Leo Tolstoj (1828 - 1910) interessiert hier weniger als weltweit erfolgreicher Schriftsteller und Autor u.a. von "Krieg und Frieden", auch nicht in erster Linie als Reformpädagoge, sondern zusammen mit seinen NachfolgerInnen als Teil der russischen libertären Bewegung. Sie praktizierten das einfache, antiindustrielle Leben auf bäuerlichen Farmen und verurteilten revolutionäre Gewalt moralisch. Alten patriarchalen Traditionen standen sie jedoch weitgehend unkritisch gegenüber bzw. übernahmen sie zum grossen Teil. Gleichwohl riefen sie zur Kriegsdienstverweigerung in allen Armeen auf.
In dieser Hinsicht ist der tolstojanische Einfluss vor allem für die Zeit nach der Oktoberrevolution bisher noch nicht genügend untersucht. Valentin Bulgakows Artikel von 1928 über die tolstojanische antimilitaristische Bewegung in Russland war eines der frühesten deutschsprachigen Dokumente über eine von der Geschichtsschreibung unterdrückte Bewegung. Der Artikel von Karl Bartes von 1931 über die Duchoborzen in Russland und Kanada aus dem Jahre 1931 schloss daran an. [2]
Bulgakow und Bartes beschrieben Tolstojs Engagement für die Gemeinschaft der Duchoborzen, die dazu geführt hatte, dass diese vom Zarismus verfolgte altrussische Bauernsekte mit drei Schiffen zu insgesamt 7000 Menschen 1899 nach Kanada auswandern konnte, wo sie zumindest bis Ende der Zwanzigerjahre des 20. Jahrhunderts als kommunistische Lebensgemeinschaften ohne Privateigentum weiterlebten und auch weiterhin den Militärdienst verweigerten.
Religiöse Kriegsdienstverweigerung
Für den Ersten Weltkrieg wurden in Russland 837 offizielle Fälle von Kriegsdienstverweigerung (KDV) aus tolstojanisch-christlichen Kreisen bekannt. Dass die tolstojanische Form der KDV auch unter Bauern weit verbreitet war, lässt Bulgakows Hinweis auf die damals sogenannten "Grünen", eine Jugendbewegung, ahnen.Sowohl während der bürgerlichen Regierung, welche den imperialistischen Krieg fortsetzte, als auch während der "Oktoberrevolution" 1917 und danach, als die Rote Armee aufgebaut werden sollte, floh diese halbbäuerliche Jugend von den Städten in die Wälder, um sich weder in der einen noch der anderen Form des Militärs, also weder bei den "weissen" noch den "roten" Armeen und Milizen, beteiligen zu müssen.
Der Tolstojaner W.G. Tschertkow verhandelte vor dem Hintergrund zunehmender Verweigerungsfälle sowohl mit der bürgerlichen als auch mit der bolschewistischen Regierung über die Anerkennung der KDV aus Gewissensgründen. Am 4. Januar 1919 legalisierten die Bolschewiki die religiöse KDV, worauf in den folgenden zwei Jahren ca. 30.000 schriftliche Anträge auf KDV innerhalb der Roten Armee gestellt wurden. Dies geschah mitten im Bürgerkrieg. Wenn berücksichtigt wird, dass die meisten Bauern nicht schreiben und also keine Anträge stellen konnten (ca. 80% Analphabeten), muss die Dunkelziffer sehr hoch angesetzt werden.
Doch auch während der Zeit der Legalisierung wurden Kriegsdienstverweigerer verfolgt und erschossen.
Angesichts der immer weiter steigenden Verweigerungszahlen wurde die Legalisierung der KDV am 14. Dezember 1920 von den Bolschewiki zurückgenommen. Zwar wurde den in Russland verbliebenen Duchoborzen noch 1921 die Befreiung vom Militärdienst zugesichert, gleichzeitig wurden sie jedoch als "Schädlinge" diffamiert, ins Gefängnis gesteckt, mit besonderen Steuern belastet und ihre Hausindustrie zugrunde gerichtet.
Bauernsöhne auf die Felder statt in die Armee!
Bulgakow weist darauf hin, dass die Idee der Gewaltlosigkeit in den Dörfern konsequent gegen die roten und die weissen Armeen durchgeführt wurde, wie das konkrete Beispiel des Dorfes Rajewskoje, das als Gemeinde kollektiv den Militärdienst verweigerte, zeigt. Es ist nur zu vermuten, dass sich hierin auch die ökonomischen Gründe der Bauern für die KDV ausdrückten. Da sie nun endlich ihr Land erkämpft hatten, wollten sie dieses auch bebauen und ihre Söhne, potentielle Arbeitskräfte, nicht in den Krieg ziehen lassen.Paul Avrich spricht von vier Strömungen des russischen Anarchismus: AnarchokommunistInnen, AnarchosyndikalistInnen, IndividualanarchistInnen und TolstojanerInnen. Die Letzteren hätten als gewaltfrei-christliche AnarchistInnen trotz weniger Verbindungen zum militanten Anarchismus grossen moralischen Einfluss auf die Bewegung ausgeübt. Schon um die Jahrhundertwende habe sich die tolstojanische Ideologie beträchtlich verbreitet. [3] Vor allem nach dem Kronstadter Aufstand 1921, bei dem die Dienstverweigerung innerhalb der Roten Armee eine grosse Rolle spielte, wurden TolstojanerInnen verfolgt und wegen KDV erschossen. [4] Volin nennt bis Ende 1922 nach offiziellen Angaben 92 erschossene tolstojanische Anarchisten und vermutet viele weitere Tolstojaner in den Gefängnissen. [5]