Aber wie kam es zu der Auktion und was überhaupt ist vio.me?
2011 zogen die ehemaligen BesitzerInnen der Fabrik mit Millionen von Euros, unter anderem mittels nicht bezahlter Löhne, ab und trieben auch die im Grunde äusserst produktive und gut funktionierende Fabrik vio.me in den finanziellen Ruin dadurch, dass Rücklagen der Fabrik in andere, völlig verramschte Teile des Mutterkonzerns Filkeram-Johnson S.A. oder in die Taschen der Bosse verschoben wurden.Als ab Mai 2011 die Löhne nicht mehr bezahlt wurden, die Bosse abhauten und ab September 2011 auch das Arbeitslosengeld gestrichen wurde, legten die Arbeiter*innen zuerst die Arbeit nieder und besetzten dann die Fabrik, damit die Bosse nicht auch die Maschinen mitgehen lassen konnten. Ab Juli 2012 diskutierten die Arbeiter*innen von vio.me in der von ihnen geschaffenen Hauptversammlung der Arbeiter*innen von vio.me darüber, ob und wie sie die Produktion unter Selbstverwaltung wieder aufnehmen könnten. Der Vorschlag zur Übernahme der Produktion unter Selbstverwaltung wurde letztlich mit 98% Ja-Stimmen angenommen.
Monatelang diskutierten die Arbeiter*innen über die Art und Weise, wie sie die Fabrik übernehmen würden, bis sie letzten Endes am 12. Februar 2013 die Fabrik übernahmen und die Produktion unter demokratischer Arbeiter*innenkontrolle wieder anwarfen. Rechtlich betrachtet hatten die Arbeiter*innen das Recht, die Produktion fortzusetzen, falls die Bosse nicht mehr auftauchten. Andererseits: Es wurden früher in vio.me chemische Produkte für die Bauindustrie produziert.
Diese Produktion konnte nicht fortgesetzt werden, weil sich der Grossteil der Waren und Produktionsmittel im Eigentum der alten EigentümerInnen befand, die die Nutzung dieser Waren und Produktionsmittel verweigerten. Die Produktion wurde seitens der Arbeiter*innen umstrukturiert auf die Produktion von Bioseifen und -waschmitteln. Eine Tagesschicht in der selbstverwalteten Fabrik geht in der Produktion von morgens 7:00 Uhr bis mittags um 15:00 Uhr; nach 15:00 Uhr gibt es noch zwei jeweils 8-stündige Wächterschichten.
Die Strukturen und Prinzipien der Selbstverwaltung von vio.me
2011 arbeiteten 65 Arbeiter*innen in der Fabrik, 40 davon waren Mitglied der 2006 gegründeten fabrikseigenen Gewerkschaft (in Griechenland ist es – zwar nicht ausschliesslich so aber dennoch – Gang und Gäbe, dass die Arbeiter*innen einzelner Betriebe ihre jeweils eigenen betriebseigenen Gewerkschaften gründen). Von den 40 Arbeiter*innen sprangen nach und nach und aus unterschiedlichen Gründen mehrere Arbeiter*innen ab, bis letztlich die 22 Arbeiter*innen übrigblieben, die derzeit die Fabrik am Laufen halten.Die Fabrik wird, wie schon erwähnt, unter demokratischer Arbeiter*innenverwaltung in Gang gehalten. Das heisst zum Beispiel aus organisatorischer Hinsicht, dass das höchste Beschlussorgan der Fabrik die Hauptversammlung der Arbeiter*innen von vio.me ist, die einmal pro Monat stattfindet und in der alle Arbeiter*innen dasselbe Stimmrecht besitzen. Entscheidungen werden per Mehrheitsbeschluss gefällt und falls ein*e Arbeiter*in sich dem Beschluss nicht fügen möchte, kann er*sie eine Diskussion um den Beschluss starten. Aber jeder hat sich schlussendlich derjenigen Entscheidung zu fügen, die bei der Abstimmung nach einer solchen Diskussion stattfindet. Die Fabrik wird also demokratisch und ohne Bosse verwaltet.
Für die alltäglichen und technischen Details finden unter Umständen kleinere, tägliche Versammlungen statt. Die andere Seite der demokratischen Arbeiter*innenkontrolle ist die, dass versucht wird, die starren Formen der Arbeitsteilung aufzuheben zwecks Verhinderung der Herausbildung von Hierarchien aufgrund von Spezialisierung, sprich: die Arbeiter*innen versuchen, so gut und so weit es geht, dafür zu sorgen, dass alle Arbeiter*innen der Reihe nach alle möglichen Arbeiten übernehmen. Natürlich ist es der Fall, dass nicht jeder aus dem Stegreif ein Chemieingenieur oder Elektromechaniker sein kann und dass es eben Berufe gibt, die eine Spezialisierung notwendig(er) machen, dass es also Berufe gibt, die nicht jeder ausüben kann.
Bei diesen Berufen wird versucht eine Herausbildung von Hierarchien und Herrschaft zu verhindern dadurch, dass die Arbeiter*innen dieser Berufe zur Rechenschaft gegenüber der Hauptversammlung der Arbeiter*innen von vio.me sowie den täglichen Versammlungen verpflichtet sind und ergo von diesen kollektiven Organen kontrolliert werden.
Zusätzlich lässt sich hervorheben, dass die Arbeiter*innen die Produktion und Distribution entlang anderer Prinzipien organisieren, als sie im Kapitalismus üblich sind. Gegen die dem Kapitalismus eigenen Prinzipien des Individualismus, des Profits und der Konkurrenz beharren die Arbeiter*innen von vio.me auf den Prinzipien der Kollektivität, der Solidarität und des Sozialen.
Das Einkommen, das die Fabrik erwirtschaftet, wird gerecht unter den einzelnen Arbeiter*innen verteilt und reicht, so die Eigenaussage der Arbeiter*innen, dazu aus, ein Leben in Würde zu ermöglichen. Überschüssiges Einkommen wird dazu verwendet, Investitionen in die Fabrik zu tätigen oder an die Armen zu verteilen. Aus Sicht der Distribution lehnen es die Arbeiter*innen von vio.me ab, ihre Waren über kapitalistische Supermärkte zu vermarkten, weil diese vom Profitstreben und von Reklame geleitet sind. Stattdessen vertreiben sie ihre Produkte entweder direkt aus eigener Hand (z.B. über den Onlineverkauf) oder über besetzte Häuser, soziale/autonome Zentren und über ähnliche, nicht vom Profitstreben geleitete kollektive Orte.
Die Fabrik als gesellschaftlicher Ort
Aber die vielleicht entscheidendste Differenz der Arbeiter*innen von vio.me vom Kapitalismus hinsichtlich der Produktion und Distribution liegt wo anders: die Arbeiter*innen von vio.me verstehen in ihrer Praxis den Charakter der Fabrik ganz im Sinne des Operaismo der 1970er als soziale Fabrik, d.h. dass sie nicht allein den Arbeiter*innen gehört, sondern der Partizipation der ganzen Gesellschaft und aller gesellschaftlicher Kämpfe offensteht, dass sich umgekehrt die Arbeite*innenr von vio.me auch mit allen gesellschaftlichen Kämpfen solidarisch zeigen, weil eben nunmal die Fabrik selbst in ein Geflecht von sozialen und nicht nur abstrakt-industriellen Beziehungen eingelassen ist.Das Verhältnis der in bürgerlichen Gesellschaften normalerweise getrennten, spezialisierten und ergo in die bürgerliche Herrschaft integrierten gesellschaftlichen Felder des Sozialen, Politischen und Ökonomischen werden hier tendenziell aufgehoben. Was auch in der Praxis so umgesetzt wird: so waren die Arbeiter*innen von vio.me zum Beispiel bei Blockupy in Frankfurt wie auch beim 1. Mai in Berlin.
Ihre Lager stehen offen für die Zwischenlagerung von Hilfsgütern für die Flüchtlinge, die bis vor Kurzem noch an der mazedonischen Grenze ausharrten und auf den Grenzübergang warteten (mittlerweile hat sie die griechische Polizei brutal nach Athen gekarrt). In einem anderen Teil der Fabrik wurde vor Kurzem, am 20. Dezember 2015, eine soziale Klinik als Kooperation zwischen den Arbeiter*innen von vio.me und der Klinik der Solidarität von Thessaloniki eingerichtet: in ihr erhalten alle Menschen, die Bedarf haben, kostenlose medizinische Grundversorgung. Am dritten Sonntag eines jeden Monats findet ein Markt auf dem Gelände der Fabrik statt, auf dem die lokalen Bauern ohne Zwischenvermittler ihre Produkte verkaufen können und nach dem Markt finden oft noch andere Aktivitäten auf dem Fabriksgelände statt.
Wenn man sich all das vor Augen hält, runzelt man wirklich nur mehr die Stirn, wenn man die Kritik mancher Linker an vio.me hört à la „aber auch vio.me hängt doch hinsichtlich des Inputs und mittels Geld am Kapitalismus, hält sich nur aufgrund von Solidarität auf den Beinen und solche Projekte können sowieso nur im kleinen Massstab stattfinden“.
Was anderes aber sind denn die materiellen Bedingungen dafür, was Lenin das Moment der Doppelherrschaft nennt oder was sich mit Gramsci als Gegenmacht/-hegemonie begreifen lässt, als dass selbstverständlich noch innerhalb des Kapitalismus die Keime eines anderen Zusammenhangs von Produktion, Distribution und Konsumtion sowie des Sozialen, Politischen und Ökonomischen herausbilden, nämlich entlang antikapitalistischer und solidarisch-popularer Prinzipien? Natürlich wissen auch die Arbeiter*innen von vio.me, dass sie in bestimmtem Masse vom kapitalistischen Markt einerseits, von der Solidarität andererseits abhängen.
Als ich den Kollegen Dimitris frage: „Wie gedenkt ihr das selbstverwaltete Projekt vio.me am Leben zu erhalten in einer euch feindlich gesinnten kapitalistischen Welt?“, antwortet dieser: „Wir hoffen, dass im Zuge der Krise noch viele Arbeiter*innen sehen, dass die Lösung der Krise nur dadurch zu erlagen ist, dass die Arbeiter*innen entlang sozialer und solidarischer Prinzipien selbst die Produktion und die Verwaltung in die Hände nehmen und noch viele vio.me's entstehen.“
Und bis neue vio.me's entstehen wird das schon bestehende Projekt vio.me weiter daran arbeiten, das Verhältnis des Sozialen, des Politischen und des Ökonomischen entlang antikapitalistisch-solidarisch-popularer Prinzipien zu reorganisieren und ihren Beitrag dazu leisten, an der Bildung einer Gegenhegemonie zum Kapitalismus mitzuwirken. Zumindest werden sie ihr Bestes versuchen.
Prekäre Arbeiter*innenmacht
Denn von Anfang an sind die Arbeiter*innen von vio.me grossem Druck seitens der alten Bosse und des Staates ausgesetzt: wie gesagt, die Bosse verpissten sich ohne die Löhne ausgezahlt zu haben und wurden hierfür Anfang 2015 erst zu jeweils 120 Monaten, danach zu jeweils 43 Monaten verurteilt, wobei natürlich keine der Strafen angewandt wurde und selbstverständlich weder ausstehende Lohnzahlungen geschweige denn Abfindungen bezahlt wurden. Im Gegenteil wurde zum Beispiel im Juli 2014 in einem Gericht seitens eines staatlich für die bankrotte Fabrik beorderten Verwalters vorgeschlagen, dass die alten Eigentümer*innen wieder als Verwalter*innen eingesetzt werden.Im März 2015 konnte die Familie Filippou, der der Mutterkonzern Filkeram-Johnson S.A. gehört, vor Gericht die Anerkennung des Bankrotts und der Liquidation von vio.me durchsetzen. Das grösste juristische Problem der Arbeiter*innen von vio.me derzeit ist es, dass das Gelände, auf dem sich die Fabrik befindet, liquidiert d.h. zwangsversteigert wird und es dann höchstwahrscheinlich illegal für die Arbeiter wäre, die Fabrik weiter in Betrieb zu halten. Seit dem 26. November, dem ersten Gerichtstermin für die Auktion, konnten die Arbeiter*innen und die Solidaritätsbewegung die jeweiligen Auktionssitzungen im Hauptgericht von Thessaloniki blockieren und somit den Verkauf verhindern. Andererseits wird es so sein, dass sich die Eigentümer, falls ein erfolgreicher Verkauf der Fabrik nicht stattfindet, an das Gericht wenden werden, um den Preis des Geländes zu reduzieren und in eine neue Auktionsrunde zu gehen.
Sprich das legale Prozerede kann sich Ewigkeiten hinziehen. Zusätzlich wurde im Rahmen des 3. MoU festgehalten, dass juristische Prozesse in Griechenland ab 2016 auch elektronisch abgewickelt werden können. Das heisst, dass dann eventuell anstehende Auktionstermine nicht mehr physisch blockiert werden können seitens der Arbeiter und der Solidaritätsbewegung. Gäbe es diese Hürden und Beschränkungen für vio.me nicht, könnten die Arbeiter*innen ihr ganzes Potenzial zur Entfaltung bringen: die Fabrik befindet sich auf einem riesigen Gelände und könnte locker 50-100 Arbeiter*innen beschäftigen.
Zusätzlich haben die Arbeiter*innen mittlerweile sehr viel Erfahrung gewonnen und das selbstverwaltete Projekt vio.me ist mittlerweile über nationale Grenzen hinaus bekannt; ja die Fabrik konnte in letzter Zeit sogar neue Arbeitskräfte anstellen (so wurden z.B. Anfang Dezember 2015 zwei Chemieingenieure und ein IT-Spezialist eingestellt).
Achja, und wen's interessiert, was SYRIZA zu all dem beiträgt: sie verhält sich genau so zu vio.me wie zu allen anderen alternativen, radikalen und solidarischen Projekten auch. Keinem von den Projekten werden (zusätzliche) Steine in den Weg gelegt, das ist schon richtig; andererseits werden weder die bestehenden weggeräumt, noch sonst irgendwas Positives für diese Projekte unternommen. Natürlich hat aber niemand vergessen, dass Tsipras, als er noch vor der Regierungsübernahme die Fabrik besuchte, meinte, dass das, was die Arbeiter*innen von vio.me machen, ein Beispiel und gar Vorbild sei für das, was unter einer produktiven Rekonstruktion der Ökonomie zu verstehen und deshalb zu fördern sei.