Es soll nun endlich Ruhe und Normalität einkehren im Land, das seit 2010 durch permanente politische Turbulenzen geplagt war: In den vergangenen sieben Jahren erlebte Griechenland vier Wahlgänge, ein Referendum, sechs Regierungsbildungen, unzählige Generalstreiks und Protestbewegungen. Das frühere politische Establishment ist delegitimiert. Die einst etablierten Parteien der Mitte, auf die sich vor 2010 noch 85 Prozent der Stimmen konzentrierten, schaffen es heute nicht mal mehr auf 35 Prozent.
Eine ganze Reihe von neuen Parteien wurde gegründet, wovon viele wieder innerhalb von kurzer Zeit von der Bildfläche verschwanden; und jede bisherige Regierungskonstellation, die versucht hat, das Memorandum durchzusetzen, ist vor dem Ablaufen der Legislaturperiode gefallen. Dieses Mal scheint gelungen, was seit Jahren unmöglich schien: die Unterschrift des griechischen Souveräns – die Zustimmung der Bürger_innen für die Umsetzung des Troika-Programms und damit eine demokratische Legitimation dafür – zu erhalten.
Doch zum Troika-Programm gab es nicht gerade viele Alternativen. Der OXI-Wähler und griechische Blogger Kostas Terzis (2015) kommentierte, dass die Wahlen nicht nötig gewesen seien. Die EU habe unmissverständlich klargemacht, dass es zum Programm keine Alternative gäbe, unabhängig davon, was gewählt würde. Schliesslich wurde Tsipras durch die systematische finanzielle Strangulierung, durch das Abdrehen des Liquiditätshahns seitens der Europäischen Zentralbank (EZB), dazu gezwungen, das Memorandum im Eilverfahren per Dekret noch vor den Wahlen durch das Parlament zu jagen.
Die Wahlen im September hätten der Illusion einer existierenden Demokratie in Griechenland und in der EU genutzt. Andere Beobachter_innen meinten, es war ein Bilderbuchbeispiel des postdemokratischen Paradigmas, da hier der Souverän erst eingeschaltet wurde, nachdem im August der politische Rahmen mit den wichtigsten Richtlinien der Haushalts-, Fiskal- und Justizpolitik bereits festgesetzt worden war.
Es scheint nicht weit hergeholt, Griechenland als Protektorat oder Schuldenkolonie zu bezeichnen. Zwar werden die Worte gerne benutzt, selten aber wird ihre analytische Gültigkeit überprüft. Was ist nun aber eine Schuldenkolonie, und trifft diese Bezeichnung überhaupt auf Griechenland zu?
Neokolonialismus, Schulden und Strukturanpassungsprogramme
Der Themenkomplex Schulden, Postdemokratie und Neokolonialismus ist ausserhalb Europas nicht neu. Vor allem für diejenigen, die sich mit den Entschuldungskampagnen des Globalen Südens beschäftigen, ist er ein alter Hut.Was sagen Kommentator_innen, die aus einer postkolonialen Perspektive auf Europa schauen? Hier findet sich zunächst das Argument, dass Europa und Griechenland viel mehr mit dem Globalen Süden gemeinsam hätten, als sie willig seien zuzugeben. So schreibt Ranabir Samaddar (2015): „Ein europäisches Land als Kolonie zu bezeichnen ist beleidigend. Kolonialismus und ein post-koloniales Schicksal ist anderen bestimmt: Ländern, Nationen und Menschen ausserhalb der nördlich-europäischen Welt.“ (übersetzt durch Redaktion) Er argumentiert weiter: Europa wird mit Gerechtigkeit, Freiheit und Demokratie verbunden, und es scheint unvorstellbar, dass dieser Rahmen langfristig verlassen werden könnte.
Die Kommentator_innen aus dem Globalen Süden werfen in dieser Annahme einen „europäischen Ausnahmefall“ („european exceptionalism“, übersetzt durch Redaktion) auf, den sie für einen unbegründeten Mythos halten. Davon spricht zum Beispiel Jayati Ghosh, Professorin am Zentrum für ökonomische Studien an der Jawaharlal-Nehru-Universität in Neu Delhi, Indien. Ghosh (2015) argumentiert, dass die Schuldenkrise der europäischen Peripherie alles andere als neu oder ein Ausnahmeunfall in der europäischen Geschichte sei, sondern einem bereits vorgeschriebenen Skript folge: Dabei reihe sich Griechenland in die lange Liste der überschuldeten Länder der Peripherie des Westens ein, die sich durch ein neokoloniales Verhältnis zu ihren Gläubigern auszeichnen. Was ist damit gemeint?
Neokolonialismus ist ein Begriff der Postcolonial Studies und meint eine geopolitische Praxis, die ökonomische Mechanismen, globalisierte Unternehmen, aber auch transnationale ökonomische Regulationsinstitutionen wie WTO, IWF, Weltbank nutzt, um die Politik von Ländern zu beeinflussen, anstatt – wie etwa im Kolonialismus – sie direkter militärischer Kontrolle zu unterziehen. Den Begriff schöpfte der von 1960 bis 1964 amtierende ghanaische Präsident Kwame Nkrumah. Nkrumah (1965) fasst Neokolonialismus wie folgt zusammen:
„Die Essenz des Neokolonialismus ist, dass der Staat, um den es geht, theoretisch unabhängig erscheint und das gesamte Drumherum einer internationalen Souveränität nach aussen präsentiert. Real werden jedoch seine wirtschaftlichen und damit auch seine politischen Entscheidungen von aussen gelenkt.“ (übersetzt durch Redaktion)
In Jean-Paul Sartres „Kolonialismus und Neukolonialismus“ (1964) oder auch in Frantz Fanons „Die Verdammten dieser Erde“ (2015) wird der Begriff im Kontext der These verwendet, dass trotz der Prozesse der Dekolonialisierung nach dem Zweiten Weltkrieg die ehemaligen Kolonialmächte oft die Kontrolle über die alten Kolonien nicht aufgegeben haben. Vielmehr behielten sie sich durch eine dominante ökonomische Präsenz in Handel, Finanzen, aber auch in der Exploration natürlicher Ressourcen einen bedeutenden Einfluss in der Politik der entsprechenden Länder bei.
Einer der wichtigsten Mechanismen für die Herstellung dieser neokolonialen Abhängigkeit ohne militärischen Eingriff ist natürlich die Verschuldung. David Graeber (2012) hat gezeigt, wie Schulden stets ein Herrschaftsinstrument zwischen Nationen waren und das Recht auf politische Kontrolle der Gläubiger legitimierten und begründeten. Offensichtlich wurde das in den Schuldenkrisen des Globalen Südens in 1970ern und 1980ern, als Asien oder Lateinamerika von Weltbank und IWF Kredite gegeben wurden, die an politische Reformbedingungen geknüpft waren. Sicherlich ist Griechenlands Abhängigkeitsverhältnis mit diesen Fällen eher vergleichbar als mit den Ländern der ehemaligen Kolonien wie zum Beispiel Ghana, Kongo oder Burkina Faso.
Die Logik ist bekannt: Ökonomisch schwache Länder sind zur Aufnahme von Schulden gezwungen, die Kreditvergabe ist dabei an Strukturanpassungsprogramme gebunden. Es sind Programme zur kompletten Umstrukturierung von Ökonomie und Gesellschaft. Sie betreffen Regelungen zu fiskal-, geld- und wirtschaftspolitischen Aktivitäten, die Forderung zur Reduktion von Staatsausgaben, Fragen von Steuern und Subventionen, die Anzahl von Staatsbediensteten bis zur Festsetzung des Lohnniveaus. Dazu kommen die Privatisierung von Staatsunternehmen und -eigentum, die Erleichterung von ausländischen Investitionen sowie die Deregulierung von Märkten. Diese Massnahmen werden eingeführt von Gläubigerstaaten im Schulterschluss mit intergouvernementalen Institutionen, die jenseits parlamentarischer Kontrolle sind: etwa dem Internationalen Währungsfonds (IWF), der World Trade Organisation (WTO), früher der OECD oder unabhängigen Notenbanken.
Die Parallelen zu Griechenlands Memorandumsvertrag vom 13. Juli 2015 sind offensichtlich. Die Bedingungen für die weitere Schuldenvergabe an Griechenland waren auch gebunden an die Festsetzung des Mindestlohns, der Mehrwertsteuer und der Unternehmenssteuern, die Bestimmung des Rentenniveaus und Renteneintrittsalters, den Eingriff in Arbeitsrechte oder an die Privatisierung von Staatseigentum wie zum Beispiel den Verkauf von 14 gewinnbringenden Flughäfen an Fraport.
Das Machtzentrum Europas
Der entscheidende Unterschied zu aussereuropäischen Staaten ist, dass Griechenland selbst Teil des Körpers ist, zu dem sich ein ökonomisches neokoloniales Abhängigkeitsverhältnis entwickelt hat. Zudem stellt sich die Frage des „Ortes der Macht“ deutlich anders als bei den traditionellen kolonialen Verhältnissen: Es gibt keinen offensichtlichen feindlichen „Fremdstaat“, sondern ein multilaterales Netz von EU-Institutionen, Finanzakteuren, EU-Bürokraten und Regierungen mit unterschiedlich starkem Mitspracherecht.Anders als gemeinhin behauptet, leben wir nicht in einem Europa ohne Zentrum, das auf der Basis der Gleichberechtigung aller Partner agiert. Spätestens seit der Finanzkrise 2008 sind Hierarchisierungen zwischen den europäischen Ländern entstanden, die auf dem Verhältnis von Gläubiger versus Schuldner beruhen. Dies liegt im Kern an einer Entwicklung, die Joseph Vogl (2015) in seinem Buch „Souveränitätseffekte" den schrittweisen Übergang in einen „ökonomischen Souveränismus“ in der EU genannt hat: den systematischen Transfer von Machtkompetenzen von den legislativen Organen und Parlamenten hin zu unabhängigen Akteuren der Wirtschafts- und Finanzwelt.
Vogl hat diese Mechanismen des Demokratieabbaus im Zuge einer Ökonomisierung von heutigen Regierungspraktiken beispielhaft beschrieben. Er konstatiert einen neuen Regierungsstil, der Entscheidungskompetenzen in einem Netz zwischen Staatsorganen, internationalen Organisationen, improvisierten Expertengremien, Notenbanken und Privatunternehmen verteilt. Die Regierungsagent_innen haben die Rechte und Kompetenzen inne, souveränen Staaten ökonomische Richtlinien hinsichtlich etwa ihrer Geldpolitik und Preisstabilität zu verordnen.
In Europa besteht das Netz etwa aus der EZB, der Troika, der Eurogruppe oder dem Rat für Wirtschaft und Finanzen (Ecofin). Dieser Machttransfer in eine "Souveränität eigener Ordnung“, wie Vogl es ausdrückt, lässt sich anhand der Unabhängigkeit der Zentralbanken zeigen. Das Gremium muss unabhängig sein von „an einer Wiederwahl interessierten politischen Mandatsträger(n)“ (ebd., S. 182), es muss immun „gegen die Dynamik kurzfristiger Zustimmung politischer Kräfte“ (ebd.) und autonom von Verfassungs- und Regierungsorganen sein.
Ihre politische Macht hat die EZB im Zuge der Verhandlungen der griechischen Regierung mit der Troika eindrucksvoll gezeigt: Die griechische Regierung hat seit Amtsantritt mit der finanziellen Strangulierung durch die EZB zu schaffen, und es war letztlich das stufenweise Abdrehen der Liquidität, die die Kapitulation von Tsipras erzwang. Die EZB hörte sofort nach dem Antritt der Syriza-Regierung auf, griechische Staatsanleihen zu kaufen, woraufhin nur die Notfall-Liquiditätshilfen (ELA) eingeschaltet wurden. Um den Druck zu erhöhen, wurden nach Ankündigung des Referendums die ELA eingefroren und Kapitalverkehrskontrollen erzwungen. Ohne die Bereitstellung von Liquidität musste Tsipras einlenken, und zwar unter allen Umständen.
Der Ort des Souveräns ist damit verschoben, so könnte man mit Vogl folgern, die nationalen Parlamente haben ihre Rechte an transnationale intergouvernementale Finanzinstitutionen abgetreten. So ist Europa weniger von legislativem und Souveränitätsrecht geleitet als vielmehr von den Dimensionen der Finanzwelt: von Wirtschaftspolitik, Stabilitätskriterien und Wettbewerbslogik. Und in so einem Europa ist die politische Gleichberechtigung zweitrangig. Die Bedeutung des Mitspracherechts der jeweiligen EU-Partner wird an seiner wirtschaftlichen Leistung gemessen. Das Wort derjenigen, die die Stabilitätskriterien am optimalsten erfüllen, die gute Aussenhandelsbilanzen, gute Überschüsse erzielen, gute Ratingagentur-Noten erhalten, wiegt mehr als das der anderen.
Und wer hat die besten Noten, und wessen Wort wiegt dementsprechend schwer? Es ist Deutschland. Das Primat Deutschlands in der EU geht einerseits informell vonstatten. Ulrich Beck, einer der grössten Verfechter der europäischen Idee, hat kurz vor seinem Tod das Buch „Das deutsche Europa. Neue Machtlandschaften im Zeichen der Krise“ (2012) geschrieben. Darin nennt er Deutschland – in Anlehnung an Max Weber – einen „empire state“. Deutschland habe als grösster Kreditgeber unter dem Druck der Krise neue Macht erlangt. Deutsche Politik könne Austeritätspolitik gegen multilaterale Verpflichtungen durchsetzen, ohne formell dazu befugt zu sein.
Doch darüber hinaus existiert Deutschlands Primat auch formell. Der Aussenminister der jetzigen griechischen Syriza-ANEL-Regierung, Nikos Kotzias (2013), spricht davon, dass die EU die Wirtschaftskultur Deutschlands übernommen habe. Viele der EU-Institutionen sind nach deutschem Beispiel konstruiert worden – allen voran die EZB, die nach dem Beispiel der Bundesbank konzipiert wurde. Deutschland ist das Vorbild und exportiert Wirtschaftspolitik – sei es bei der Implementierung der Schuldenbremse, der unter dem Druck von Deutschland festgelegten Stabilitätskriterien oder bei dem Modell Hartz IV, das Lohndumping und Deregulierung des Arbeitsmarkts fordert. Kotzias argumentiert, dass Deutschland dabei nicht nur eine Beratungsfunktion zukommt, sondern dass die Souveränitätsrechte seitens der Schuldnerstaaten und allen voran Griechenlands an Deutschland abgetreten worden sind − auch in Form von einem Recht der Kontrolle und Überwachung des anderen Staates.
Kotzias beschreibt, wie über die Memoranden ein ausdifferenziertes Kontroll- und Beaufsichtigungssystem über die griechische Politik etabliert worden ist. So schickte die Troika in den vergangenen Jahren eine grosse Gruppe von Beamt_innen zur Kontrolle in alle Ministerien, die für den öffentlichen Bereich von Bedeutung waren. Bis aufs kleinste Detail mussten die Beamt_innen über die griechische Wirtschaft informiert sein: Sie forderten Namenslisten der Entlassenen, Informationen über die Öffnungszeiten von Apotheken oder die Lizenzvergabe für Kosmetikstudios. Das dritte und aktuelle Memorandum ist an die bisher intensivste Beaufsichtigung europäischer Expertenkomitees gebunden.
Beaufsichtigung oder Kontrolle sind für Kotzias zentrale Charakteristika neokolonialer Dominanz. Deshalb sei Griechenland eine Schuldenkolonie: ein Land, dessen Souveränität drastisch eingeschränkt sei; ein Land, „bei dem die den Staat betreffenden Entscheidungen aus keinen eigenen internen legitimen Entscheidungsverfahren hervorgehen, wobei die inneren Institutionen eigentlich nur eingesetzt werden, um die von Dritten getroffenen Entscheidungen zu ratifizieren“, ein Land, in dem „starke Mächte wie der deutsche Staat, die Brüsseler Bürokratie und das Finanzkapital eine strikte Aufsicht haben" und in seine internen Belange intervenieren (Kotzias 2015). Schliesslich stünden die Wirtschaft und das Finanzsystem der Schuldenkolonie unter der Kontrolle von Drittmächten
Dabei werde das Wachstum der Wirtschaft der Schuldenkolonie auf eine Weise gefördert, die die Interessen der Drittmächte berücksichtige, aber nicht die eigenen Potenziale des verschuldeten Staates nutzte. Man denke daran, dass die Veräusserung der Flughäfen an die deutsche Firma Fraport im Memorandum festgeschrieben wurde. In „Vorabmassnahmen“ des Memorandums ist zudem festgelegt, dass jedes wichtige Gesetz erst mit den Gläubigern abgestimmt werden muss, bevor es ins Parlament kommt (SN 4070/15, in Varoufakis 2015).
Legitimation durch kulturelle Abwertung
Ulrich Beck bemängelt, dass dieses Verhältnis von Bevormundung und Abhängigkeit zwischen Griechenland, den EU-Institutionen und dem tonangebenden Mitglied Deutschland über Jahre kaum Empörung hervorgerufen hat. Teilweise, weil der neokoloniale Charakter verdeckt ist, aber vor allem, weil das Vorgehen in der Öffentlichkeit begründet und legitimiert wird. Die Legitimation basiert zum einen auf der verbreiteten Schuldenideologie, man denke an das Narrativ der schwäbischen Hausfrau. Zum anderen wird ein ideologisches Muster wirksam, das die Abwertung auf der Ebene des souveränen Rechts mit den kulturellen Eigenschaften der Gesamtheit der Südländer beziehungsweise der Gesamtheit der Griechen begründet.Dieses Muster ist nicht neu: Es geht um die kulturelle Konstruktion von Kollektividentitäten und Volksmentalitäten der Südländer und Griechen, von Selbst- und Fremdbildern sowie von einem Wir-versus-Sie-Diskurs, der sich in den deutschen Medien fast flächendeckend als ernst zu nehmendes Argument durchgesetzt hat. Das ist im Kontext postkolonialer Diskurse hinreichend beschrieben worden. Edward Said spricht etwa in seinen berühmten Orientalismusstudien von der Konstruktion des Anderen (Said 1978).
Einer der Effekte der Klassifizierung als „Anderer“ ist die Abwertung, mit der legitimiert wird, dass „Andere“ unterdrückt, ausgeschlossen oder enthumanisiert werden. Zentral dabei ist die doppelte Wertung des Anderen: sowohl als minderwertigen Anderen, aber auch als bedrohenden Anderen, der im Sinne eines zivilisatorischen Projekts erzogen werden muss.
Im Fall der Eurokrise haben wir es mit einer ökonomistischen Variation der abwertenden kulturellen Konstruktion des Anderen zu tun.
In der Medienberichterstattung wurde die Krise zur Griechenlandkrise reduziert und mit Mentalitätsanalysen des griechischen „Volks-Charakters“ erklärt. Die Argumentation folgt geheimhin dem typischen Wir-Sie-Schema. Die konstruierten Anderen sind eine homogene Gruppe von „Griechen an sich“. Sie sind unfähig, untüchtig, unvernünftig, unprofessionell, unaufrichtig, Betrüger, Trickser und eine Bedrohung für Deutschland und das gesamte Europa. Letztgenannter Aspekt zeigt, dass das „Wir“ nicht zwingend ein deutsches „Wir“ ist, sondern auch ein „europäische Wir“ sein kann. Exemplarisch dafür ist ein Beitrag in der Tageszeitung Die Welt, in dem „historisch bewiesen wurde, dass die Griechen schon einmal Europa zerstört haben“ (Seewald 2015) − und dass sie eigentlich weniger europäischer, sondern türkischer oder slawischer Abstammung seien.
Wir – die Deutschen
Schliesslich produziert das negative Bild des „Anderen“ als Kehrseite eine konstruierte, eigene Identität: „die Deutschen“ seien ehrlich, ordentlich, fleissig, pünktlich, steuerzahlend und so weiter. Dieser Deutsche ist das Vorbild Europas, er ist Lehrer und Zuchtmeister gegenüber dem infantilisierten Griechen, der erst einmal seine Hausaufgaben machen soll. Der Deutsche ist aber auch Helfer. Die Figur des Helfers analysiert Fanon in „Die Verdammten dieser Erde“. Er beschreibt die „Sorge“ des Westens gegenüber der Unterentwicklung der Kolonien, denen durch angebliche „Hilfs- und Unterstützungsprogramme“ geholfen werden soll. Bis heute werden die neoliberalen Strukturanpassungsprogramme als Rettungs- und Hilfspakete bezeichnet. Der Durchschnittsdeutsche nimmt sich somit als Helfer wahr, fordert Dankbarkeit und empört sich über die undankbaren Griechen, die im Referendum auch noch OXI, also Nein, gegen die Hilfen stimmen.Dieses „deutsche Wir“ gegen das „griechische Sie“ ist eine nationale Anrufung besonderer, weil verdeckter Art. Denn das Subjekt dieses neuen Nationalismus ist die Figur des „deutschen Steuerzahlers“, meine Lieblingsfigur in der Debatte. Es ist eine interessante nationale Identität, die nicht den Souverän, das Volk oder den Bürger als die Kollektivität setzt, sondern die ökonomische Position als verbindende Gemeinsamkeit unterstellt. Es ist einer neue Art von ökonomischem Nationalismus: ohne Blut, Verwandtschaft, Tradition, Sprache, Kultur und so weiter.
Dieser neue „kleine Mann“ ist nicht Arbeitnehmer oder Wähler, sondern Steuerzahler, und als solcher hat er das gleiche Interesse wie „unsere Banker und unsere Politiker“. Und er ist natürlich Opfer: Er sowie „seine Banken“ geben Milliarden an die Griechen – und was ist mit ihnen? Die Angst der Deutschen vor dem sozialen Abstieg in der europäischen Krise wird nicht an die Habenden adressiert, sondern umgelenkt an die vermeintlichen Nicht-Zahler. Dieser ökonomische Nationalismus entpuppt sich dadurch auch als Klassismus, denn Nicht-Zahler sind natürlich auch Hartz-IV-Empfänger, Flüchtlinge, „Sozialschmarotzer“ – oder eben undankbare Griechen.
Dankbarkeit kann man nur fordern, wenn man davon ausgeht, dass die Misere des Anderen nichts mit dem eigenen Handeln zu tun hat. Und das zeugt von einer beeindruckenden Amnesie des Westens, Europas und Deutschlands gegenüber der eigenen Vergangenheit und davon, wie diese mit der Vergangenheit des „Anderen“ verflochten ist. Bei den Autor_innen, die die griechische Krise aus postkolonialer Perspektive betrachten, überwiegt das Erstaunen über diese Amnesie, auch hinsichtlich der Vorstellung der europäischen Identität, die nun zu zerfallen droht. So konstatiert Sadia Abbas (2015):
„Europa war schon immer nur eine Fiktion. Aus Perspektive der Kolonien eine grausame Fiktion. Wenn Europäer über die Ideale von Frieden und Wohlstand sprechen und dabei die Gewalt der zwei Weltkriege vergessen, dann ist es eine verwunderliches Wahrnehmung kollektiver europäischer Unschuld, die nur bestehen kann, da sie die Vergangenheit auslöscht Wir denken nicht an Siedlungskolonien, Sklaverei, die Verelendung des Südens und Ostens, das Werben für die Last der Zivilisation weisser kolonialer Vorherrschaft, die Berlin Konferenz… stattdessen stürzen wir uns in die romantische Idee einer europäischen Union, die sich auf Rechte, Gesetze, Sozialdemokratie usw. stützt. Die romantische Idee der Europäischen Union konnte nur bestehen aufgrund dieses Vergessens.“ (Übersetzung durch Redaktion)
Vergesslichkeit gegenüber der eigenen Geschichte ist also Teil der Geschichte anderer Länder. Die eigentümliche Krankheit der Amnesie betrifft sowohl die eigene Kolonialgeschichte, die nun mit den Flüchtlingen ins Auge springt, als auch die Geschichte der Strukturanpassungsprogramme und ihres Misserfolgs im Globalen Süden. Im Fall Deutschlands plagt die deutsche Politik Amnesie hinsichtlich etwa der Schuldenkonferenz 1953, wo Deutschland gütigerweise die Hälfte seiner Kriegsschulden erlassen wurden − von denselben Nationen, die unter den Nazis gelitten hatten. Amnesie herrschte natürlich auch bis vor Kurzem gegenüber den Gräueltaten in Griechenland in der NS-Zeit und den nie bezahlten Reparationszahlungen sowie dem Zwangskredit, der nie zurückgezahlt wurde.
Lasst uns Namibia werden!
Die griechische Autorin Eleni Bellou hat sich mit der ehemaligen deutschen Kolonie Namibia befasst, wo zwischen 1904 und 1909 unter der deutschen kolonialen Besatzung ein beispielloser Genozid stattfand, dem 65.000 Menschen zum Opfer fielen. Im vergangenen Juli war eine namibische Delegation in Deutschland. Sie forderte die deutsche Politik unter anderem dazu auf, die historische Verantwortung in Form von Zahlungen für den Genozid zu übernehmen. Dies ist bisher nicht erfolgt. Bellou (2015) fordert von der griechischen Politik, sich gleichermassen in Europa für die ausstehenden Reparationszahlungen gegenüber Griechenland zu bemühen.Doch seit dem 13. Juli ist über dieses Thema nichts mehr aus Griechenland zu hören. Vielleicht, weil auch die Tsipras-Regierung eingesehen hat, dass die Frage der Reparationen und des Zwangskredits diplomatisch nicht gegen Deutschland durchsetzbar ist. Um das symbolische „Werden wir Namibia“ zu unterschreiben, müsste man die eigene Geschichte neu lesen, die Gemeinsamkeiten Griechenlands mit den weiteren überschuldeten Staaten im Globalen Süden anerkennen und sich in ihre Allianzen einreihen. „Greece Not Alone“ hiess etwa eine Kampagne (Jubilee Debt Campaign 2015).
Doch das Verhältnis der griechischen Bevölkerung zum Konstrukt „Europa“ ist ambivalent. Und das ist keine neue Entwicklung, sondern hat mit der komplexen Genealogie des Imaginären der griechischen Identität zwischen Antike und Hellenismus, Byzantinismus und Orthodoxie, Osmanischem Reich und anatolischem Habitus, einer Teil-Identifikation mit dem Balkan und, nicht zuletzt, der Konstruktion des griechischen modernen Staats zu tun.
So kommt es, dass, auch wenn die griechische Gesellschaft von antikolonialen Affekten gegen die „europäischen Besatzer der Finanzinstitute“ im Sinne eines klassischen antikolonialen Befreiungsnationalismus getrieben ist, sich die Allgemeinheit nicht mit Menschen aus dem Globalen Süden, den Menschen aus dem Balkan oder den Kulturen Anatoliens identifizieren möchte (mit denen man immerhin bis in die Neuzeit hinein über Jahrhunderte zusammengelebt hat). Die beliebtere identitäre Projektionsfolie bilden die starken und weissen Nationen dieser Welt, immerhin ist die europäische Idee aus der griechischen Antike inspiriert.
Im Einklang mit dieser Haltung hat die griechische Regierung entschieden, dass das harte neoliberale Programm Europas besser für die Bevölkerung ist als aus der Eurozone zu fliegen. Diese Entscheidung basiert auch auf der Überzeugung, dass Griechenland ausserhalb der Euro-Gemeinschaft nicht überlebensfähig ist. Das erinnert an typische Dilemmata ehemaliger Kolonien und ihrer Befreiungsbewegungen, von denen Fanon spricht. Es ist die Frage danach, ob die Dekolonialisierung überhaupt von ökonomischem oder kulturellem Vorteil ist oder ob nicht der Anschluss an einen starken Markt und die liberalen Werte Europas zur positiven und stabilen Entwicklung des Landes beiträgt. (Fanon 2014, S. 127f.)
Möchte man Fanons Beobachtung auf die griechische Lage anwenden, scheint es, als hätten Bevölkerung und Regierung vorerst die Frage mit ja beantwortet. Das ändert nichts daran, dass wir es mit einem Europa zu tun haben, dass in seinem Inneren neokoloniale Verhältnisse unterhält. Solange Griechenland als europäische Peripherie nicht zumindest in der Grundversorgung autark ist und die griechische Bevölkerung der Überzeugung ist, dass dieser Zustand die bisher einzig mögliche und in letzter Instanz die bessere Alternative für sie ist, wird es in absehbarer Zeit so bleiben.