Le Pen. Wohl kaum eine andere faschistische Partei in Europa ist bisher eine solch lupenreine Familiendynastie wie diese.
Mit einer Strategie der "Entdämonisierung" wollte Marine Le Pen den alten Faschismus ihres Vaters überdecken und den Front National regierungsfähig machen. Jean-Marie Le Pen wurde dafür sogar 2015 offiziell aus der Partei ausgeschlossen, zusätzlich zum bereits 2009 nach einem Konflikt mit Marine Le Pen aus der Partei gedrängten, offen antisemitischen und nationalsozialistischen Strategen Alain Soral.
Die unmittelbare Machtübernahme im Staate ist am 7. Mai 2017 noch einmal gescheitert - für viele BeobachterInnen mit 33,9 Prozent der gültig abgegebenen Stimmen bei hoher Wahlenthaltung deutlicher als erwartet. Überraschend wurden Stimmen unmittelbar nach der Stichwahl im extrem hierarchisch, kadermässig organisierten Parteiapparat laut, die Marine Le Pens Wahlkampfstrategie offen kritisieren. Die bei NeofaschistInnen besonders populäre Nichte Marion Maréchal-Le Pen hat sogar ihren - vorläufigen - Rücktritt aus der Politik erklärt.
Zweimal hatte Marine Le Pen direkt gegen die von ihr selbst propagierte "Entdämonisierungs"-Strategie gehandelt und dabei ihre und der Partei noch immer vorhandene wahre Fratze gezeigt. Zuerst verspielte sie einen ziemlichen Vorsprung vor dem ersten Wahlgang, als sie bei Meinungsforschungsinstituten Monate lang bei 30% oder mehr lag. Dafür war eine Behauptung mit verursachend, die Marine Le Pen am 9. April, also zwei Wochen vor dem ersten Wahlgang am 23. April 2017, offen in der RTL-Sendung "Le Grand Jury" äusserte, nämlich dass Frankreich in keiner Weise mitschuldig sei an der grossen Judenrazzia Mitte Juli 1942, als 13.000 Juden/Jüdinnen verhaftet, im Pariser Winter-Radstadion interniert und dann in die nazistischen Vernichtungslager deportiert worden sind - dies auf Anweisung des Vichy-Regimes und durchgeführt von der französischen Polizei, deren Oberbefehl auch im von Deutschen besetzten Norden bei der Vichy-Regierung lag.
Le Pen bestritt diese, seit 1995 von Präsident Chirac offizialisierte Version der französischen Kollaboration und meinte, dass die Verantwortung vollständig bei den Deutschen lag - wider jede historische Evidenz. Die Tageszeitung "Le Monde" schrieb dazu: "Frau Le Pen macht damit jahrelange Anstrengungen einer 'Entdämonisierung' ihrer Partei zunichte, die zum Ausschluss ihres eigenen Vaters führten, jenem tristen Autor der Formulierung vom 'Detail', das die NS-Gaskammern gewesen seien." [1]
Am Abend des ersten Wahlgangs kam Marine Le Pen zwar in die Stichwahl, aber nur als Zweitplazierte mit 21,3%.
Eine Lawine des Negationismus
Während des Wahlkampfs gab es einige Intellektuelle und KünstlerInnen, die agitatorisch gegen den Front National ankämpften. In dieser Zeit lief in französischen Kinos etwa der Film "Chez Nous" (Bei uns; Anspielung auf den Slogan bei FN-Wahlkampfveranstaltungen für die "nationale Präferenz": "On est chez nous!" - "Hier sind wir unter uns!"; d.A.) des gegen den FN engagierten Regisseurs Lucas Belvaux, wo in einer Strategieausbildung gezeigt wird, dass man im Wahlkampfgespräch mit BürgerInnen antisemitischen und rassistischen Äusserungen nie widersprechen, sie nur nicht offen positiv vertreten soll. Der Film thematisiert auch die vielen noch vorhandenen Verbindungen des FN zu direkt militanten und offen rassistischen Schlägergruppen im Umfeld. Real sind das etwa Seilschaften zur studentischen Schlägertruppe GUD (Groupe union défense), dessen Ex-Chef Frédéric Chatillon heute zu den engsten Vertrauten Marine Le Pens zählt. [2]Gleichzeitig lief der britisch-US-amerikanische Film "Denial" (dt.: "Verleugnung") über die Forscherin zur Holocaust-Leugnung, Deborah Lipstadt [3], und den britischen Negationisten David Irving in französischen Kinos.
Wie nah diese Filme der Realität einer möglichen Machtübernahme des Front National kamen, zeigte sich in den vierzehn Tagen der Stichwahl, als Marine Le Pen kurzfristig den FN-Parteivorsitz aufgab, um sich ganz dem Wahlkampf widmen zu können. Ihr erster Nachfolger war Jean-François Jalkh, der noch 2005 in einem Presseinterview den mehrfach verurteilten Holocaust-Leugner Robert Faurisson als "seriösen Revisionisten" der Geschichte und die Verwendung von Zyklon B in Gaskammern schlicht als "unmöglich" bezeichnet hatte. [4]
Jalkh musste gleich wieder zurücktreten, als das bekanntgemacht wurde. Auf ihn folgte Steeve Briois im FN-Parteivorsitz. Der wurde gleich wegen "Aufrufs zum Rassenhass" öffentlich angegriffen und musste wieder abtreten. Nun kam Nicolas Bay ans FN-Ruder. Doch gleich wurde publik, dass der im Parlamentswahlkampf 2002 einen Stellvertreter namens René Schleiter hatte, seines Zeichens direkt Schwager von Faurisson, und auch selbst Autor negationistischer Artikel war. [5]
Das alles innerhalb von nur zwei Wochen während der Stichwahl. Doch nun liess es Marine Le Pen bei Nicolas Bay bewenden. Offensichtlich standen bei solch einem Bodensatz in der zweiten Reihe anscheinend nur noch Schläger und Antisemiten zur Übernahme neuer Ämter bereit. Dies zeigte einer überraschten Öffentlichkeit, wie oberflächlich das gross verlautete Stallausmisten hinsichtlich des Antisemitismus in der Partei im Anschluss an Sorals Abgang 2009 gewesen war. Ein wichtiger Propagandainhalt der "Entdämonisierung" des FN, der Kampf gegen Islam und Immigration, trat im Wahlkampf dadurch in den Hintergrund.
Die verflixte Fernsehdebatte
Die zwei Wochen der Stichwahl begannen für Marine Le Pen eigentlich ideal. Macron machte falsch, was er nur falsch machen konnte. Er begoss den Sieg im ersten Wahlgang mit Champagner und horrenden Essenspreisen im schicken "Rotonde" in Paris-Montparnasse - und in Paris und Frankfurt/M. schossen die Börsenkurse wie irre in die Höhe: Sie gaben in der Tat das Bild der nur ihren eigenen Reichtum feiernden Jungmanager, Technokraten und Börsenspekulaten ab, das der Front National von ihnen zeichnen wollte. Es war eine Steilvorlage für Marine Le Pen, die sich, wie es schien, glaubhaft als schlichte Repräsentantin des "Volks", der unteren Schichten, darstellte, die aufrecht gegen den Banker und das personifizierte Finanzkapital Macron kämpfen würde.Zugute kam ihr bei dieser billigen Personalisierung und mit antisemitischen Versatzstücken durchsetzten Propaganda, dass Macron ja tatsächlich seine berufliche Karriere als Banker in Kreditverhandlungen mit Firmen wie Pfizer, Siemens oder Nestlé begann und in dieser Funktion zwischen 2008 und 2012 bei der Pariser Rothschild-Bank angestellt war. [6]
Wir wissen ja, wie falsche Personalisierung antisemitische Ressentiments in der Bevölkerung wecken kann - unausgesprochen setzte Marine Le Pens beständig wiederholter Diskurs über Macron als ausschliesslichem "Banker" und "Finanzjongleur" genau darauf.
Aber dann übertrieb es Marine Le Pen: In der einzigen Fernsehdebatte der Stichwahl mit Macron am Abend des 3. Mai griff sie ihn nicht nur wie üblich als personifiziertes Finanzkapital rhetorisch brutal an, sondern sie lächelte dabei immer freundlich, sodass ein Eindruck des Wolfs im Schafspelz entstand. Darüber hinaus bekam sie ihre polemische Art nicht in den Griff und brachte zahlreiche Fake News. U.a. ruderte sie plötzlich beim Ausstieg aus dem Euro als Programmpunkt des FN zurück und wollte den Franc nur noch im nationalen Binnenhandel einsetzen, den Euro im Aussenhandel aber beibehalten, wie das in Europa ja schon zwischen 1979 und 1998 mit dem Ecu und den nationalen Währungen gewesen sei. Die Tageszeitung "Le Monde" wies ihr auf zwei Zeitungsseiten insgesamt 19 glatte Lügen wie diese nach, denn natürlich hatte der Ecu nie die nationalen Währungen im internationalen Handel ersetzt. [7]
Le Pen verbreitete am Ende noch bisher unbewiesene Gerüchte von Offshore-Konten Macrons, auf das Macron anderntags publikumswirksam mit einer Strafanzeige konterte.
Dass Macron aus dem Fernsehduell als klarer Sieger hervorging und die peinliche, schlecht vorbereitete und ahnungslose Le Pen als eindeutige Verliererin, verdeckte jedoch den Skandal eines solchen Fernsehduells überhaupt. Denn noch 2002, als sich mit Jean-Marie Le Pen zum ersten Mal ein FN-Chef und Jacques Chirac von den Konservativen in der Stichwahl gegenüberstanden, hatte sich Chirac explizit einem Fernsehduell mit einem Faschisten verweigert.
Dass dies jetzt überhaupt nicht mehr zur Diskussion stand, war nur eines von vielen Zeichen der vor allem von den bürgerlichen Medien durch distanzlose Berichterstattung betriebenen "Normalisierung" des Front National-Wahlkampfs. Dabei wurde der Front National fast durchgängig auch nicht mehr als faschistisch oder neofaschistisch bezeichnet. Audrey Pulvar, eine bekannte Fernsehsprecherin, wurde bei einem n-tv-artigen Nachrichtensender ("CNews") sogar suspendiert, als sie sich offen gegen den FN aussprach.
Erste Kritik von den Rechtsauslegern der Partei: Marion Maréchal-Le Pen tritt ab
Obwohl sie sich als Vertreterin des "Frankreich von unten", des Prekariats und Proletariats darstellte, hatte Marine Le Pen in der Stichwahlzeit gleichzeitig den Konservativen Nicolas Dupont-Aignan zum designierten Ministerpräsidenten ausgerufen, der bisher ihre ökonomischen Positionen als zu sozialstaatsorientiert kritisiert hatte. Gemäss dem Motto des "Weder rechts noch links" wollte Marine Le Pen also gleichzeitig Stimmen von Fillon aus dem rechten Lager als auch von Mélenchon aus dem linken Lager abgreifen. Das klappte jedoch nicht in gewünschtem Umfang: Nach dem Meinungsforschungsinstitut Ipsos wählten 20% Fillon-WählerInnen und 7% Mélenchon-WählerInnen in der Stichwahl Le Pen; nach den Umfragen eines anderen Instituts, Harris, 21% Fillon- und 11% Mélenchon-WählerInnen. [8]Das Scheitern der strategisch auch links fischenden Strategie rief in ersten Reaktionen die Parteirechte auf den Plan, die schon lange gegen dieses linke Täuschungsmanöver war und wieder offen rechte Positionierung einforderte.
Für diese Strategie steht die ihrem Grossvater, dem alten Jean-Marie Le Pen, näher stehende Marion Maréchal-Le Pen, die noch am 4. Mai die Wahlerwartung ausgab: "Ziel ist der Sieg, wenn das nicht klappt, ein Ergebnis um die 40%."
Ein ihr nahe stehender FN-Abgeordneter aus Südfrankreich zeterte dann nach dem Wahlausgang: "Es ist eine Katastrophe. Wir zahlen für ein Programm, das die Rechte in die Flucht getrieben hat.
Die seit drei oder vier Jahren verfolgte Strategie, Aufrufe an die Linke zu richten, hatte zum Ergebnis, dass diese Linke niemals für uns gestimmt hat." [9]
Es grummelte von rechts, doch offen wird die Position Marine Le Pens nicht infrage gestellt und die junge Marion scheute vor einem unmittelbaren Putsch zurück. Auf sie jedoch wäre jeder interne Machtkampf in dieser dynastischen Struktur angewiesen gewesen. Marine Le Pen ging auch gleich in die Offensive und kündigte eine Partei-Namensänderung als eine Art Neuanfang Ende des Jahres an.
Da erklärte Marion Maréchal-Le Pen plötzlich am 10. Mai ihren Rücktritt von allen Abgeordneten- und Parteiämtern, gleich zu Anfang der Wahlkampagne für die Parlamentswahlen. Der Alte, Jean-Marie Le Pen, sprach sogar von "Desertion" - er wünschte sich natürlich einen internen Putsch und dafür müsste Marion in der Partei bleiben. Interessant dabei, dass Marion nicht nur private Gründe angab, sondern auch erklärte, dass sie Berufserfahrung als Unternehmerin sammeln will, bevor sie in die Politik zurückkehre. [10]
Genau das wird Marine Le Pen von der Parteirechten bei ihrem Schein-Linkskurs vorgeworfen, nämlich das rechte Unternehmertum, die Mittel- und Oberklassen nicht mitgenommen zu haben.
Es wird spannend, was die fünf Jahre Präsidentschaft Macron bringen werden: Entweder sein fortgesetzter Neoliberalismus fördert weiter den Aufstieg des Front National wie bisher derjenige von Sarkozy/Hollande.
Oder aber Macron wird durch eine linke bis linksradikale soziale Massenbewegung nach dem Vorbild der Bewegung gegen die Arbeitsgesetzreform vom Frühjahr 2016 rechtzeitig angegriffen, so dass die links-gewerkschaftliche Macht von unten auch angesichts einer starken faschistischen Partei gesellschaftsprägend wird.
Marine Le Pen sieht sich aber mit noch einem weiteren Problem und sogar potentiell interner Konkurrenz konfrontiert: Bisher galt sie als junge Aufstrebende angesichts der alten Garde der Über-Siebzigjähren in der Politik Frankreichs.
Mit dem 39-jährigen Macron kommt eine junge Generation an die Macht, der gegenüber Marine Le Pen schon in fünf Jahren alt aussehen könnte - auch gegenüber der jungen Nichte, falls die durch Berufserfahrung gestärkt wieder ins Boot springen sollte.